Die Kunst des Auf­ge­bens IV

(← III)

Nach­spiel

Da ich mit Dai­ko­ku nun ein­mal ver­traut, wenn nicht so­gar ver­trau­lich ge­wor­den war, konn­te ich nicht um­hin, den Schrein auf­zu­su­chen, der sei­nen Na­men trug. Er war mir auf der Land­kar­te auf­ge­fal­len, lag noch in un­se­rer Re­gi­on, aber ziem­lich weit weg von mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung. Ich konn­te ihn nur mit der Ei­sen­bahn er­rei­chen, stieg am Haupt­bahn­hof von Hi­ro­shi­ma in ei­nen Wag­gon der mir recht ver­trau­ten Ka­be-Li­nie um.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens IV – © Leopold Federmair

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens IV – © Leo­pold Fe­der­mair

Der Ort selbst hieß Bai­rin, al­so Pflau­men­hain; noch ein Grund für mich, hin­zu­fah­ren. Ich stieg an ei­nem wah­ren Pro­vinz­bahn­hof aus, kaum mehr als ei­ne Hal­te­stel­le, mit We­gerl ne­ben dem ein­zi­gen Ge­leis, das der Bahn­steig für ein paar Me­ter in zwei ga­bel­te. Da­bei wur­de der Raum jen­seits des Ge­lei­ses, stadt­sei­tig, von ei­nem weit­läu­fi­gen Ein­kaufs­zen­trum mit den üb­li­chen fen­ster­lo­sen Kä­sten und Ku­ben ein­ge­nom­men, wäh­rend ge­gen­über die be­wal­de­ten Ber­ge als­bald steil an­stie­gen. Auf der Kar­te hat­te ich er­kannt, daß ich ein Stück­weit ge­gen die Fahrt­rich­tung zu ge­hen hat­te, und war über­rascht, als der Schrein, bes­ser: das Schrein­chen schon nach we­ni­gen Schrit­ten vor mir auf­tauch­te. Be­drängt von ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus, zwei da­vor ge­park­ten Au­tos und lau­ter Ra­dio­mu­sik, schien es sich dünn zu ma­chen wie je­mand, der den Bauch ein­zieht – ein Ein­druck, den die vie­len klei­nen, an Obe­lis­ken er­in­nern­den Schrift­säul­chen, die ihn um­frie­de­ten, noch ver­stärk­te. Ich ging ein‑, zwei­mal um ihn her­um. Von Dai­ko­ku kei­ne Spur, über­haupt kei­ne ein­zi­ge Sta­tue, nur die üb­li­che Lee­re im Ta­ber­na­kel. Der Kra­nich im Gie­bel­feld, die Flü­gel über Wel­len oder Wol­ken aus­ge­brei­tet, war die ein­zi­ge Ver­bin­dung zu mei­ner Be­geg­nung mit der lu­sti­gen Gott­heit in Ogu­ra. Im­mer­hin!

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Chri­sti­an Kracht: Eu­ro­trash

Christian Kracht: Eurotrash

Chri­sti­an Kracht:
Eu­ro­trash

Ich ge­ste­he, dass ich nach der Pres­se­mit­tei­lung des Ver­lags vom De­zem­ber letz­ten Jah­res, in der an­ge­kün­digt wur­de, dass Chri­sti­an Kracht mit »Eu­ro­trash« ei­ne Fort­set­zung von »Fa­ser­land« ge­schrie­ben ha­be und die ei­ni­ge Feuil­le­ton-Re­dak­teu­re prak­tisch eins-zu-eins über­nom­men hat­ten, »Fa­ser­land« noch ein­mal le­sen muss­te. Ich hat­te von der Lek­tü­re nichts mehr be­hal­ten, was, wie vie­le glau­ben, an mir lie­gen dürf­te.

