Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

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Cle­mens Mey­er: Die Pro­jek­to­ren

Clemens Meyer: Die Projektoren
Cle­mens Mey­er:
Die Pro­jek­to­ren

Tau­send­sei­ti­ge Ro­ma­ne ha­ben et­was von Ex­pe­di­tio­nen oder Berg­be­stei­gun­gen. Man geht los, vol­ler Vor­freu­de und schwung­voll, sam­melt sorg­sam Ein­drücke und ge­rät in Stim­mung. Hier und da bleibt man ste­hen und be­wun­dert ein schö­nes Pan­ora­ma oder ei­ne be­son­de­re Stel­le. Ir­gend­wann wird die Kon­di­ti­on ge­for­dert. Man un­ter­bricht die Tour, ist er­schöpft; noch über­wiegt die Neu­gier auf den wei­te­ren Weg. In wei­te­rem Ver­lauf wird man ver­zagt, schleppt sich über die Strecke, ge­nießt die ein oder an­de­re schö­ne Aus­sicht, die zum Wei­ter­ma­chen ani­miert. Die Etap­pen­zie­le wer­den kür­zer, aber schließ­lich er­reicht man das Ziel, ist ein we­nig stolz aber auch gleich wie­der in Sor­ge um den Rück­weg. Jetzt zeigt sich, ob die Ori­en­tie­rung aus­reicht.

Ori­en­tie­rung braucht man in dem Kon­vo­lut der No­ti­zen, die sich der Le­ser wäh­rend der Lek­tü­re von Cle­mens Mey­ers Die Pro­jek­to­ren ge­macht hat. Zu­mal es nicht ei­nen durch­gän­gi­gen Plot gibt, son­dern meh­re­re, ver­schach­tel­te und häu­fig in skur­ri­ler Art in­ein­an­der ver­wo­be­ne Hand­lungs­ebe­nen. Den­noch ver­sucht man am En­de ei­ne Glie­de­rung zu fin­den. Ja, da ist die Ge­schich­te des we­gen sei­nes John-Way­ne-Hals­tuchs all­ge­mein »Cow­boy« ge­nann­ten Man­nes, 1929 ge­bo­ren, der als Kind den Ein­marsch der Deut­schen in Ju­go­sla­wi­en und das Mas­sa­ker von No­vi Sad mit den in der Do­nau schwim­men­den To­ten haut­nah mit­er­lebt. Auf ei­nen Schlag – es ist da­tier­bar – bricht die hei­le Welt des schö­nen »Sonn­tags­lichts« zu­sam­men, die Spa­zier­gän­ge und Ki­no­be­su­che mit dem Va­ter, der ein Ex­per­te der ame­ri­ka­ni­schen Stumm­film­dar­stel­ler war. Der Jun­ge, der­art »mut­ter­los und va­ter­su­chend« ge­wor­den, schließt sich den Par­ti­sa­nen an, wird Mel­de­gän­ger aber der Sieg des Mar­schalls bringt kei­ne Bes­se­rung. Er eckt an, gilt als ab­trün­nig, wird auf Ti­tos »In­sel« de­por­tiert, ein La­ger für po­li­ti­sche Ge­fan­ge­ne, wird ge­fol­tert, aber er lernt, zu über­le­ben. Die­ser Cow­boy kommt nun mit ei­nem »Land­ar­rest« 1957 an den Tul­ove gre­de, ins Ve­le­bit-Ge­bir­ge, quar­tiert sich bei ei­nem Schä­fer ein und will ein­fach nur sei­ne Ru­he ha­ben. Ein paar Jah­re spä­ter kom­men die Deut­schen wie­der, dre­hen ge­nau an die­sem Ort zwi­schen 1963 und 1968 neun We­stern­fil­me nach Dr. May, den der Cow­boy schon aus der Bi­blio­thek des Va­ters kann­te.

