
Nachdem er mit Höhenrausch die kurze Zeit im Deutschen Reich zwischen den Kriegen skizziert hatte, legte Harald Jähner 2019 Wolfszeit vor, ein, wie es im Untertitel heißt, »Jahrzehnt in Bildern»1. Gemeint sind die Jahre im Nachkriegsdeutschland von 1945 bis 1955. Es geht um Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit, »Stunde Null«, Trümmer, Schwarzmarkt und Wirtschaftswunder aber auch um Schuld und Verdrängung. Jähner liefert sowohl Fakten und Zahlen, die das Ausmaß der von Deutschland und den Nazis verursachten Katastrophen und Verbrechen deutlich machen, streut jedoch immer wieder Erzählendes ein, indem er spotweise Schicksale und Ereignisse personalisiert und aus Tagebüchern und einstigen Zeitungsartikeln zitiert. Die bekannten Mythen werden nicht zwingend zerstört, aber mit der zeithistorischen Realität konfrontiert und geerdet.
So wird zum Beispiel deutlich, warum die Läden nach der Währungsreform 1948 plötzlich wieder voller Lebensmittel waren, nachdem zuvor Mangelwirtschaft den Ton angab. Es war halt kein »Wunder«. Auch was den Marshallplan angeht, rückt Jähner einiges zurecht, denn Deutschland erhielt nur einen Teil der Wiederaufbaugelder aus den USA. Großartig das Kapitel über die sich ausbreitende Trümmerikonografie, die bisweilen seltsame Blüten trieb, etwa in der Selbst- oder Fremdinszenierung inmitten von Ruinen. Auch die Ausführungen über den Segen des »Lastenausgleichsgesetzes« sind einerseits überzeugend, andererseits nicht jedem bekannt.
Jähner beschreibt eindringlich die »Wolfszeit«, jener von gegenseitiger Skepsis und Rücksichtslosigkeit geprägten Epoche des Handels auf den sogenannten Schwarzmärkten und erklärt, warum die Zigarette zur wahren Währung bis 1948 wurde. Er fragt, warum die Deutschen Skrupel beim Kohlenklauen oder Schwarzmarkthandel hatten, aber keinen Gedanken daran verschwendeten, als fünf Jahre zuvor ein Nachbar von der Gestapo abgeholt wurde. Natürlich geht Jähner auch auf die »Trümmerfrauen« ein, jene mystischen Eimerkettenbilder, die zeigten, wie Frauen den Schutt wegräumten (500 Millionen Tonnen sollen gewesen sein). Er zeichnet das Schicksal der »Displaced Persons« nach, jenen Menschen, die von den Nazis als Zwangsarbeiter missbraucht wurden und nun zurückführt, »repatriiert« werden sollten, berichtet von der logistischen wie institutionellen Überforderung der Alliierten zu Beginn, vom Fraternisierungsverbot der Amerikaner (die sich häufig nicht daran hielten) und den Vergewaltigungen der Roten Armee in den eingenommenen Gebieten. Letzteres wird versucht, zu erklären, ohne es zu rechtfertigen.
Ein aufmerksamer Leser korrigierte mich. Tatsächlich wurde Höhenrausch NACH Wolfszeit herausgebracht, nämlich 2022. ↩




