Vor dreieinhalb Jahren verfasste Uwe Wittstock mit Februar 33 eine akribisch geführte, rasant erzählte Stoffsammlung über die Veränderungen im deutschen Kulturbetrieb nach der Machtübernahme durch die Nazis am 31.1.1933. Schwerpunkte waren Berlin und München. Parallel zu den Sorgen und Nöten der Künstler, die nicht selten schnell lebensbedrohliche Ausmaße annahmen, gab es Erläuterungen, wie die Nazis ihre Macht zu festigen begannen. Dabei verblüffte, wie schnell und zugleich strukturiert die gesellschaftliche und juristische Infrastruktur transformiert wurde. In nur wenigen Wochen besetzte man wichtige Positionen in Verwaltung, Polizei und Justiz mit SA- oder NSDAP-Leuten.
Mit Marseille 1940 legt Wittstock nun abermals ein historisch grundiertes Buch vor. Diesmal werden die Fluchtwege der deutschen Exilanten, die in Frankreich Schutz gesucht hatten, nach dem Angriff der Wehrmacht im Mai 1940 erzählt. Untertitelte man Februar 33 als »Winter der Literatur«, so soll in Marseille 1940 »Die große Flucht der Literatur« gezeigt werden. Vielleicht wäre der im Vorwort entwickelte Begriff des »Dramas der zweiten Flucht« (nach Deutschland nun Frankreich) noch treffender gewesen.
Ich gestehe, dass ich den Titel von Uwe Neumahrs neuestem Buch, Das Schloss der Schriftsteller, wenig gelungen finde. Es klingt mir zu sehr nach Puzzlespiel, Disney-World und Sanssouci. Gemeint ist das Schloss Faber-Castell in Stein (Postanschrift Nürnberg), in dem vom 20. November 1945 an Korrespondenten, Journalisten und eben auch Schriftsteller aus allen möglichen Ländern (außer aus Deutschland – sie hatten Eintrittsverbot) mehr schlecht als recht in einem »Presselager« lebten. Sie waren zu jener einzigartigen Veranstaltung angereist, die die unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus aufklären und ihre (noch lebenden) Hauptprotagonisten richten sollten. Schließlich zeigt der Untertitel die richtige Richtung: Nürnberg ’46 – Treffen am Abgrund.
Die Alliierten hatten das Schloss der Bleistiftfamilie mangels anderer Möglichkeiten (die Stadt war schwer bombardiert worden) requiriert. Da die Amerikaner den Prozess in ihrer Besatzungszone abhalten wollten, wurde die am 18. Oktober in Berlin begonnene Beweisaufnahme nach Nürnberg verlegt. Der neue Ort besaß eine hohe Symbolkraft – hatten doch die Nazis hier ihre pompös-kitschigen Parteitage abgehalten.
Zeitweise waren 250 Pressevertreter in der Stadt, 100 davon aus den USA. Die Unterbringung war kompliziert, die hygienischen Zustände grenzwertig. Bis zu zehn Personen teilten sich ein Zimmer. Neumahr zitiert aus Briefen von Ernest Cecil Deane (1911–1991) an seine Frau. Deane war als Assistent des amerikanischen Presseoffiziers erste Anlaufstelle und fungierte als Faktotum für die Damen und Herren der Presse. Die Beschwerden ließen nicht auf sich warten; die Journalisten waren, wie Neumahr anmerkt, oft genug Besseres gewöhnt. Wer konnte und von den Amerikanern zugelassen wurde, ging ins Nürnberger Grand Hotel am Hauptbahnhof.