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Wel­ten und Zei­ten XI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Herz­klap­pen von John­son & John­son von Va­le­rie Frit­sch: ein Buch, das ich gern mö­gen und als »neu­ar­tig« her­vor­he­ben wür­de. Ganz oh­ne Dia­lo­ge, auch oh­ne in­ne­re Mo­no­lo­ge, ganz ge­schrie­be­ne Spra­che, ge­feilt und aus­ge­feilt, des­halb im­mer (nur?) schön. An­de­rer­seits ist die Ge­schich­te frag­wür­dig, sie wird ver­nach­läs­sigt, un­ernst er­zählt. Der Groß­va­ter im Krieg als Mör­der, wirk­lich? Al­le die­se la­tent oder auch ma­ni­fest vor­wurfs­vol­len Kriegs­ge­schich­ten, auf­ge­spürt und aus­ge­gra­ben von En­keln und Ur­en­keln, die von der Ge­schich­te, die sich ih­nen ver­wei­gert, be­trof­fen sein wol­len. Je­der Sol­dat ein Mör­der? Ja, si­cher, aber das müß­te man dann kon­se­quent so schrei­ben und nicht den ei­nen Groß­va­ter an­kla­gen. Sol­da­ten sind Mör­der, von den Vor­ge­setz­ten und letzt­lich vom Staat zum Mord ver­pflich­tet. Wei­gern sie sich zu tö­ten, wer­den sie selbst ge­tö­tet.

Und die Mut­ter der Er­zäh­le­rin ist auch was Be­son­de­res, näm­lich Schlaf­wand­le­rin. Der Va­ter kommt fast gar nicht vor, viel­leicht zu nor­mal? Die Ka­pi­tel set­zen die Fi­gu­ren kaum mit­ein­an­der in Be­zie­hung, viel­mehr wid­met sich je­des je­weils ei­ner Fi­gur, der Rei­he nach, wie Wä­sche auf der Lei­ne. Und dann blei­ben sie mehr oder we­ni­ger aus dem Buch fort. Ein­fa­cher ge­sagt: Die Ge­schich­te ist nicht durch­ge­hal­ten. Auch der Lieb­ha­ber der Er­zäh­le­rin und spä­te­re Ehe­mann bleicht aus. Und der schmerz­un­emp­find­li­che Emil. Gibt es das über­haupt, Men­schen, die gar kei­nen Schmerz emp­fin­den? An­schei­nend ja, sehr sel­ten. An­al­ge­sie heißt das. Laut Wi­ki­pe­dia sind bis­her drei­ßig da­von be­trof­fe­ne Per­so­nen be­kannt. Drei­ßig welt­weit, oder wo? Steht nicht in dem Ar­ti­kel. Nach der Lek­tü­re des Buchs kann ich mir die­sen Zu­stand nicht vor­stel­len. Kei­ne Bo­den­haf­tung, die Er­zäh­le­rin stellt sie nicht her.

Vö­gel schau­en zum Fen­ster her­ein, und die Men­schen schau­en hin­aus. Die Vö­gel woh­nen drau­ßen, des­halb schau­en sie manch­mal her­ein; die woh­nen her­in­nen, des­halb schau­en sie hin­aus. Nein, die Vö­gel flie­gen so­fort weg, wenn sie se­hen, daß sich et­was be­wegt. Aber das Bild von den her­ein­schau­en­den Vö­geln ist hübsch. Die Ge­fähr­dung Emils, des Schmerz­un­emp­find­li­chen, wird ei­ne Zeit­lang aus­gie­big be­schrie­ben, dann kommt es zu ei­ner Au­to­rei­se nach Ka­sach­stan, die meh­re­re Wo­chen dau­ert, das al­les kur­so­risch er­zählt, zu­sam­men­fas­send, por­trät­haft um­grei­fend. Aber, Fra­ge des Le­sers mit sei­ner Wirk­lich­keits­sor­ge: Ist das nicht völ­lig ver­ant­wor­tungs­los, auf ei­ner Rei­se in ein fer­nes Land, na­he an Kriegs­ge­bie­ten, wo kei­ne ärzt­li­che Ver­sor­gung zu er­war­ten ist – ist es nicht ge­fähr­lich, ja, ver­ant­wor­tungs­los, ein sol­cher­art ge­fähr­de­tes Kind mit­zu­neh­men? Ei­nen An­al­ges­iker! Die Fra­ge platzt aus dem Rea­li­täts­be­wußt­sein in die Fik­ti­on her­ein. Die Schrei­be­rin stellt sie nicht (mehr). Und die Tei­le der Ge­schich­te grei­fen nicht (mehr) in­ein­an­der.

