Erst wenn du etwas zu verlieren beginnst, entsteht eine Geschichte. Je mehr Verluste, desto mehr Erinnerung, desto mehr Erzählung. Was natürlich bedrückend, lebenshemmend wirken kann.

An keinem Ort habe ich so lange gelebt wie in Hiroshima. Dreizehn Jahre, kein Jubiläum, keine »runde« Zahl – ich hätte mit dieser Erzählung warten können, bis es fünfzehn oder zwanzig Jahre sind. Aber ob ich dann noch hier bin? Ob ich noch lebe? Der Lauf der Geschichte oder des Zufalls will es, daß dieses Datum, das »Gegebene«, mit einem anderen Datum zusammenfällt, einem Ende und Neubeginn. Nach dreißig Jahren geht die Amtszeit des alten Kaisers zu Ende, ein neuer tritt an. Es war die versprochene Friedenszeit (»Heisei«), aber auch eine deprimierende Zeit, eine verewigte Krise ohne große Hoffnung auf eine Lösung; die jungen Leute haben mehr Angst vor der Zukunft als Vertrauen in sie. Vor kurzem wurde Shoko Asahara gehängt, der Guru einer religiösen Sekte, verantwortlich für das Giftgasattentat 1995 in der U‑Bahn von Tokyo, bei dem zwölf Menschen starben und hunderte verletzt wurden. Nach dem Erdbeben und Tsunami in Tohoku, mit der drohenden Atomkatastrophe, hatten wir Angst, das Land könnte zerbrechen. Letztes Jahr ging in unserer Gegend ein schwerer, schier endloser Regen nieder, neben unserem Haus rutschte, vom Gipfel weg, ein ganzer Berghang herunter, die Spuren sind unübersehbar, ich muß mich nur umwenden: Blick durch das Balkonfenster, wie damals, als ich, schlaflos im Morgengrauen, das große Grollen gehört hatte und sofort aufgesprungen war.
Heisei. Reiwa. Geht mich das etwas an? Schwer zu sagen, was die neue Maxime – wenn es eine ist und sein soll – eigentlich bedeutet. Zwei Schriftzeichen aus einem alten japanischen Gedicht, dem Lied von der Pflaumenblüte, die man in Kyoto oder Hiroshima schon kurz nach Neujahr sehen kann, die erste Baumblüte und deshalb besonders herzerfreuend, hoffnungsvoll. Früher stammten die kaiserlichen Maximen aus alten chinesischen Texten, die die Frühzeit der japanischen Kultur prägten. Gut so; eine nationalistische Geste, wie sie das mißtrauische Kommentatorenvolk zu erkennen glaubte (»Japan snubs China at dawn of new imperial era« lautete die Schlagzeile in The Times), kann ich darin nicht sehen. Auch die japanische Hymne ist ja ein recht friedliches Gedicht aus dem zehnten Jahrhundert, ohne Kriegsgetrommel (aux armes citoyens, the bombs bursting in the air…), ohne Prahlerei (das begnadete Volk großer Söhne und, neuerdings, Töchter).

Wir wohnen fern von der Stadt, mehr oder weniger auf dem Land, in einer administrativen Zone, die sich Higashi-Hiroshima nennt, früher eine Handvoll verstreuter Orte von Reisbauern, Sakeproduzenten und Fischern, heute von Universitäten, Forschungszentren und Zulieferfirmen für Matsuda durchsetzt. Immer noch viele Reisfelder, auch Sakebrauereien, bewaldete Berge, weiter unten, in westlicher Richtung, dann Kure mit seiner Werft und den Kriegsschiffen, die die US-Streitkräfte damals nicht bombardierten, sie zogen es vor, ihren »Little Boy« über dichtbesiedeltem Gebiet abzuwerfen. Dorthin, in die Stadtmitte von Hiroshima, komme ich selten, gebildet wird sie vom Friedenspark, über dem am Morgen des 6. August 1945 der große Wolkenpilz aufstieg und der schwarze Regen fiel, und der vom Park abgehenden Einkaufsstraße, die am Parco-Gebäude endet, einem jugendlichen Palast für mehr oder minder schicke Kleider – dahinter beginnt das eher schmuddelige Vergnügungsviertel.
Ich komme selten hin, aber das hat Vorteile, zumindest den, daß ich die Stadt immer wieder wie zum ersten Mal sehe, mit dem aufmerksamen, staunenden Blick. Neulich, am ersten Tag des ersten Jahres der Reiwa-Ära, zu Beginn des Wonnemonats Mai, das Staunen über die Bäume, die Leuchtkraft des hellgrünen Blattwerks der kusunoki, der Kampferbäume (häßlicher Name, der so gar nicht der Sache gleicht), und den Kontrast der dunklen, fast schwarzen Äste, die es tragen. Ein Gespräch über Bäume ist fast ein Verbrechen – an diese Gedichtzeile Bertolt Brechts mußte ich denken, als ich das erste Mal hierherkam, und später immer wieder der Gedanke: Aber es ist kein Verbrechen und schließt auch kein Schweigen ein. Diese Bäume wurden kurz nach der Katastrophe gepflanzt, damit neues Leben entstehe trotz all des Grauens, und die sie gepflanzt haben, sind mit ihnen älter geworden, einige von ihnen, schon gebückt, pflegen sie noch heute, und wenn ich diese alten Männlein und Weiblein sehe, dreizehn Jahre nach meinem ersten Spaziergang hier, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob in zehn, zwanzig Jahren noch jemand kommen wird, um den Boden um die Stämme zu harken. Die Frau, die ich einmal hier in der Nähe, in einem St-Marc-Café, getroffen und befragt habe, 1945 war sie eine Schülerin, die zwischen Trümmern nach ihren Eltern und Geschwistern suchte und verstrahlt wurde, diese Frau wird bald neunzig sein. Nein, ein Gespräch über Bäume ist kein Verbrechen, wie nach Auschwitz weiterhin Gedichte geschrieben wurden, und nicht von Barbaren, und es immer noch ein richtiges Leben im falschen gibt. Gedichte, Gespräche: keine Un‑, sondern Wohltat.
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