Friedrich Sieburg wurde 1893 geboren. 1912 begann er Philosophie, Geschichte und Ökonomie zu studieren. Im Ersten Weltkrieg wurde er Fliegeroffizier. Promotion 1919 in Münster zum Dr. phil. (im Nachwort steht irrtümlich 1920). Sieburg stand einige Zeit dem George-Kreis nahe. Schließlich schlug er eine Laufbahn als Journalist ein, schrieb u. a. für die »Weltbühne« und vor allem bei der »Frankfurter Zeitung«, für die als Korrespondent aus London und vor allem Paris berichtete. Er war vielseitig, schrieb Literatur- und Theaterkritiken, Feuilletons, historische Essays aber auch Gedichte und Reiseberichte. Er erlangte rasch einen gewissen Ruhm. Politisch begann er in den 1930er Jahren zunächst mit den Ideen der »konservativen Revolution« zu sympathisieren, später ergriff er Partei für den Nationalsozialismus. 1932 schrieb er »Es werde Deutschland«, ein, wie Gunther Nickel schreibt, »flammendes Plädoyer für eine nationale Erneuerung«. Es erschien jedoch erst nach der Machtübernahme 1933. Drei Jahre später wurde das Buch verboten, weil Sieburg hierin scharfe Kritik am Antisemitismus der Nationalsozialisten geübt haben soll. 1940 wurde Sieburg Botschaftsrat der Deutschen Botschaft im besetzten Frankreich. Ein Amt, wie es heißt »ohne jeden Einfluß« (Joachim Kersten). Er demissionierte zwei Jahre später und ging im Februar 1943 zurück zur »Frankfurter Zeitung«, die allerdings im August des gleichen Jahres verboten wurde. Sieburg war nun nicht nur arbeitslos, sondern auch noch emotional tief mit der Scheidung von seiner zweiten Frau Dorothee von Pückler, geb. von Bülow, beschäftigt, die er erst 1942 geheiratet hatte. Die Ehe wurde im Frühjahr 1944 wieder geschieden. Sieburg mietete sich bis auf weiteres in Dorothees Anwesen, dem sogenannten Schloss Rübsamen, für 100 RM monatlich ein. Meist hielt er sich jedoch in einer Wohnung in Tübingen im Haus von Paul Kluckhorn auf, der seit 1930 Ordinarius an der Universität war.
Das ist das Setting mit dem die Tagebuchaufzeichnungen Sieburgs beginnen, die der Wallstein-Verlag unter dem Titel »Die Fliege im Bernstein« soeben erstmalig herausgebracht hat. Die Eintragungen beginnen am 23. November 1944 und enden am 13. Mai 1945; Sieburg ist 51 Jahre alt. Obwohl geschieden, beschäftigt ihn immer noch Dorothee. Es kommt zu Begegnungen, die regelmässig in Beschimpfungen und bisweilen körperlicher Gewalt (von seiten der Frau) enden. Sie habe »zwei Wesen« in sich, So Sieburg. Nach heutigen Maßstäben würde man sie vermutlich als bipolare Persönlichkeit mit Aggressionspotential einstufen. Dennoch kann man zwischen den Zeilen lesen, dass es zeitweise zum Sex zwischen den beiden kommt. Die rasch wechselnden Stimmungslagen der Frau deprimieren ihn; er bekennt seine Liebe, aber auch seine Verzweiflung über das Verhalten seiner Ex-Frau, die dann bei ihm zur »Ermordung« der Liebe führte. Bisweilen werden diese Gefühle von Erinnerungen an seine erste Frau überlagert.
Der Brite John Sweeney, jahrelanger BBC-Reporter und ein erfahrener Kriegsberichterstatter, ist 64 Jahre alt. Er hat mehr als 240.000 Follower auf Twitter und trägt zumeist eine orange Mütze. Er war im Februar 2022 in der Ukraine, in Kiew (ich bleibe bei dieser Schreibweise) und erlebte den Kriegsbeginn hautnah mit. Seine jahrelange Beschäftigung mit Wladimir Putin und die Erfahrungen auch in diesem neuen Krieg (er fuhr unter anderem nach Butcha) hat er nun zu einem mehr als 300seitigen Buch mit dem reißerischen Titel »Der Killer im Kreml« zusammengefasst. Es wird, so der Untertitel, »Wladimir Putins skrupelloser Aufstieg und seine Vision vom großrussischen Reich«, behandelt.
Sweeney kennt Putins Kriegsführung, war in den 2000er Jahren mehrmals in Tschetschenien, berichtete von Zivilisten, die unter Artilleriefeuer fliehen mussten, obwohl ihre Evakuierung angemeldet war und sich mit weißen Fahnen bewegten. Er war bei der Abschussstelle der MH17 und sah Grausiges. Für ihn ist Putin niemand, der sich verändert hat – seine Brutalität war schon immer da. Die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999, die Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 und Beslan 2004 – alles Terroranschläge, die nach offizieller Lesart von tschetschenischen Terroristen verübt worden waren, aber, so einige Indizien Sweeneys, in Wirklichkeit »schwarze Operationen« des russischen Inlandsgeheimdienstes waren, um die Brutalität im Krieg in Tschetschenien zu rechtfertigen und Putin als »starken Mann« zu zeigen.
Die These, dass die Moskauer Anschläge auf Wohnhäuser vom FSB inszeniert worden sind, wird von der Geschichte um den »gescheiterten« Anschlag von Rajsan, als Zeugen eindeutig russisch-aussehende Bombenleger identifizierten, genährt. Auch zur Geiselnahme von 2002 gibt es zahlreiche Ungereimtheiten und ungeklärte Fragen (die vermutlich der Journalistin Anna Politkowskaya das Leben gekostet haben könnten). Sweeneys Einlassungen zu Beslan sind hingegen eher spekulativ.