Die­ses Buch bie­tet ei­ne Va­ri­an­te des Um-je­den-Preis-ori­gi­nell-sein-Müs­sens. Die­se be­son­ders au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fi­gu­ren, mit be­son­ders ge­schärf­ten oder auch, an­ders­rum, feh­len­den Sin­nen. Va­ri­an­ten der Be­müht­heit. Und dann ver­ebbt der Schwung, reicht nicht aus bis zum Schluß. Kei­ne Dra­ma­tik. An­ge­neh­mes Da­hin­schnur­ren der Er­zäh­lun­gen, man liest sie gern. Wenn man sich nicht ge­ra­de über ein De­tail är­gert, ein, zwei Mal pro Sei­te. Da­hin­schnur­ren – Är­gern – Da­hin­schnur­ren – Är­gern…

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Sieg­fried Un­seld zum 100.

Un­ter­neh­men Un­seld ist das ak­tu­el­le Heft der Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te über­schrie­ben. Es gilt den 100. Ge­burts­tag von Sieg­fried Un­seld zu fei­ern. Da die Kon­vo­lu­te pri­va­ter Kor­re­spon­den­zen in­zwi­schen zwar ar­chi­viert, aber ge­sperrt sind, bleibt der Le­ser glück­li­cher­wei­se mit mo­ra­li­sie­rend ver­pack­ten Schlüs­sel­loch­ge­schich­ten ver­schont und man kon­zen­triert sich im Schwel­gen und Rä­so­nie­ren auf das Le­bens­werk, dem Ver­lag­s­im­pe­ri­um rund ...

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Da­ni­el Ko­stuj: Das Le­ben ei­nes In­fluen­cers

Daniel Kostuj: Das Leben eines Influencers
Da­ni­el Ko­stuj: Das Le­ben ei­nes In­fluen­cers

»Ich bin JAYDEN CHECKER auf YOUTUBE, @jaydenchecker auf TWITTER und SNAPCHAT so­wie @jayden-checker auf INSTAGRAM und TIKTOK.« Es fol­gen die Sub­scri­ber- bzw. Fol­lo­wer­zah­len, bei You­tube > 1 Mil­li­on, Tik­Tok > 4 Mil­lio­nen, In­sta­gram > 300.000, ei­ner Fan-Sei­te auf Face­book und so wei­ter. Wie ein Bör­sen­jun­kie starrt Jay­den täg­lich auf die­se Zah­len. Dann be­ginnt die Mor­gen­gym­na­stik und im Lau­fe der Zeit wer­den sie im­mer ab­stru­ser, die­se Zahl der Push-Ups, Pull-Ups, Cruns­hes, Hand­stän­de und Jog­gin­g­er­leb­nis­se mal mit mal oh­ne Un­ter­ho­se bis er dann ir­gend­wann Push-Ups »Oh­ne Ar­me« aus­führt und über sei­nem Par­kett­bo­den schwe­bend meh­re­re Stun­den ver­harrt. Das al­les bis der Tin­ni­tus er­wacht oder auf­hört, je nach dem.

