Nai­vi­tät, Dumm­heit oder Faul­heit?

Wenn man in den letz­ten Wo­chen die Be­richt­erstat­tung ver­folgt hat, dann kann man nur noch mit dem Kopf schüt­teln. Da ist von ei­ner Kri­se der Au­to­mo­bil­in­du­strie die Re­de, die an­geb­lich al­les bis­her Ge­se­he­ne in den Schat­ten stellt. Ein ähn­li­ches Vo­ka­bu­lar hat­te man zwar im ver­gan­ge­nen Jahr schon an­ge­stimmt – frei­lich aus an­de­ren Grün­den (da­mals war es die Mehr­wert­steu­er­erhö­hung in Deutsch­land). Ein »Re­kord­jahr« war es dann doch ir­gend­wie.

Merk­mal solch alar­mi­sti­scher Pro­sa ist in der Re­gel, dass die Be­stä­ti­gung mit Fak­ten bzw. ei­ne halb­wegs neu­tra­le Ein­ord­nung des Phä­no­mens un­ter­bleibt. Wenn be­haup­tet wird, die Nach­fra­ge nach Au­to­mo­bi­len bre­che dra­stisch ein, bleibt un­be­rück­sich­tigt, auf­grund wel­cher (fal­scher) Pro­gno­sen über die Ab­nah­me die Pro­duk­ti­on be­ruh­te und wel­ches Ni­veau als Ba­sis für den »Ein­bruch« gilt. Tat­säch­lich war man An­fang des Jah­res von ei­nem un­ver­än­der­ten Nach­fra­ge­boom in Eu­ro­pa aus­ge­gan­gen. Das hat zu teil­wei­se aber­wit­zi­gen Über­ka­pa­zi­tä­ten ge­führt.
Wei­ter­le­sen

Angst und ban­ge

Der Schock saß sicht­bar tief. Trä­nen flos­sen an die­sem 17. März 2005. Hei­de Si­mo­nis war zum vier­ten Mal in der Wahl zum schles­wig-hol­stei­ni­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten ge­scheitert. Min­de­stens ei­ne Stim­me aus der fra­gi­len Ko­ali­ti­on SPD/Grüne/SSW hat­te ge­fehlt. Zum vier­ten Mal.

Was für ei­ne Em­pö­rungs­ma­schi­ne­rie da los­ge­tre­ten wur­de! Der da­ma­li­ge SPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de Hay be­zeich­ne­te den/die »Abweichler/in« öf­fent­lich als »Schwein«. Ei­ne Rü­ge oder Zu­recht­wei­sung für die­se Ent­glei­sung gab es na­tür­lich nicht. Wei­ter­le­sen

Bläs­se und Jagd­sze­nen

Zum 9. No­vem­ber ei­ne Er­zäh­lung von Durs Grün­bein in der ak­tu­el­len Zeit; an­geb­lich au­to­bio­gra­fisch. Man wun­dert sich über die doch sehr höl­zer­ne, un­in­spi­rier­te und blei­er­ne Spra­che. Und so vol­ler Kli­schees. Ei­ne merk­wür­di­ge Bläs­se schlägt ei­nem da ent­ge­gen, die auch nicht mit La­ko­nie ver­wech­selt wer­den kann. Selbst die an­fangs so pe­ne­tran­te Selbst­in­sze­nie­rung des Wi­der­stän­di­gen ist nur hoh­les Wort­ge­klin­gel. Ich muss an ‘Schul­auf­satz’ den­ken.
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Ro­ger Wil­lem­sen: Der Knacks

Roger Willemsen: Der Knacks

Ro­ger Wil­lem­sen: Der Knacks

Der Ti­tel klingt ei­gent­lich harm­los: »Der Knacks«. Und ob­wohl Ro­ger Wil­lem­sen gleich am An­fang vom Ster­ben und Tod sei­nes Va­ters er­zählt (er ist zu die­sem Zeit­punkt 15 Jah­re alt), ent­steht zu­nächst der Ein­druck ei­ner Art feuil­le­to­ni­stisch-apho­ri­sti­schen Phä­no­me­no­lo­gie. Die Sen­ten­zen sind klin­gend, manch­mal so­gar lu­zi­de; ge­le­gent­lich fast zu schön. Aber im­mer wei­ter wird man in den Sog des Phä­no­mens des Knacks ge­zo­gen.

