Dies­seits­welt­ent­frem­det

Wim Wenders: Die schönen Tage von Aranjuez

Wim Wen­ders:
Die schö­nen Ta­ge von Aran­juez

Im­mer wie­der sind es bei Hand­ke auch Frau­en, die zu Rei­sen in ein neu­es Zeit­al­ter auf­bre­chen und/oder in ei­ne neue Welt(erfahrung) auf­bre­chen. In den 1970er Jah­ren ist es die »links­hän­di­ge Frau«, die selbst­bewusst ih­re ehe­li­chen Ket­ten ab­streift. Die No­va aus »Über die Dör­fer« ist ei­ne Mi­schung aus Zukunfts­deuterin, Phi­lo­so­phin und Vi­sio­nä­rin. Schließ­lich die star­ken Frau­en­fi­gu­ren in »Die Ab­we­sen­heit« (be­son­ders im Film) und dann die Haupt­fi­gur, der Aben­teue­rin und »Fi­nanz­für­stin« in sei­nem sper­rig­stem und am­bi­tio­nier­te­sten Buch »Der Bild­ver­lust«. In »Ka­li« (2007) ist es ei­ne Sän­ge­rin, die von Fer­ne als ei­ne (Geistes-)Verwandte No­vas oder der »Fi­nanz­frau« aus dem »Bild­ver­lust« er­scheint.

Und auch die durch das Fra­gen zu sich und vor al­lem zur Welt fin­den­de Frau im Thea­ter­stück »Die schö­nen Ta­ge von Aran­juez« ist ei­ne sol­che star­ke Per­sön­lich­keit. Sie sitzt mit ei­nem Mann (der nicht »ihr« Mann ist, es viel­leicht auch nie war) auf ei­ner Ter­ras­se. Es ist Som­mer, die Son­ne scheint, nur ab und zu ein war­mer Wind. Im Mai 2012 wur­de die­ser »Sommer­dialog« im Rah­men der Wie­ner Fest­wo­chen von dem in­zwi­schen ver­stor­be­nen Luc Bon­dy ur­auf­ge­führt. Knapp drei Jah­re spä­ter wid­met sich Wim Wen­ders die­sem Stück und mach­te dar­aus ei­nen Film.

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Wie­der­spruch

»In­ani­ma­te I know I am and I will re­main«
Lloyd Co­le: Pe­ri­od Pie­ce

Die Fra­ge ist wie im­mer, wer spricht. Der Sän­ger, ja, aber er spricht im Na­men der Mau­er, von der nichts üb­rig ist als mi­ne­ra­li­sche, al­so un­be­leb­te, er­fun­de­ne, mit Zucker ver­zier­te Sou­ve­nirs. Wie einst die bit­te­ren, an­geb­lich heil­sa­men, je­den­falls not­wen­di­gen Pil­len, die man uns schmack­haft mach­te. Aber: Wenn der Stein et­was weiß, und mehr noch, wenn er et­was von sich weiß, wie kann er dann tot sein? Der Sän­ger al­so, den Tod we­der fürch­tend noch ver­ach­tend, viel­leicht so­gar – ins­ge­heim? – lie­bend, zu­gleich di­stan­zie­rend, be­lebt, in­dem er sich wi­der­spricht, die Mau­er, die selbst in der Ver­gan­gen­heit se­hend, füh­lend und blü­hend war. Jetzt erst, lan­ge im nach­hin­ein, darf sie tan­zen und blei­ben. Tan­zend blei­ben, schließ­lich wa­ren das die be­sten Jah­re, und es sieht nicht so aus, als wür­den sie wie­der­keh­ren.

Nie­mals.

Oder doch. Nicht die be­sten, aber bes­se­re Zei­ten. Oh­ne Wi­der­spruch einst­wei­len.

© Leo­pold Fe­der­mair

Die Schach­tel

Seit zehn Jah­ren steht sie un­ter der Ab­wasch, hört das Was­ser über sich und dem Topf und der Pfan­ne rö­cheln und schwap­pen. Ent­schlos­sen um­funk­tio­niert, da­mals, von ei­ner Frau, die sich als Ord­ne­rin bei Um­zü­gen ein Zu­brot zur schma­len Ren­te ver­dien­te. Ob sie noch lebt? Si­cher! Die Schach­tel dient wei­ter, sie schafft und ge­stal­tet Raum und gibt den Din­gen Her­ber­ge. Ih­re Öff­nung hat­te sich, schein­bar für im­mer, den Blicken zu­ge­kehrt, die sel­ten, aber re­gel­mä­ßig auf sie fal­len wür­den. Die­se Schach­tel ver­birgt nicht, sie zeigt. Mir ist, als wür­de sie spre­chen, mei­ne Spra­che ver­bes­sern: Nicht sel­ten, oft! Du weißt nicht, wie ge­schäf­tig du bist. An ih­rer Stirn ist die Li­nie mit den Jah­ren ge­sun­ken, die Sor­gen­fal­te un­merk­lich ge­wach­sen. Kein Wun­der, oder doch: daß die Schach­tel aus­harrt, noch.