In »Fa­ser­land« er­zähl­te 1995 end­lich ein­mal kein Zu­kurz­ge­kom­me­ner, hier gab es vor­der­grün­dig kei­ne ge­sell­schaft­li­chen Pro­ble­me. Der na­men­lo­se Ich-Er­zäh­ler, Mitte/Ende Zwan­zig, war oh­ne Geld­sor­gen, stamm­te aus wohl­ha­ben­dem Haus und de­fi­nier­te sich über ei­nen ve­ri­ta­blen Mar­ken­fe­ti­schis­mus, der zur Re­fe­renz­grö­ße für sei­nen Zu­gang zur Welt und zur Ka­te­go­ri­sie­rung der Mit­men­schen wur­de und im Buch in­fla­tio­när aus­ge­drückt wur­de. Olaf Grabi­en­ski hat­te über 70 Mar­ken- und Pro­dukt­be­zeich­nun­gen ge­fun­den. Man nahm Dro­gen, fei­er­te Par­tys und blieb streng un­ter Sei­nes­glei­chen. Al­les nur, um die Welt her­um ab­zu­weh­ren. Da­bei wur­de un­un­ter­bro­chen ge­kotzt, was nicht an den Pro­le­ten oder Rent­nern lag, die man so hass­te. »Fa­ser­land« war an­ge­legt als Road­no­vel, be­gin­nend auf Sylt und en­dend in Zü­rich. Von na­he­zu je­der Sta­ti­on nahm der Er­zäh­ler ei­ne Art Sou­ve­nir mit: Mal ein Man­tel von ei­nem Freund, ein an­der­mal gleich das Au­to.

»Fa­ser­land« gilt in­zwi­schen längst als Kult­buch, weil es die Er­in­ne­rung der Ba­by­boo­mer an die Zei­ten, als es »Prinz«, »Wie­ner« und »Tem­po« gab, man im In­ter­re­gio durch Deutsch­land fah­ren konn­te und das Au­to­te­le­fon ein Sta­tus­sym­bol dar­stell­te, be­för­dert. Li­te­ra­risch ent­deck­te man ver­blüf­fen­de An­lei­hen bei Bret Ea­ston El­lis’ »Un­ter Null«, wo­bei El­lis al­ler­dings die Fei­er­bie­ster der Jeu­nesse do­rée noch ei­ne Stu­fe aso­zia­ler schil­der­te als Kracht. An­de­re frag­ten, ob es nicht eher ei­ne Tra­di­ti­on der Ro­man­ti­ker war, die da be­schwo­ren wur­de, vom Tau­ge­nichts à la Ei­chen­dorff? Oder ist der Er­zäh­ler gar ein Wie­der­gän­ger von Hans Cas­torp? Wem das zu weit ging, fand den »wohl­stands­ver­wahr­lo­ster« Au­ti­sten oder Nar­ziss­ten. Im neu­en Ro­man »Eu­ro­trash« macht sich der Ich-Er­zäh­ler Chri­sti­an Kracht über die­se Form der Re­zep­ti­on lu­stig und weist de­zent dar­auf hin, dass er zwar der Au­tor von »Fa­ser­land« war, aber nicht so ein­fach iden­tisch mit dem Ich-Er­zäh­ler ist. Ei­gent­lich ei­ne Ba­na­li­tät, aber was tut man nicht al­les.

Den gan­zen Bei­trag »Das Buch der Stun­de?« hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Die Kunst des Auf­ge­bens III

(← II)

Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

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Mar­tin Mo­se­bach: Krass

Martin Mosebach: Krass

Mar­tin Mo­se­bach: Krass

Der neue Ro­man von Mar­tin Mo­se­bach trägt den Ti­tel »Krass«. Ist der be­hut­sa­me Sprach­ar­tist jetzt in den Ju­gend­jar­gon ab­ge­drif­tet? Nein, man braucht sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen: »Krass« ist der Na­me sei­nes Prot­ago­ni­sten, der Haupt­fi­gur des Ro­mans (erst spä­ter fragt man sich, ob er wirk­lich die Haupt­fi­gur ist, aber ge­mach). Wie­der so ei­ne Mosebach’sche Na­mens­schöp­fung, die wo­mög­lich viel, viel­leicht aber auch gar nichts be­deu­tet (man kann es nicht las­sen, Nach­for­schun­gen an­zu­stel­len). Ralph (ph !) Krass, wie man spä­ter er­fährt Jahr­gang 1935, wird als »furcht­erre­gen­der«, mas­si­ger, ei­gen­schafts­lo­ser, eher wort­kar­ger Mann be­schrie­ben, der mit ei­nem schier un­end­lich gro­ßen (Bar-)Vermögen und da­mit ent­spre­chen­der Au­ra aus­ge­stat­tet zu sein scheint. Wei­te­re Prot­ago­ni­sten des Ro­mans: Dr. Mat­thi­as Jün­gel, Jahr­gang 1955, zu Be­ginn des Ro­mans – man schreibt Ok­to­ber 1988 und ist in Nea­pel – Fak­to­tum von Krass. So­dann das Ärz­te­ehe­paar Mon­sieur und Ma­dame Lecœur-Jouët. Der pri­vat ger­ne split­ter­nackt her­um­lau­fen­de stäm­mi­ge, be­haar­te Herr Lev­ci­us nebst Ge­fähr­tin Frau Ros­lov­ski. Und der »Ca­va­lie­re« Dot­to­re Riz­zi mit sei­ner mol­li­gen, Düs­sel­dor­fer Ak­zent spre­chen­den Be­glei­tung, die der Ein­fach­heit ein­fach »Frau Riz­zi« ge­nannt wird. Jün­gel ist nicht nur Ar­beits­bie­ne, Wunsch­er­fül­ler und Geld­kof­fer­trä­ger, son­dern auch Über­set­zer, der zwi­schen deutsch, ita­lie­nisch und fran­zö­sisch um­schal­ten muss. Zu al­lem Über­fluss soll er ei­ne Vil­la für Krass und sei­ne Frau be­sor­gen.