Das Le­ben ei­nes In­fluen­cers steht auf dem Co­ver, ei­ne Art fik­ti­ves Ta­ge­buch (die @ sind al­le in­exi­stent), wo­bei zu­nächst von Tag 7 aus rück­wärts ge­zählt wird und da­nach bis Tag 7 wie­der vor­wärts. War­um auch im­mer. Die Zeit wird mit Pro­dukt­pro­mo­ti­on, Vi­deo­pro­duk­tio­nen und im Zu­sam­men­sein mit an­de­ren In­fluen­cern ver­bracht, man fei­ert oder be­sucht Mes­sen, zieht sich auf, gibt Rat­schlä­ge, ver­sucht neue Pro­duk­te zu be­kom­men (wenn mög­lich nichts aus Chi­na), ver­han­delt mit Ma­na­gern. Jay­den fährt stan­des­ge­mäss im Lam­bor­ghi­ni Huracán vor, be­nutzt für sei­ne Vi­de­os ein iPho­ne XR (ir­gend­wann er­fährt man, dass das al­les in 2019 her­um spielt) und setzt je­den Tag ei­ne lau­ni­ge Vi­deo­bot­schaft für sei­ne »fa­mi­ly« ab, die zwi­schen Koch- und Le­bens­re­zep­ten und ei­ner An­lei­tung zum Selbst­mord chan­giert. Sein Wer­ben um ei­ne In­fluen­ce­rin kommt aber nicht so rich­tig in Gang. Trotz der be­vor­zug­ten Dro­gen­mi­schung aus Me­tam­phet­amin und Via­gra. Spä­ter wird der Ste­ro­id­zy­klus mit Tren­bo­lon, Te­sto­ste­ron-En­an­tat und Ari­mi­dex getweakt. Im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches wird deut­lich, war­um man so et­was nie zu sich neh­men soll­te.

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Wel­ten und Zei­ten X

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Die Ent­ste­hung ei­nes Schrift­stel­lers. Er oder sie ent­deckt für sich die Li­te­ra­tur, mit Hil­fe von El­tern oder Groß­el­tern oder der Bi­blio­thek des Va­ters oder der Schul­bi­blio­thek, meist früh­zei­tig, liest Bü­cher, son­dert sich ab, ver­sucht selbst zu schrei­ben, man braucht da­zu nur ei­nen Blei­stift, Pa­pier, ei­ne Schreib­ma­schi­ne. Ta­len­tiert oder stüm­per­haft, in je­dem Fall ehr­gei­zig, wird sie oder er lang­sam bes­ser (au­ßer Rim­baud, der war von An­fang an – aber nur für drei Jah­re – der, der er war), ei­ne Zeit­schrift oder Zei­tung oder heu­te er selbst, im In­ter­net, ver­öf­fent­licht sei­nen er­sten Text.

Ganz an­ders Tho­mas Bern­hard. In sei­ner Ju­gend schwer er­krankt, mit dem Über­le­bens­kampf aus­ge­la­stet, dann Mu­sik, Ge­sang, Jour­na­lis­mus. Ei­ge­nes Schrei­ben re­la­tiv spät, und zwar Ge­dich­te. Die wur­den ver­öf­fent­licht, im Ot­to Mül­ler Ver­lag. Wir schrei­ben 1957, 1958, im da­ma­li­gen Kon­text klin­gen sei­ne Ge­dich­te et­was al­ter­tüm­lich, sie rie­chen nach Ge­org Tra­kl (des­sen Werk eben­falls im Ot­to Mül­ler Ver­lag er­schien). In ho­ra mor­tis, ein ba­rocker Ti­tel, la­tei­nisch wie da­mals noch die ka­tho­li­sche Lit­ur­gie, wie sie in Öster­reich in zahl­lo­sen Ba­rock­kirch­lein durch­ge­führt wur­de. Und dann plötz­lich Frost, 1963, et­was ganz an­de­res, ein Ro­man, der al­le sti­li­sti­schen, the­ma­ti­schen und mo­ti­vi­schen Ei­gen­schaf­ten auf­weist, die bis zu­letzt das Werk Bern­hards kenn­zeich­ne­ten. Das In­ter­es­san­te, für mich je­den­falls: Bern­hard hat das ly­ri­sche Früh­werk hin­ter sich ge­las­sen. Es ist, als hät­te Frost ei­ne an­de­re Per­son ge­schrie­ben als der Ver­fas­ser von In ho­ra mor­tis. Zwi­schen bei­den Pha­sen gibt es kei­nen Zu­sam­men­hang.