© Leo­pold Fe­der­mair

Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Dina Sikirić: Was den Fluss bewegt

Di­na Sik­irić: Was den Fluss be­wegt

Im De­zem­ber 1960 fährt ei­ne Mut­ter mit ih­rer fünf­ein­halb­jäh­ri­gen Toch­ter mit dem Zug von Ju­go­sla­wi­en in die Schweiz. Sie flüch­tet nicht vor Ar­mut oder Krieg. Es ist Lie­bes­kum­mer; die Mut­ter trennt sich von ih­rem Mann, dem Va­ter des Kin­des. Tat­säch­lich war mit ei­ner Freun­din der Mut­ter, ei­ner Lands­frau, die mit ei­nem Schwei­zer ver­hei­ra­tet ist, al­les ge­plant. Woh­nung und Ar­beit (in ei­ner Apo­the­ke) sind si­cher. Für das Mäd­chen, die Ich-Er­zäh­le­rin in Di­na Sik­irićs »Was den Fluss be­wegt«, ist dies ei­ne über­ra­schen­de aber auch sinn­li­che Rei­se, mit »Ver­hei­ßun­gen« und Glücks­ver­spre­chen er­füllt. An­fangs neu­gie­rig, »ver­zückt« und »glü­hend vor Glück« die neu­en Ein­drücke ge­ra­de­zu auf­sau­gend, kommt nach we­ni­gen Ta­gen die Er­nüch­te­rung: Sie wird in ein Kin­der­heim ge­bracht, in dem Schwe­stern mit re­li­giö­ser In­brunst das Kind in ei­ne häss­li­che Kluft und ei­nen stren­gen Ta­ges­ab­lauf stecken. Nur sonn­tags geht es für ein paar Stun­den zur Mut­ter.

Al­les ist furcht­erre­gend – ihr Fremd­sein, die un­ver­ständ­li­che Spra­che, die (auch mensch­lich) kal­te Um­ge­bung, die merk­wür­di­ge Klei­dung der Be­treue­rin­nen (die sie »Rie­sen­krä­hen« nennt). Sie hat das Ge­fühl »stets fehl am Platz zu sein«. Nur die 10jährige Do­me­ni­ca aus Ita­li­en, wie sie ei­ne Frem­de, wird ih­re Freun­din. Drei Mo­na­te bleibt sie stumm, ei­ne »Sprach­lo­sig­keit der Trau­er«, und flüch­tet sich in ei­ne my­thi­sche Traum­welt in der auch die im Heim an­ge­lern­te christ­li­che Sym­bo­lik ei­nen Platz fin­det. So wird der Got­tes­dienst zu ei­nem Fest, hier spricht sie in der ihr frem­den Spra­che die Ge­be­te nach und Gott wird zur Pro­jek­ti­on, denn er ist wie sie ein Frem­der. Schließ­lich be­ginnt sie die neue Spra­che zu ler­nen, was noch ein­mal ih­re Au­ßen­sei­ter­rol­le ver­stärkt. Die von ihr so fie­ber­haft er­war­te­te und er­sehn­te Tau­fe, das Da­zu­ge­hö­ren und Auf­ge­nom­men­wer­den in die Ge­mein­schaft der Kin­der, wird nie­mals statt­fin­den, denn sie ist, wie sie er­fah­ren muss, ein »Hei­den­kind« (weil sie aus ei­ner mus­li­mi­schen Fa­mi­lie stammt).

Als sie nach schier end­lo­sen an­dert­halb Jah­ren in den Som­mer­fe­ri­en in ihr Hei­mat­land Ju­go­sla­wi­en zu­rück­reist blüht sie wie­der auf, ge­rät in ei­nen »Glück­s­tau­mel«. Plötz­lich steht sie im Mit­tel­punkt, ge­nießt ein ge­wis­ses An­se­hen, trifft auf ih­re Fa­mi­lie und vor al­lem den Va­ter, den sie so sehr ver­misst hat­te. Der führt sie aus in die Stadt und in ein Fo­to­stu­dio und lässt von nun an in je­dem Som­mer dort Fo­to­gra­fien von ihr und sich ma­chen und so ent­steht in den vie­len Jah­ren ih­res som­mer­li­chen Zu­sam­men­seins ein »ernst­schö­nes Va­ter-Toch­ter-Paar« und das Er­zäh­len über die­se so kost­ba­ren Au­gen­blicke des Ein­ver­stan­den-Seins mit der Welt ge­hö­ren zu den schön­stens Stel­len die­ses Bu­ches. Wei­ter­le­sen