Damit wird – leider – das Wesen dieses Buches deutlich. Diese Boulevardisierung ist umso bedauerlicher, als Sweeney wirklich umfangreiche und faktenbasierte Informationen über die (Un-)Taten Putins und seiner Regierung chronologisch, allerdings in populärem Duktus vorlegt. Die Liste ist lang: Anschläge, merkwürdige »Selbstmorde« von Oppositionellen, Verhaftungen, Morde, Vergiftungen und Verletzung völkerrechtlich verbindlicher Grenzen, völkermordähnliches Vorgehen in Kriegen und die Einlullung westlicher Staats- und Regierungschefs bis hin zur Unterstützung rechtsnationalistischer und linker Parteien in der EU und der Trump-Parteinahme im US-Wahlkampf. Das ist alles nicht neu, aber in der Aufzählung beeindruckend, weil man deutlich gemacht bekommt, wie diese Vorgehensweisen praktisch schon zur Nachrichtenroutine geworden waren, wobei die einzelnen Taten kurzfristig für Entsetzen sorgten, am Ende jedoch wieder rasch zum Alltag zurückgekehrt wurde. Manchmal verblüfft Sweeney den Leser, in dem er scheinbar Unwichtiges berichtet, wie etwa die Liste der Verspätungen, die ausländische Staats- und Regierungschefs auf Putin warten mussten (man ist überrascht, wer am längsten warten musste).
Bereits in Henry Kissingers 2014 auf deutsch erschienenem Buch »Weltordnung« tauchte der Begriff der »Staatskunst« als ein Attribut für politisch verantwortungsvolles und weitsichtiges Agieren auf. Die ersten Protagonisten, die sich laut Kissinger diesen Titel verdienen, waren die Mediatoren des Westfälischen Friedens, mit dem 1648 der mörderische und blutige Dreißigjährige Krieg in Europa beendet wurde. In ...
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind die Twitter-Threads des Journalisten Kamil Galeev eine vielfach genutzte Quelle. Galeev betreute u. a. im Wilson-Center ein Projekt über den russischen Nationalismus während der Putin-Ära. Er verfasste auch Artikel für die oppositionelle Moskauer Zeitung »Novaya Gazeta«. Sowohl seinen Ausführungen zur russischen Geschichte als auch die Einlassungen zur aktuellen politischen, demographischen und ökonomischen Lage im Putin-Russland sind luzide. Er zeichnet behutsam historische Analogien ohne journalistisch-einfache Gleichheitszeichen zu setzen. Dabei zeigt er, dass Putins Handeln in gewissen Traditionen in der russischen bzw. sowjetischen Geschichte steht. Eine allgegenwärtige Parallele scheint Josef Stalin zu sein. Sehr früh wies Galeev auf das Buch »Ich war Stalins Sekretär« von Boris Baschanow hin und empfahl es seinen Lesern als Lektüre; unter anderem um die russische Bürokratie (und deren Ineffektivität) zu verstehen. Aber es geht auch um die Verdeutlichung von Machtstrukturen innerhalb eines autoritären Systems aus erster Hand. Verbunden ist dies mit dem Desinteresse der politischen Akteure über die Lebenssituation der Bevölkerung – damals wie heute.
Baschanow, 1900 geboren, trat voller Überzeugung 1919 in die Partei ein. Durch glückliche Umstände und weil man sein Organisationstalent schätze wurde er 1923 als Sekretär in das Politbüros berufen. Er war rasch privilegiert; von allen Sekretären war er der einzige, der regelmässig bei den Sitzungen der sogenannten »Troika« (Stalin, Sinowjew und Kamenew) und später im Politbüro dabei war.
Galeev beschreibt in seinem Twitter-Strang vor allem Szene, als Baschanow Stalins heimliche Abhöranlage entdeckt. Er konnte bei Fragen ohne zu Klopfen in Stalins Büro eintreten und bekam mit, dass dieser während er wartete, einen Telefonhörer in der Hand hatte, aber nie sprach. Stalin bemerkte nun, dass Baschanow dies mitbekommen hatte. Es wussten nur sehr wenige Personen von dieser Möglichkeit, den kremlinternen Telefonverkehr (der vom normalen Telefonnetz ohnehin abgekoppelt war) mitzuhören. Stalin hatte ein wichtiges Instrument, um seine Säuberungen durchzuführen. Diese geschahen oftmals nicht sofort, aber Stalin vergaß nie; es konnte Jahre dauern, bis er sich rächte. Der tschechische Kommunist, der half, diese Abhöranlage zu installieren, wurde allerdings, wie Baschanow berichtet, kurz darauf umgebracht.