Wie so oft regt sich auch hier ein: And yet… Und doch. Denn er­stens bleibt der Tod, die Ver­gäng­lich­keit, Hin­fäl­lig­keit, Nich­tig­keit des mensch­li­chen Le­bens und Trei­bens Bern­hards the­ma­ti­sche Quel­le – ich könn­te auch sa­gen: Er­fah­rungs­quel­le –, die über­reich spru­del­te. Auch sei­ne spä­te­re Ko­mik, auf dem Thea­ter wie beim Er­zäh­len, be­zieht dar­aus ih­re Kraft. Und zwei­tens hat Bern­hard auf ra­di­kal­ste Wei­se dich­te­ri­sche Tech­ni­ken auf sei­ne Pro­sa über­tra­gen: An­ti­the­tik, ob­ses­si­ve Wie­der­ho­lung, ver­bun­den mit Stei­ge­rung (die Rhe­to­rik nennt das »am­pli­fi­ca­tio«). Im we­sent­li­chen al­so ge­nau je­ne sprach­sti­li­sti­schen Ver­fah­ren, die Ro­man Ja­kobson dem zu­ord­ne­te, was er als »poe­ti­sche Funk­ti­on« des Spre­chens de­fi­nier­te.

Für mich sind bis heu­te je­ne Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen am an­zie­hend­sten – oder li­te­ra­risch am stärk­sten, falls es denn noch er­laubt ist, äs­the­ti­sche Wer­tun­gen übers Ge­schmäck­le­ri­sche hin­aus zu äu­ßern –, die aus dem sol­cher­art de­fi­nier­ten Poe­ti­schen schöp­fen, sich die­sem im­mer wie­der nä­hern und ei­ne er­zäh­lend poe­ti­sche Spra­che kre­ieren. (»Kre­ieren« wie crea­te, auf deutsch »schöp­fen«; die al­ten Grie­chen, die uns im­mer noch nach­hän­gen, spra­chen von »Poie­sis«.) Na­tür­lich gibt es auch die Kunst des Er­zäh­lens als sol­che, es gibt her­vor­ra­gen­de, schöp­fe­ri­sche münd­li­che Er­zäh­ler, die nie auf die Idee kä­men, et­was vom Er­zähl­ten nie­der­zu­schrei­ben. Aber auch in die­sen spon­ta­nen Er­zäh­lun­gen, die sich um Sprach­li­ches gar nicht be­wußt küm­mern, wirkt und werkt die poe­ti­sche Funk­ti­on. Es ist nicht nur Spra­che, nicht nur Rhe­to­rik, die da­bei zur An­wen­dung kom­men, es ist auch ein Han­tie­ren und Kom­po­nie­ren mit er­zäh­le­ri­schen Ein­hei­ten, Blöcken, klei­ne­ren nar­ra­ti­ven Ele­men­ten. Das al­les wur­de längst be­merkt und er­forscht, im aka­de­mi­schen Raum mit oft wahn­wit­zi­ger, ab­ge­ho­be­ner Be­griff­lich­keit (Gé­rard Ge­net­te!), die mit dem tat­säch­li­chen Er­zäh­len nicht mehr viel zu tun hat und den Er­zäh­lern selbst, soll­ten sie je da­von Kennt­nis er­hal­ten, nichts nützt.

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Jür­gen Becker: Nach­spiel­zeit

Jürgen Becker: Nachspielzeit
Jür­gen Becker:
Nach­spiel­zeit

Wenn je­mand wie der 92jährige Jür­gen Becker ei­nen neu­en Ge­dicht­band mit dem Ti­tel Nach­spiel­zeit vor­legt, wer­de ich neu­gie­rig. Man schlägt die »Ge­dich­te und Sät­ze« auf und ist bin­nen we­ni­ger Mi­nu­ten ein- und ab­ge­taucht in die­sen von je­den Ord­nun­gen un­ge­stör­ten Strom aus Schau­en, Su­chen, Er­in­nern, ein Ka­lei­do­skop aus As­so­zia­tio­nen, Flash­backs und Dé­jà-vus von der Kind­heit mit ih­ren ein­schnei­den­den Kriegs­er­leb­nis­sen bis hin­ein in die Ge­gen­wart.