Hand­werk statt Ge­sin­nung

Ein Be­richt über ei­nen Fund

Al­so wie­der so ein Buch über Mas­sen­me­di­en und »wie sie uns in die Ir­re füh­ren«. Und es gibt so­fort har­ten To­bak:

»Wir wer­den nicht rich­tig in­for­miert. Wir le­ben mit der Des­in­for­ma­ti­on. […] Des­in­for­ma­ti­on wird von ei­nem Kar­tell aus Po­li­ti­kern, Funk­tio­nä­ren, Öf­fent­lich­keits­ar­bei­tern und Presse­sprechern be­trie­ben. Sie tun das ih­nen Mög­li­che, die Pres­se in ih­ren Dienst zu neh­men und sie nur in­so­weit mit der Wahr­heit zu be­die­nen, als sie dem je­wei­li­gen Mit­glied des Kar­tells nicht schäd­lich ist.«

Der Au­tor skiz­ziert die Se­lek­ti­on in den Nach­rich­ten­re­dak­tio­nen und kri­ti­siert sie:

»Die Mei­nung ist frei, doch wor­über die Bür­ger über­haupt Mei­nun­gen ha­ben kön­nen, das ha­ben zu­vor zu ei­nem er­heb­li­chen Teil die Jour­na­li­sten per agen­da-set­ting ent­schie­den.«

Und dann wen­det er sich die­sen Jour­na­li­sten zu:

»Sie lü­gen, weil sie un­ter Er­folgs­zwang ste­hen und von ih­ren Chefs oder Auf­trag­ge­bern un­ter Druck ge­setzt wer­den, in­ter­es­san­ter zu schrei­ben als die Kon­kur­renz. Sie lü­gen, weil sie nur In­for­ma­tio­nen ver­kau­fen kön­nen, die an­de­re nicht ha­ben. Sie lü­gen, weil sie in der Re­dak­ti­ons­hier­ar­chie auf­stei­gen wol­len, weil sie mit ih­rer Ge­schich­te auf der er­sten Sei­te oder weil sie den Pu­lit­zer­preis be­kom­men wol­len. Und sie schlit­tern in die Lü­ge hin­ein, weil sie mit Über­trei­bun­gen be­gon­nen ha­ben und das Über­trie­be­ne im­mer noch wei­ter ge­stei­gert wer­den muß, da­mit es in­ter­es­sant bleibt.«

Im­mer­hin wird kon­ze­diert:

»[D]ie drei­ste Lü­ge ist frei­lich selten…Häufiger liest man…die Le­gie­rung aus Dich­tung und Wahr­heit.«

Wei­ter­le­sen

Neu­jahrs­lied

LF (© Leopold Federmair)

LF (© Leo­pold Fe­der­mair)

Die Son­ne ist auf­ge­gan­gen,
der Mond steht ir­gend­wo.
Die Vö­gel hocken auf den Schnü­ren.
Asphalt ver­eist, be­vor die La­ster kom­men.

Viel wei­ßer Rauh­reif ziert die Fel­der
mit star­ren Sta­lak­ti­ten,
die in den Him­mel rei­chen,
auf­flie­gen wer­den, den­ken sie.

Ab­wei­send glänzt der Him­mel
mit sei­nen Hie­ro­gly­phen,
dem Kom­men­den ein Schild.

Dem Kom­men­den ein Schild.

© Leo­pold Fe­der­mair

Klin­gel­beu­te

Der Klin­gel­beu­tel war ein läng­li­cher Beu­tel aus ro­tem Samt, mit ei­nem gol­de­nen Glöck­chen an sei­nem un­te­ren En­de, das sich wie ei­ne Wurst zu­sam­men­zog. Er hing vom En­de ei­ner lan­gen höl­zer­nen Stan­ge und schau­kel­te ein we­nig, wenn er sich durch die Kirchen­bankreihen bis zur in der Mit­te sit­zen­den, dort zu­sam­me­ge­kau­er­ten Per­son (das war ich) vor­an­ta­ste­te, wo­bei es ein we­nig hüpf­te und das Glöck­chen klin­gel­te, wenn ich oder ein an­de­rer der Auf­for­de­rung nicht nach­kam, sei es, weil ich die Mün­ze für ei­nen an­de­ren Zweck be­hal­ten woll­te, sei es, weil er die Geld­bör­se ver­ges­sen hat­te, sei es, weil er sich wei­ger­te oder an die­sem Sonn­tag kei­ne Lust hat­te, der Kir­che den Obu­lus zu ent­rich­ten (so nann­te, so er­klär­te es in der Schu­le der Pfar­rer). Rot und Gold, die Far­ben des Kö­nigs, sein Reich ist von die­ser Welt.