Den gan­zen Bei­trag »Ein opu­len­tes Epos« hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Die Kunst des Auf­ge­bens II

(← I)

Den Ogu­ra-Schrein woll­te ich noch nicht auf­ge­ben. Es gab, laut Kar­te, die ich dies­mal wohl­weis­lich ein­steck­te, noch ei­nen an­de­ren Zu­brin­ger zu die­ser schnur­ge­ra­den, am En­de nur noch strich­lier­ten Stra­ße. Ich fuhr al­so los, lern­te wie­der ein paar Ort­schaf­ten ken­nen, kam an ei­nem ur­alten mäch­ti­gen Block­haus vor­bei, das vor vie­len Jah­ren als Ge­mischt­wa­ren­la­den ge­dient ha­ben muß­te, und sah we­nig spä­ter die lang­ge­zo­ge­nen fla­chen Ge­bäu­de aus dem­sel­ben dunk­len Holz, das Ge­län­de um­ge­ben von Sta­chel­draht, hin­ter dem Haupt­tor ein Sol­dat. Wie sel­ten be­geg­ne ich hier Sol­da­ten, fast er­freut es mein pa­zi­fi­sti­sches Herz. Nun, das ja­pa­ni­sche Mi­li­tär ist fried­lie­bend, es dient ge­mäß der Ver­fas­sung von 1947 nur der Selbst­ver­tei­di­gung. Die Ka­ser­ne hat­te den letz­ten Krieg heil über­stan­den, drei­ßig Ki­lo­me­ter ent­fernt war ei­ne Atom­bom­be ex­plo­diert, ob die Krie­ger es da­mals, am 6. Au­gust, über­haupt mit­be­ka­men?

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens II – © Leo­pold Fe­der­mair

Vom Ogu­ra-Schrein je­doch kei­ne Spur. Ich fuhr ei­nen Ki­lo­me­ter weit zu­rück, nahm aufs Ge­ra­te­wohl ei­nen Reis­feld­weg, tam­bo­mic­hi, kam an ei­ner Volks­schu­le vor­bei und dann wirk­lich auf die er­sehn­te schnur­ge­ra­de, recht brei­te, nach zwei, drei Ki­lo­me­tern nicht mehr asphal­tier­te, durch Kie­fern­wäl­der schnei­den­de Stra­ße, die zwei­fel­los von den Sol­da­ten ge­baut wor­den war. Wei­ter drü­ben, in süd­west­li­cher Rich­tung, hat­te ich letz­tes Jahr ein ähn­li­ches Ge­biet durch­quert. Da­mals war ich ei­nem ein­sa­men Golf­spie­ler be­geg­net, jetzt war es ein Mo­to­cross­fah­rer, den ich ei­ne Zeit­lang vor mir her­rat­tern sah und bald nur noch hör­te, wie er sich auf Sei­ten­stra­ßen ent­fern­te, wie­der nä­her­kam, end­lich doch ent­fern­te. Der Bo­den war leh­mig, zu­erst gelb, dann braun, schließ­lich rot, und ich dach­te wie­der ein­mal an das Land der Gua­raní, an die ro­te Er­de und die – bis hin zur Haupt­stadt und dem An­we­sen von Dok­tor Fran­cia, dem Dik­ta­tor (dem Au­gu­sto Roa Ba­stos ein na­tur­ge­mäß am­bi­va­len­tes Denk­mal ge­setzt hat) – recht be­schei­de­nen, zu­rück­hal­ten­den Sied­lun­gen (auch die Haupt­stadt ein Dorf), die ich wohl nie mehr wie­der­se­hen wer­de.