»Mit je­dem Tag wächst ei­ne Ent­fer­nung, kommt et­was nä­her,
ganz gleich, um was es geht beim Er­in­nern, beim Er­war­ten.
Zwi­schen Kind­heit und Ster­be­bett so vie­le Jahr­zehn­te, daß
es dunk­ler wä­re am Him­mel, knip­ste man für je­den Au­gen­blick,
der ver­geht, ei­nen Stern aus –
«

Bis­wei­len ent­la­den sich die Er­in­ne­run­gen erup­tiv:

»der Schul­weg die Kampf­bahn Ka­ser­ne Ka­sta­ni­en
sing mit hau ab fick dich ins Knie
Büch­sen­fleisch Rü­ben­kraut Mucke­fuck Son­der­mi­schung
Gas­schleu­se Jung­volk­heim Schil­der­häus­chen Lau­be
Brief­mar­ken sam­meln Heil­kräu­ter Alt­ma­te­ri­al
Koh­len­klau Feind hört mit Kopf hoch Jo­han­nes
«

Um dann wie­der im Jetzt an­zu­kom­men:

»seit Ta­gen und Ta­gen un­dicht der Was­ser­hahn
hört plötz­lich oh Wun­der zu trop­fen auf
statt­des­sen flackert die Leucht­stoff­röh­re
hat Ar­te zu ei­nem Ka­nal ge­wech­selt den
ich nicht fin­den kann
«

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Spra­che und Macht

Es ge­hört zur rai­son d’être ei­nes Schrift­stel­lers, auf die Spra­che zu ach­ten. Die all­ge­mein im Ge­brauch ste­hen­de eben­so wie sei­ne per­sön­li­che Spra­che liegt ihm am Her­zen. Zu­min­dest mir geht es so, ich will die Spra­che nicht zer­stö­ren (wie einst ei­ni­ge Da­da­isten) oder ver­wahr­lo­sen se­hen, ich will sie er­wei­tern, aus ih­ren Mög­lich­kei­ten schöp­fen, sie not­falls auch schüt­zen. Wohl des­halb bin ich emp­find­lich, wenn aus ideo­lo­gi­schen oder bü­ro­kra­ti­schen Er­wä­gun­gen an ihr ge­mä­kelt, ge­zerrt und ge­rüt­telt wird.

»Sprecher*innen« und »Schreiber*innen« wür­de ich schrei­ben, woll­te ich mich po­li­tisch-mo­ra­lisch kor­rekt ver­hal­ten. Oder »Spre­chen­de und Schrei­ben­de«. Bei­des nicht schön. Zu die­sem The­ma ist schon viel Tin­te ge­flos­sen, ich will nicht mehr als ein paar Trop­fen hin­zu­zu­fü­gen, die deut­sche und die ro­ma­ni­schen Spra­chen be­tref­fend vor al­lem den Hin­weis, dass in so­ge­nann­ter in­klu­si­ver Spra­che auch die Ar­ti­kel und Ad­jek­ti­ve syn­chro­ni­siert und im Ge­nus-Be­zug plu­ra­li­siert wer­den müss­ten, was oft un­ter­bleibt oder in­kon­se­quent durch­ge­führt wird. Wenn aber strikt syn­chro­ni­siert wird, steigt in man­chen Wort­fol­gen die Um­ständ­lich­keit der Äu­ße­rung noch ein­mal an. Kürz­lich war ich bei ei­nem Se­mi­nar li­te­ra­ri­scher Über­set­zer. Der Groß­teil der Teil­neh­mer weib­lich, die Vor­tra­gen­den weib­lich, ab­ge­se­hen vom jun­gen Ein­füh­rungs­red­ner. Er be­gann mit dem Satz: »Ich bin kein stu­dier­ter Literaturwissenschaftler…in.« Das Suf­fix kam erst nach ei­ner kur­zen Pau­se, das Ad­jek­tiv und die Ne­ga­ti­on hät­te er ei­gent­lich an­pas­sen müs­sen, was im Münd­li­chen schwie­rig ist, aber auch schrift­lich: »kein*e studierte*r Literaturwissenschaftler*in«, oder was im­mer man an Schrift­zei­chen auf­bie­ten will.