Zu­nächst gibt es ei­ni­ge De­fi­ni­ti­ons­ver­su­che. Im Sog der Ver­lu­ste ist er [der Knacks] der Sog heisst es am An­fang ein we­nig rät­sel­haft. Oder: Der Knacks ist ein Schub, der erst im Rück­blick wirkt. Un­klar bleibt (zu­nächst), wel­cher Art der Schub ist. Et­was trennt sich, er­mü­det, ver­liert Far­be, schei­tert, gibt auf. Wil­lem­sen will den Bruch vom Knacks ab­gren­zen. Der Knacks tritt eben nicht an die Ober­flä­che und wird nicht im Schock ge­bo­ren. Wäh­rend die Be­we­gung des Schocks…vor al­lem in die Tie­fe geht, zeigt sich die des Knacks in [der] Flä­che. Und spä­ter der Un­ter­schied zwi­schen Knacks und Trau­ma: Wäh­rend das trau­ma­ti­sche Er­leb­nis der Nar­be ver­gleich­bar ist, er­scheint der Knacks als Fal­te…, die an kei­nem Tag ent­stan­den, in kei­ner Si­tua­ti­on be­grün­det ist und sich doch durch­setzt als die Si­gna­tur der Zeit, all­mäh­lich. Der Knacks, die­se Dis­kon­ti­nui­tät ei­ner Per­son, ist nicht mo­no­kau­sal, er pas­siert nie auf­grund ei­nes ein­zi­gen Er­eig­nis­ses.

Er­mü­dungs­bruch

Nach ei­ni­gen Um­krei­sun­gen, die nicht im­mer tref­fen (Strin­genz ist Wil­lem­sens Stär­ke nicht), fällt nach ei­nem Vier­tel des Bu­ches in ei­nem klei­nen Ex­kurs in die Welt der Tech­nik das ent­schei­den­de Wort. Es lau­tet Er­mü­dungs­bruch. Der Knacks ist ein Er­mü­dungs­bruch, der sich pro­zes­su­al in das Le­ben ein­ge­fres­sen hat. Im selbst­be­wusst wer­den­den Knacks er­scheint nicht das Le­ben, das ge­führt wird, son­dern je­nes, das führt. Er ist eben mehr als nur ei­ne Zä­sur. Und er ist ir­rever­si­bel und grenzt sich da­mit vom trau­ma­ti­schen Er­leb­nis ab. Der Knacks ist nicht be­han­del­bar; die Psy­cho­ana­ly­se muss hier ver­sa­gen. Ein Ex­or­zis­mus ist nicht mög­lich. Jetzt däm­mert dem Le­ser: Hier geht es um mehr als ein Po­sie­ren im Welt­schmerz-Pa­thos oder ei­nen locke­ren Es­say ei­nes mid­life-kri­seln­den Mitt­fünf­zi­gers.