Die Szene macht neugierig und ich besorgte mir das Buch, welches in deutscher Übersetzung im Ullstein-Verlag 1977 erschienen war, antiquarisch für knapp 20 Euro. Inzwischen kursieren leider auf den entsprechenden Portalen nur noch sehr hohe Preise (jenseits 50 Euro).
Krieg hat in der Zunft der zeitgenössischen Geschichtsschreiber, um es salopp auszudrücken, keine gute Presse. Auch die kanadische Historikerin Margaret MacMillan ist keine Bellizistin, aber sie möchte mit ihrem Buch »Krieg« (Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt) dieses Phänomen sachlich erklären und erläutern »wie Konflikte die Menschheit prägten«. Krieg sei, so MacMillan im Vorwort, »keine Verirrung […], die man am besten so schnell wie möglich vergisst. Auch ist er nicht einfach die Abwesenheit von Frieden, dem vermeintlichen Normalzustand. Wenn wir nicht begreifen, wie tief Krieg und Gesellschaft ineinander verwoben sind – so sehr, dass man nicht sagen kann, wer von beiden dominiert oder ursächlich ist –, übersehen wir eine wichtige Dimension der Menschheitsgeschichte.« Ihr Ziel ist es, die »organisierte Gewalt« als Bestandteil der Geschichte anzuerkennen, ohne sofort in moralische Kategorien zu verfallen. Gleichzeitig möchte sie die Forschung über den Krieg nicht mehr nur den Militärhistorikern überlassen, die »vor sich hinforschen, ihre unappetitlichen Funde zutage fördern und ihre wenig erbaulichen Geschichten verfertigen, ohne jemanden zu stören.«
Der Grat scheint schmal, den MacMillan (Jahrgang 1943) betritt. Zu Beginn wirft sie die Frage auf, was aus Europa geworden wäre, wenn beispielsweise »die muslimischen Führer den ganzen Kontinent erobert hätten, was ihnen mehrmals beinahe gelungen wäre« oder wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Diese kontrafaktischen Überlegungen sollen nicht als Rechtfertigung für Kriege per se dienen, aber wohl aufzeigen, wie kriegerische Handlungen die aktuelle Gegenwart auch noch nach Jahrhunderten prägen. So sind die »starken Nationalstaaten von heute mit ihren Zentralregierungen und gut organisierten Bürokratien […] das Produkt von Jahrhunderten des Krieges.« Zum einen sind im 19. Jahrhundert Nationalstaaten als Folge von Kriegen entstanden und hatten dann – zum anderen – bisweilen durchaus friedensstiftende Wirkungen.
»Der Krieg«, so MacMillan, »ist vermutlich die am besten organisierte aller menschlichen Aktivitäten, und er hat seinerseits die Organisation der Gesellschaft vorangetrieben.« Einige Beispiele, die man zunächst nicht militärisch deuten würde wie das Kettenhemd oder den Steigbügel bringt sie an. Die Entwicklung von Waffen hatte immer auch Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Der Nationalismus schließlich lieferte, so MacMillan, »die Motivation und die industrielle Revolution die Mittel« für Kriege.
In neun Kapiteln untersucht MacMillan Facetten des Krieges und deren Auswirkungen. Einen großen Teil der Quellen für ihre Beobachtungen und Hypothesen bilden fiktionale Texte, wie jene von Homer, Thukydides, Vergil, Horaz, Sallust, William Shakespeare, Frederic Manning, Erich-Maria Remarque oder Ernst Jünger. Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau kommen mit ihren unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen zu Wort. Sunzi (oder auch Sun Tsu), Machiavelli und Clausewitz werden als Militärstrategen herangezogen. Es finden sich Zitate aus den Tagebüchern von Samuel Pepys und Marta Hillers. Gegenwärtige Kronzeugen für ihre Thesen sind vor allem Swetlana Alexijewitsch und Steven Pinker.
Robin Alexander war 2017 mit »Die Getriebenen«, der Chronik der Flüchtlingskrise 2015, ein Bestseller gelungen, der später sogar verfilmt wurde. Außer bei einigen politischen Wirrköpfen, die, je nach Färbung, Merkelhass oder Merkelergebenheit nachweisen wollten, gibt es bis heute keinen sachlichen Widerspruch zu den akribischen Rekonstruktionen des Autors. Alexander dokumentierte nicht nur die Überforderungen der deutschen ...