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Ge­or­ges Si­me­non: Aus den Ak­ten der Agence O

Georges Simenon: Aus den Akten der Agence O

Ge­or­ges Si­me­non: Aus den Ak­ten der Agence O

Jo­seph Tor­rence, Ex-In­spek­tor der Pa­ri­ser Kri­mi­nal­po­li­zei und ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­ter von Kom­mis­sar Mai­gret, Mit­te 40, »ein un­be­küm­mer­ter Riese…sehr ge­pflegt und gut ge­nährt« ist jetzt der Chef ei­ner der »be­rühm­te­sten Pri­vat­de­tek­tei­en der Welt«, der »Agence O«. Ihm zur Sei­te steht der jun­ge, som­mer­spros­si­ge Rot­schopf Émi­le, der als Fo­to­graf fun­giert, der Bü­ro­die­ner und ehe­ma­li­ge Ta­schen­dieb Bar­bet so­wie die Se­kre­tä­rin Ma­de­moi­sel­le Ber­the. Das Bü­ro liegt fast ein biss­chen kon­spi­ra­tiv ge­gen­über von ei­nem Mu­si­cal-Thea­ter, über dem Fri­seur­sa­lon »Chez Adol­phe« in der Ci­té Ber­gè­re in Pa­ris.

Ge­or­ges Si­me­non hat bin­nen sehr kur­zer Zeit vier­zehn Er­zäh­lun­gen über die »Agence O« ver­fasst, die 1943 bei Gal­li­mard ver­öf­fent­licht wur­den. 1968 wur­den für das fran­zö­si­sche Fern­se­hen zwölf Epi­so­den der »Agence O« ver­filmt (Re­gie führ­te Si­me­nons Sohn Marc), die 1971 in der ARD un­ter dem Na­men »Agen­tur Null« aus­ge­strahlt wur­den.

Sechs Er­zäh­lun­gen sind jetzt un­ter dem Ti­tel »Aus den Ak­ten der Agence O« im Kam­pa-Ver­lag auf­ge­legt wor­den, wo­bei nur »Der Mann hin­ter dem Spie­gel« von Sa­bi­ne Schmidt über­setzt in ei­ner in­zwi­schen ver­grif­fe­nen An­tho­lo­gie be­reits er­schie­nen war. Die an­de­ren fünf Er­zäh­lun­gen, von Su­san­ne Röckel über­tra­gen, gibt es zum er­sten Mal in deut­scher Spra­che. Die wei­te­ren acht Er­zäh­lun­gen mit Aben­teu­ern der »Agence O« sol­len zu ei­nem spä­te­ren Zeit­punkt er­schei­nen. Wei­ter­le­sen

Die Kunst des Auf­ge­bens I

Auf der Land­kar­te war mir ein Shin­to-Schrein auf­ge­fal­len, er soll­te sich am En­de ei­ner lan­gen, schnur­ge­ra­de west­wärts füh­ren­den Stra­ße be­fin­den, das letz­te Stück auf der Kar­te nur noch strich­liert, was im­mer das hei­ßen moch­te. Ein Fuß­weg, ein Pfad? Ein We­gerl?

In alt­ver­trau­ter Ar­ro­ganz ver­gaß ich, die Kar­te mit­zu­neh­men, und freu­te mich auch noch dar­über. Er­stens glaub­te ich mir den Weg ge­nau ein­ge­prägt zu ha­ben, zwei­tens will ich mich schon ein Le­ben lang in der Kunst des Ver­ir­rens üben. Nach mei­ner Ein­schät­zung und Er­in­ne­rung muß­te der Fahr­weg von der Ufer­stra­ße ei­nes mir gut be­kann­ten Stau­sees ab­ge­hen, un­weit von dem Spiel­platz, den ich mit mei­ner Toch­ter manch­mal auf­such­te, als sie noch klein war und wei­ter drü­ben am Turn­un­ter­richt ei­ner be­tag­ten ehe­ma­li­gen Spit­zen­sport­le­rin teil­nahm. Vor ei­nem Kul­tur­zen­trum war ei­ne In­for­ma­ti­ons­ta­fel, die Wan­der­we­ge vor­schlug: 1,2 Ki­lo­me­ter lang der ei­ne, 2,2 der an­de­re, lä­cher­li­che Strecken für ei­nen er­fah­re­nen Pil­ger wie mich, au­ßer­dem kann­te ich die Ge­gend jen­seits von den Seen wie mei­ne We­sten­ta­sche. Die an­de­re Sei­te, wo die Berg­hän­ge steil an­stie­gen, kann­te ich kaum.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens I – © Leo­pold Fe­der­mair