Ich ha­be fast täg­lich mit Tex­ten in fünf bis sechs Spra­chen Um­gang. Die gen­der­be­wuss­ten Än­de­rungs­wel­len fal­len mir in den mei­sten von ih­nen auf; in ei­ni­gen, be­dingt durch die Struk­tur der Spra­che, mehr, in an­de­ren we­ni­ger. Be­son­ders stö­rend und de­struk­tiv emp­fin­de ich der­lei Än­de­run­gen im Fran­zö­si­schen und im Spa­ni­schen. Im Fran­zö­si­schen kom­men sie mir nur in der On­line-Zei­tung Me­dia­part un­ter, dort aber so mas­siv, dass die Les­bar­keit der Ar­ti­kel im­mer wie­der in Ge­fahr steht. Le Mon­de, sprach­lich kon­ser­va­tiv, brach­te letz­tes Jahr ei­nen Be­richt über ei­nen Ge­set­zes­vor­schlag des fran­zö­si­schen Se­nats, so­ge­nann­te »in­klu­si­ve Spra­che« in of­fi­zi­el­len Do­ku­men­ten zu ver­bie­ten. Der Ar­ti­kel be­gann leicht iro­nisch mit der Be­mer­kung, man kön­ne an die­ser Stel­le von »sé­na­teurs« und »sé­na­tri­ces« spre­chen, aber nicht von »sé­na­teu­rices« – wo­bei die kon­se­quen­te in­klu­si­ve Schreib­wei­se ei­gent­lich »sénat(eur)ices« lau­ten müss­te. Der Se­nat möch­te nicht zu­letzt so­ge­nann­te non-bi­nä­re, in Wör­ter­bü­chern bis­her nicht ent­hal­te­ne For­men wie das pro­no­mi­na­le »iel« (Ver­bin­dung von »il« und »el­le«), »cel­leux« oder »tou­stes« ver­ban­nen, die für mein Ohr tat­säch­lich gro­tesk klin­gen. Das Bil­dungs­mi­ni­ste­ri­um hat­te schon 2021 ei­nen Er­lass aus­ge­sandt, der sol­chen Sprach­ge­brauch an Schu­len un­ter­sagt.

Aber vor sol­chen Gro­tes­ken scheu­en die Ideolog*innen nicht zu­rück. In Spa­ni­en und noch mehr in ei­ni­gen la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern prä­gen sie For­men wie »to­des«, um Per­so­nen zu in­klu­die­ren, die sich we­der als männ­li­che »to­dos« noch als weib­li­che »to­das« er­ken­nen kön­nen. Das er­gibt dann For­men wie »chi­ques« für non-bi­nä­re Jungs/Mädels/X (auch das X kommt mitt­ler­wei­le zu gram­ma­ti­schen Eh­ren), so­dass man sich im Plu­ral nicht nur an »querido.a.s chico.a.s« wen­den wird, son­dern auch an »quer­ides chi­ques«, am be­sten viel­leicht so: »querido.a.e.s chic(qu).a.e.s«. Dass sich so et­was dann nicht mehr le­sen lässt, ver­ste­hen wohl auch je­ne Le­ser, die des Spa­ni­schen nicht mäch­tig sind. In Ar­gen­ti­ni­en ver­sucht die Re­gie­rung von Staats­prä­si­dent Ja­vier Mi­lei in­zwi­schen, in­klu­si­ve Spra­che in den Äm­tern zu ver­bie­ten; das­sel­be tut seit letz­tem Jahr die Lan­des­re­gie­rung in Nie­der­öster­reich. Zwi­schen Kon­ser­va­ti­ven und Pro­gres­si­ven ist in vie­len Tei­len der Welt ein Ping-Pong-Kampf um die Spra­che im Gang. Der Schrift­stel­ler steht am Netz und be­wegt den Kopf hin und her. Schrei­ben wird er wei­ter­hin so, wie er es für gut hält. Wenn ihm nicht sen­si­ti­ve Lektor*innen im Ver­lag dicke Stri­che ins Ma­nu­skript set­zen.

Wei­ter­le­sen ...