Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Dina Sikirić: Was den Fluss bewegt
Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Im De­zem­ber 1960 fährt ei­ne Mut­ter mit ih­rer fünf­ein­halb­jäh­ri­gen Toch­ter mit dem Zug von Ju­go­sla­wi­en in die Schweiz. Sie flüch­tet nicht vor Ar­mut oder Krieg. Es ist Lie­bes­kum­mer; die Mut­ter trennt sich von ih­rem Mann, dem Va­ter des Kin­des. Tat­säch­lich war mit ei­ner Freun­din der Mut­ter, ei­ner Lands­frau, die mit ei­nem Schwei­zer ver­hei­ra­tet ist, al­les ge­plant. Woh­nung und Ar­beit (in ei­ner Apo­the­ke) sind si­cher. Für das Mäd­chen, die Ich-Er­zäh­le­rin in Di­na Sik­irićs »Was den Fluss be­wegt«, ist dies ei­ne über­ra­schen­de aber auch sinn­li­che Rei­se, mit »Ver­hei­ßun­gen« und Glücks­ver­spre­chen er­füllt. An­fangs neu­gie­rig, »ver­zückt« und »glü­hend vor Glück« die neu­en Ein­drücke ge­ra­de­zu auf­sau­gend, kommt nach we­ni­gen Ta­gen die Er­nüch­te­rung: Sie wird in ein Kin­der­heim ge­bracht, in dem Schwe­stern mit re­li­giö­ser In­brunst das Kind in ei­ne häss­li­che Kluft und ei­nen stren­gen Ta­ges­ab­lauf stecken. Nur sonn­tags geht es für ein paar Stun­den zur Mut­ter.

Al­les ist furcht­erre­gend – ihr Fremd­sein, die un­ver­ständ­li­che Spra­che, die (auch mensch­lich) kal­te Um­ge­bung, die merk­wür­di­ge Klei­dung der Be­treue­rin­nen (die sie »Rie­sen­krä­hen« nennt). Sie hat das Ge­fühl »stets fehl am Platz zu sein«. Nur die 10jährige Do­me­ni­ca aus Ita­li­en, wie sie ei­ne Frem­de, wird ih­re Freun­din. Drei Mo­na­te bleibt sie stumm, ei­ne »Sprach­lo­sig­keit der Trau­er«, und flüch­tet sich in ei­ne my­thi­sche Traum­welt in der auch die im Heim an­ge­lern­te christ­li­che Sym­bo­lik ei­nen Platz fin­det. So wird der Got­tes­dienst zu ei­nem Fest, hier spricht sie in der ihr frem­den Spra­che die Ge­be­te nach und Gott wird zur Pro­jek­ti­on, denn er ist wie sie ein Frem­der. Schließ­lich be­ginnt sie die neue Spra­che zu ler­nen, was noch ein­mal ih­re Au­ßen­sei­ter­rol­le ver­stärkt. Die von ihr so fie­ber­haft er­war­te­te und er­sehn­te Tau­fe, das Da­zu­ge­hö­ren und Auf­ge­nom­men­wer­den in die Ge­mein­schaft der Kin­der, wird nie­mals statt­fin­den, denn sie ist, wie sie er­fah­ren muss, ein »Hei­den­kind« (weil sie aus ei­ner mus­li­mi­schen Fa­mi­lie stammt).

Als sie nach schier end­lo­sen an­dert­halb Jah­ren in den Som­mer­fe­ri­en in ihr Hei­mat­land Ju­go­sla­wi­en zu­rück­reist blüht sie wie­der auf, ge­rät in ei­nen »Glück­s­tau­mel«. Plötz­lich steht sie im Mit­tel­punkt, ge­nießt ein ge­wis­ses An­se­hen, trifft auf ih­re Fa­mi­lie und vor al­lem den Va­ter, den sie so sehr ver­misst hat­te. Der führt sie aus in die Stadt und in ein Fo­to­stu­dio und lässt von nun an in je­dem Som­mer dort Fo­to­gra­fien von ihr und sich ma­chen und so ent­steht in den vie­len Jah­ren ih­res som­mer­li­chen Zu­sam­men­seins ein »ernst­schö­nes Va­ter-Toch­ter-Paar« und das Er­zäh­len über die­se so kost­ba­ren Au­gen­blicke des Ein­ver­stan­den-Seins mit der Welt ge­hö­ren zu den schön­stens Stel­len die­ses Bu­ches.

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