Manch­mal wi­der­spricht sich Wil­lem­sen al­ler­dings (ge­wollt?). Et­wa wenn er, ein biss­chen lau­nig, vom be­gin­nen­den Al­ter spricht: Und dann kommt der Tag, an dem man sich das Al­ter vor­stel­len kann, sei­ne Des­il­lu­si­on, sei­ne Bit­ter­keit, den be­grenz­ten Ak­ti­ons­ra­di­us. An dem Tag be­ginnt man wirk­lich zu al­tern. Der Mensch in ei­ner Flucht von er­sten Ta­gen: Der Tag, an dem man ein Me­di­ka­ment ver­schrie­ben be­kommt, das man bis ans En­de sei­nes Le­bens neh­men muss; der Tag, an dem man das Ge­län­der braucht, um ei­ne Trep­pe ab­wärts zu steigen…der Tag, an dem man im Zug den Kof­fer nicht mehr al­lein auf die Ab­la­ge bekommt…Dann kommt der Tag, an dem man »zu alt« für et­was ge­wor­den ist, und es ab jetzt dau­ernd für ir­gend­et­was sein wird… An sol­chen Stel­len, die wun­der­bar zi­tier­bar sind (be­son­ders der eben­falls auf das Al­ter ge­münz­te Satz Man wird klü­ger, aber düm­mer), ver­liert der Au­tor dann letzt­lich sei­nen Ge­gen­stand zeit­wei­lig aus dem Au­ge. Denn der Knacks, so Wil­lem­sen vor­her, er­scheint im­mer erst re­tro­spek­tiv und als Pro­zess. Die ge­schil­der­ten Ein­schnit­te sind eher Zä­su­ren – in der Re­gel ei­nem Da­tum zu­zu­ord­nen, di­rekt er­lebt und nicht erst er­in­nert.

Der Knacks ist kom­pri­mier­te Zeit. Er bahnt sich an, tritt aus der La­tenz ins Ma­ni­fe­ste, und selbst der au­gen­blick­li­che Schrecken ei­nes Er­eig­nis­ses hängt nicht so sehr mit sei­nem Ein­tre­ten als viel­mehr mit sei­ner An­bah­nung zu­sam­men. Auf dem Kri­stal­li­sa­ti­ons­punkt er­scheint der Knacks. Und na­tür­lich hat es mit der Be­schleu­ni­gung zu tun: Der Knacks…ist et­was, das im Zei­chen ei­ner be­schleu­nig­ten Zeit, ei­ner, die Be­we­gung meint, nicht er­schei­nen kann. Man sieht aus dem Fen­ster und er­kennt, schwim­mend auf der Schei­be, sich selbst, sieht sich im Schrecken: das al­ler Ge­schwin­dig­keit ent­zo­ge­ne Spie­gel­bild des­sen, der man nie sein woll­te. Die Be­schleu­ni­gung ver­zö­gert nur die­sen Blick auf sich sel­ber und in der Ge­schwin­dig­keit ver­wischt der Knacks sei­ne Spur. Und schon Ca­sa­no­va wuss­te, wie man das Le­ben »be­täub­te«, in dem sein Ver­strei­chen durch das Ver­gnü­gen un­merk­lich mach­te.

Gro­sse Wor­te und klei­ne Mi­nia­tu­ren.

Wil­lem­sen kennt so­wohl die gro­sse Ge­ste des auf­trump­fen­den Ge­sell­schafts­kri­ti­kers als auch die Mi­nia­tur des fei­nen Be­ob­ach­ters. Sein Lob­lied auf die Be­sitz­lo­sig­keit wirkt arg wohl­feil. Und wenn er die Knacks-Me­ta­pho­rik auf die Ge­sell­schaft, die Me­di­en, Selbst­mör­der, Sport­ler, Por­no­dar­stel­ler, die Stadt­ar­chi­tek­tur und Welt­raum­fah­rer an­ge­wen­det (oder auch ver­wirft), tritt er manch­mal mit arg un­dif­fe­ren­zie­ren­dem Ge­stus auf. Et­wa wenn er pau­schal meint, Astro­nau­ten und Kos­mo­nau­ten sei­en nach ih­rem Raum­flug wun­der­lich, spi­ri­tu­ell, un­zu­gäng­lich ge­wor­den, weil der An­blick der Schöpfung…ihr Knacks ge­wor­den ist. Oder wenn er Hei­mat (in an­de­rem Zu­sam­men­hang) im­mer als In­be­griff des Ver­lo­re­nen sieht. Ge­le­gent­lich scheut er auch vor dem Pa­thos nicht zu­rück, wenn er po­stu­liert, dass dort wo frü­her die See­le saß, heu­te der Knacks zu Hau­se ist. Oder es wird ein biss­chen kryp­tisch: Im Knacks…verdichten sich die Er­eig­nis­se, die nicht vor­han­den sind.