Auf der ab­zwei­gen­den Stra­ße stieß ich nach kur­zem auf ei­ne Ab­sper­rung, dort ließ ich mein Fahr­rad ste­hen. Gel­bes, manns­ho­hes Schilf­gras er­ober­te von den Rän­dern her die Fahr­bahn; Fahr­zeu­ge ka­men hier sehr sel­ten durch. Nach ei­ner Wei­le fiel mir ein Schild in die Au­gen, das die Strecke als Par­cours für Wald­läu­fer aus­wies. We­nig spä­ter kam mir ein Mann ent­ge­gen, oh­ne Sport­klei­dung, auch kein Wan­de­rer, kei­ner wie ich. Wahr­schein­lich hat­te er bei den Was­ser­re­ser­voirs zu tun ge­habt, die wei­ter oben im Wald ver­bor­gen wa­ren; gro­ße, zy­lin­der­för­mi­ge Be­häl­ter die der Ver­sor­gung der gan­zen Ort­schaft hier dien­ten. In der Kur­ve, die an dem Are­al vor­bei­führ­te, spür­te ich es schon: Hier war et­was pas­siert, der Berg – nicht zer­bro­chen, aber si­cher be­schä­digt. Baum­stäm­me la­gen her­um, sie wa­ren zu­sam­men mit Fels­brocken das Tal her­un­ter­ge­kom­men, wo nur noch ein schma­ler, stei­ler Weg berg­an führ­te, wenn es denn ein Weg war; wahr­schein­lich nicht, nur ein Ab­weg; nach ei­ner Wei­le dreh­te ich um. Als die Was­ser­zy­lin­der un­ter mir auf­tauch­ten, be­merk­te ich, daß die Stra­ße in die an­de­re Rich­tung zeig­te. Ich stieg über Baum­stäm­me, trat nä­her und sah jetzt auch schon die Schlucht, die die Was­ser­mas­sen ge­ris­sen hat­ten, sah die dün­ne schwärz­li­che Asphalt­decke, dar­un­ter hell­brau­ne Er­de. Die La­wi­ne war in der weit­ge­zo­ge­nen Kur­ve ab­ge­gan­gen, die die Stra­ße einst hier be­schrie­ben hat­te, in­dem sie sich an das Ge­län­de an­ge­schmiegt hat­te; jetzt war sie un­pas­sier­bar, die an­de­re Sei­te drei­ßig, vier­zig Me­ter ent­fernt. Wei­ter­le­sen

Ja­kob Nol­te: Kur­zes Buch über To­bi­as

Jakob Nolte: Kurzes Buch über Tobias

Ja­kob Nol­te: Kur­zes Buch über To­bi­as

So kurz ist das »Kur­ze Buch über To­bi­as« gar nicht. Es sind mehr als 230 Sei­ten, die Ja­kob Nol­te da aus per­so­na­ler Per­spek­ti­ve über ei­nen To­bi­as Becker aus Nie­der­sach­sen er­zählt. Man er­in­nert sich noch an die De­ka­log-Se­rie des pol­ni­schen Re­gis­seurs Krzy­sz­tof Kieś­low­ski aus den 1980er Jah­ren, de­ren ein­zel­ne Epi­so­den eben­falls als »Kur­zer Film…« be­ti­telt wur­den. Und tat­säch­lich fin­den sich in die­sem To­bi­as-Buch nicht nur un­ter­schwel­lig re­li­giö­se Be­zü­ge.

Aber die­se gibt es erst nach und nach. To­bi­as lebt jetzt in Ber­lin, macht ein Frei­wil­li­ges So­zia­les Jahr in Pots­dam, spielt ger­ne Tisch­ten­nis, hat zu Be­ginn 48 Fen­ster auf sei­nem Han­dy of­fen (für je­des Ka­pi­tel die­ses Bu­ches ei­nes!) und will Schrift­stel­ler wer­den. Er be­legt ei­nen Li­te­ra­tur­stu­di­en­gang in Hil­des­heim was ihm nicht leicht fällt, da er sei­nen Freun­des­kreis auf­ge­ben muss und vor al­lem sei­ne Freun­din Ali­da Shah, die ir­gend­wann ver­misst wird. Kurz wähnt man sich in ei­ner Kri­mi­nal­ge­schich­te, aber es geht hei­ter wei­ter mit To­bi­as’ Stu­den­ten­zeit als an­ge­hen­der Li­te­rat nebst den üb­li­chen stu­den­ti­schen Ver­wick­lun­gen, den Po­si­tio­nie­run­gen ir­gend­wo zwi­schen But­ler, Bour­dieu und Pros­ami­nia­tu­ren »ir­gend­ei­nes Uwe, Jens oder Hol­ger«.

Den gan­zen Bei­trag »Amü­san­te Pi­rou­et­ten« hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.