Der Mann, der den Klin­gel­beu­tel am an­de­ren En­de der manch­mal ins End­lo­se wach­sen­den Stan­ge hielt, hat­te ei­nen weit über sei­ne ro­ten Backen hin­aus ge­zwir­bel­ten wei­ßen Schnauz­bart, und er schau­te ver­schmitzt, wenn er am Werk war, oder miß­mu­tig, wenn er auf ein Zö­gern, ei­nen Wi­der­stand stieß. Hat­te er ei­ne Sei­te be­ar­bei­tet, kam er von der an­de­ren, und ich fürch­te­te, sein Ge­sicht wür­de zor­nig, weil er mei­ne Ge­ste ver­ges­sen hat­te und ei­ne zwei­te Mün­ze er­war­te­te (aber die Mut­ter hat­te mir nur ei­ne ge­ge­ben). Er war ein Pfer­de­knecht, die­ses Wort hat­te ich mehr­mals ge­hört, auf ei­nem ab­ge­le­ge­nen Gut und war vor­zei­ten ein Kut­scher ge­we­sen, hat­te so­gar – aber nein, das war sein Urgroß­vater ge­we­sen, der hat­te die Kö­ni­gin durchs Tal kut­schiert, als die hin­te­re Ach­se brach, doch die Kö­ni­gin blieb durch Got­tes Gna­de un­ver­letzt, wes­halb sie die Ka­pel­le am Weg­rand er­rich­ten ließ, die als ein­zi­ges Bau­werk im gan­zen Ort vom Zahn der Zeit ver­schont ge­blie­ben ist mit ih­ren wei­ßen Wän­den und dem blau­en, luf­tig be­wölk­ten Him­mel über dem Kopf der Mut­ter Got­tes.

Der Kut­scher trug schwe­re Reit­stie­fel, die ein krat­zen­des Ge­räusch auf den Stein­flie­sen mach­ten, wenn er mit sei­ner Beu­te ab­zog. Es wa­ren ähn­li­che Stie­fel wie je­ne, die ich vom Dach­bo­den her­un­ter­ge­tra­gen hat­te, als ich äl­ter wur­de und ei­nen Sinn für Frei­heit aus­brü­te­te, nicht mehr in die Kir­che ging und al­te Sa­chen lieb­te, vor al­lem am ei­ge­nen Kör­per, aber die Stie­fel wa­ren dann doch zu schwer, ich be­weg­te mich wie ei­ne vom Pferd ge­stie­ge­ne Sta­tue, nur zwei­mal trug ich sie auf dem Schul­weg. Als ich klein war und Angst hat­te vor dem lang­sam her­an­rücken­den Beu­tel, hör­te ich an neb­li­gen Sonn­ta­gen, be­vor der Schnee kam, wie das Pferd drau­ßen scharr­te und schnaub­te, und ich sah, ob­wohl es nie­mand se­hen konn­te, wie sich der Knecht auf das Pferd schwang und sei­ne Schen­kel in die schwarz glän­zen­den Flan­ken drück­te und mit der Beu­te da­von­spreng­te, bis Tier und Mensch eins wur­den und die dunk­le Sil­hou­et­te im Ne­bel ver­schwand: auf Nimmer­wiedersehen.

© Leo­pold Fe­der­mair

Drei klei­ne Hin­wei­se...

...falls noch Le­se­stoff be­nö­tigt wer­den soll­te.

Zum ei­nen auf Frank Ja­kub­ziks Er­zäh­lun­gen »In der mitt­le­ren Ebe­ne«. Statt des dä­mo­ni­schen oder geld­gie­ri­gen Bank­sters und/oder CEO steht hier die mitt­le­re An­ge­stell­ten­ebe­ne im Mit­tel­punkt, die Ver­trieb­ler und Kun­den­dienst­ler in ei­nem (fik­ti­ven) mit­tel­stän­di­schen (aber glo­ba­li­sier­ten) Un­ter­neh­men. Ja­kub­zik ge­lingt es den Fal­len der Iro­nie und des Rea­lis­mus zu ent­kom­men. Er be­schreibt nicht, er er­zählt. Viel­leicht ist es auch fast schon ein Ab­ge­sang auf ei­ne Welt, die es in die­ser Form bald nicht mehr ge­ben wird (Stich­wort: »In­du­strie 4.0«). Und so be­kom­men man­che Ge­schich­ten auch ei­ne leich­te Me­lan­cho­lie. An­de­re hin­ge­gen sind fast (alp-)traumhaft. Ja­kub­zik ver­fügt über ei­ne ve­ri­ta­ble sti­li­sti­sche Spann­brei­te. Mehr dar­über hier. Wei­ter­le­sen