Zar­ter und ein­gäng­li­cher sind da die Split­ter, Mi­nia­tu­ren, Mut­ma­ßun­gen und An­dich­tun­gen. Das Krei­sen­de um und mit dem Knacks wird epi­so­disch und gleich­nis­haft, wie zum Bei­spiel hier:

»Duf­te nicht so«, sagt der lang­jäh­ri­ge Freund, als die Freun­din aus­geh­fer­tig aus dem Ba­de­zim­mer kommt.
»Es sind Lock­stof­fe«, sagt sie ko­kett.
»Es ist ei­ne Über­do­sis an che­mi­schen In­for­ma­tio­nen!«
Als sie ein Jahr spä­ter ge­trennt sind, kann sie sich nicht mehr er­in­nern, wann und war­um ih­re Tren­nung be­gann. Aber sie duf­tet nicht mehr.


Und es wird auch mit gro­ssen und wuch­ti­gen rhe­to­ri­schen Mit­teln Kul­tur­kri­tik auf höch­stem Ni­veau prak­ti­ziert. Man ist er­staunt, über wel­che Be­ob­ach­tungs- und Ur­teils­ga­be Wil­lem­sen ver­fügt, der im Ge­sicht ei­ner Frau wäh­rend ei­ner Bahn­rei­se nicht nur ih­re ak­tu­el­le Le­bens­la­ge be­schrei­ben kann, son­dern auch ziel­si­cher den Knacks zu or­ten ver­mag. Lässt sich der Le­ser aber auf die­se li­te­ra­ri­sche All­wis­sen­heit ein, so kommt er in den Ge­nuss sehr an­re­gen­der und oft ge­nug ver­gnüg­li­cher Aper­çus.

Wil­lem­sen er­kennt da­bei durch­aus das Di­lem­ma des in der Mo­der­ne le­ben­den Men­schen. Er soll ein In­di­vi­du­um sein, sich aber nicht un­ter­schei­den. Er ent­deckt, dass der grö­sse­re Scha­den in der Ge­gen­wart wohl nicht von dem aus[geht], was Men­schen tun, son­dern was sie ge­sche­hen las­sen. Aber auch Glück oder Er­folg blei­ben schal. Man schei­tert vor dem Er­folg, er­lei­det in ihm sei­ne Nie­der­la­ge, viel­leicht, weil es kein An­kom­men gibt in der Um­ar­mung. Was bleibt ist He­do­nis­mus oder Zy­nis­mus oder De­pres­si­on und schliess­lich Selbst­mord, denn ge­gen die Ero­sio­nen der Auf­klä­rungs- und Bil­dungs­ideen, die den »neu­en Men­schen« such­ten, setzt die Ge­gen­wart den mul­ti­plen, den iro­ni­schen Cha­rak­ter oder den schie­ren Men­schen des Wer­be­bil­des, der in je­dem Au­gen­blick auf der Hö­he sei­ner Voll­kom­men­heit exi­stiert. Es wird spä­ter erst klar, wie ernst es dem Au­tor da­mit ist.

Der Knacks, ver­kannt zu sein.

Schein­bar selbst­kri­tisch wird auch ver­merkt: Das Schrei­ben bie­tet die be­ste Mög­lich­keit, sich der ei­ge­nen Dumm­heit zu ver­ge­wis­sern. Dau­ernd stösst der Schrei­ben­de auf Din­ge, die er nicht sein, nicht se­hen, nicht auf den Be­griff brin­gen kann. Es gibt ei­nen Mo­ment des Er­wa­chens in die­ser Er­fah­rung, den Au­gen­blick, in dem sich die­ser Schrei­ben­de sei­nes Schei­terns ver­ge­wis­sert und vom miss­glück­ten Satz zum schad­haf­ten Werk, zur man­geln­den Per­son, zum nicht­ge­führ­ten Le­ben kommt. Der Knacks des Au­tors, so Wil­lem­sen: ver­kannt zu sein. (Ob man das so ge­nau wis­sen will?)

In ih­rer Schön­heit zeigt die­se Sen­tenz al­ler­dings ex­em­pla­risch, wor­in manch­mal das Pro­blem des Bu­ches, spe­zi­ell die­ser Stel­len, liegt: Wil­lem­sen schreibt dies so, als möch­te er Wi­der­spruch pro­vo­zie­ren. Wie al­le Me­lan­cho­li­ker hofft er auf den ret­ten­den Ein­spruch, die zün­den­de Wi­der­le­gung, die flam­men­de Ge­gen­re­de – was aber un­ter­bleibt. Plötz­lich er­schei­nen all die li­te­ra­ri­schen Zeu­gen, mit de­nen sich Wil­lem­sen um­gibt wie Ver­ge­wis­se­run­gen der ei­ge­nen Ver­sehrt­heit: na­tür­lich Scott Fitz­ge­rald (»The Crack-Up«), aber auch Jo­sef Roth (»Flucht oh­ne En­de«), Jo­seph Con­rad (»Schat­ten­li­nie«) und Franz Kaf­ka (die Ge­gen­sei­te, bei­spiels­wei­se Ten­nes­see Wil­liams, be­kam kei­ne La­dung; manch­mal kann es ein Feh­ler sein, nur Freun­de ein­ge­la­den zu ha­ben).

Lei­der wird nicht aus­ge­führt, ob der Knacks ein sin­gu­lä­res Phä­no­men ist oder ob im Lau­fe des Le­bens meh­re­re »Knack­se« (aus un­ter Um­stän­den un­ter­schied­li­chen Le­bens­ab­schnit­ten kom­mend – Be­ruf, Part­ner­schaft, Um­welt) »er­wor­ben« wer­den kön­nen. In­dem Wil­lem­sen den Knacks auch auf Ge­mein­we­sen an­wen­det und so­zu­sa­gen kol­lek­ti­viert, wer­den meh­re­re »Knack­se« im Lau­fe des Le­bens denk­bar. Aber ist dies auch ge­meint? Oder ist DER Knacks DER rich­tungs­wei­sen­de Er­mü­dungs­bruch im Le­ben des mo­der­nen Men­schen (mei­stens ist es üb­ri­gens ein Mann)? Und auch nur am En­de wird deut­lich: Hier be­schreibt je­mand ein Phä­no­men der Mo­der­ne, des mo­der­nen (oder post­mo­der­nen) Men­schen, der mit Glücks­ver­hei­ssun­gen und –ver­spre­chun­gen ir­gend­wann über­for­dert zu sein scheint. Ein Tua­rag oder ein Be­woh­ner der mon­go­li­schen Step­pe dürf­te die­ses Buch wohl höch­stens als Sci­ence-Fic­tion-Ro­man le­sen oder kopf­schüt­telnd bei­sei­te le­gen.

Und ge­le­gent­lich scheint der Knacks ei­ne all­zu vor­ei­lig ein­ge­setz­te Dia­gno­se ei­nes schwer­mü­tig-hy­po­chon­dri­schen Zu­stan­des zu sein, et­wa wenn da­von die Re­de ist, der Mensch er­le­be im Knacks sei­nen Kurs­sturz oder mit der Ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl sei die Au­ssen­welt von et­was er­reicht, das man als Knacks be­zeich­nen könn­te. Das schlägt auch ein­mal in (un­frei­wil­li­ge) Ko­mik über, et­wa wenn Kon­sum­kri­tik da­hin­ge­hend be­trie­ben wird, dass Pro­duk­te ei­ne apo­ka­lyp­ti­sche Welt her­bei [hal­lu­zi­nie­ren], die gleich hin­ter dem Knacks liegt.

Das Buch ist ernst ge­meint. Und es ist ernst.

Wun­der­bar al­ler­dings die Aus­füh­run­gen zum Knacks in der Kunst. An­hand der fort­lau­fen­den Re­stau­rie­run­gen von Leo­nar­dos »Abend­mahl« stellt Wil­lem­sen fest, dass man in­zwi­schen ein Ori­gi­nal sieht, auf dem es nichts Ori­gi­na­les mehr gibt. Go­yas be­rühm­tes Dik­tum »Auch die Zeit ist ein Ma­ler«, mit dem er dem Kö­nig von Spa­ni­en die Re­stau­rie­rungs­ar­bei­ten von Ge­mäl­den ab­lehn­te, führt Wil­lem­sen auf das »Abend­mahl« fort: Wä­re es al­so nicht der zu­min­dest wahr­haf­tig­ste Zu­gang zu Leo­nar­do ge­we­sen, man hät­te ihn der Zeit über­ge­ben und sein Ver­schwin­den als ge­nu­in künst­le­ri­schen Akt ver­stan­den? Dann wä­re Leo­nar­do der Ma­ler ge­we­sen, der den Knacks ge­malt und durch ihn den Tod in das Werk hät­te ein­tre­ten las­sen.

Bei al­ler Locker­heit und auch ob­wohl Wil­lem­sen kei­ne wis­sen­schaft­li­che Schrift ab­lie­fert: Das Buch ist ernst ge­meint. Bei­spiels­wei­se dann, wenn aus­ge­spro­chen klug und emp­find­sam über die To­des­sehn­sucht von Kin­dern ge­äu­ssert wird: Ei­ner­seits wird…der Ver­lust an­ti­zi­piert, den das ei­ge­ne Ver­schwin­den in der Mit­welt aus­lö­sen wür­de, an­de­rer­seits über­ant­wor­tet sich das Kind in der Idee des selbst­ge­wähl­ten To­des der Ho­heit die­ses To­des und wird dar­in sou­ve­rän.

Oder wenn er am Schluss des Bu­ches in ei­nem be­ein­drucken­den Ka­pi­tel fern jeg­li­chen Rühr­kit­sches vom Krebs­tod ei­ner gu­ten Freun­din er­zählt. Mehr­deu­tig sei­ne Er­zäh­lung von der Be­er­di­gung der Frau und dem Zu­sam­men­ste­hen der Freun­de am Grab: Wir tauch­ten aus Mo­na­ten der Trä­nen, des Man­gels und der Angst auf und blick­ten uns im­mer noch un­gläu­big an, in der Hoff­nung, der Wirk­lich­keit doch noch für ei­ne Zeit­lang aus­wei­chen zu kön­nen. Und wenn nach all den vor­her im Buch ge­tä­tig­ten The­sen und Aus­füh­run­gen über den Selbst­mord (oder auch Frei­tod; Wil­lem­sen ver­wirft die­sen Be­griff al­ler­dings) plötz­lich ein Satz wie Der Tod ist zu wich­tig, um sich ihm ge­gen­über auf das Ge­wäh­ren­las­sen ein­zu­stel­len zu le­sen ist, dann stockt dem Le­ser der Atem und so manch sa­lop­pes Bon­mot der zu­rück­lie­gen­den mehr als zwei­hun­dert­fünf­zig Sei­ten zoomt man sich noch­mals her­an, um es et­was ge­nau­er zu be­trach­ten. Et­was, es gin­ge ir­gend­wann nur noch dar­um, den Knacks zu kit­ten. Al­so im Kern han­de­le es sich um Über­le­bens­ver­su­che.

Am En­de hat man den Ein­druck, Ro­ger Wil­lem­sen führt uns zu­rück in die Welt des Fa­tums, des letzt­lich un­ent­rinn­ba­ren Schick­sals, denn dem Knacks ent­kommt man in un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on nicht. Er ist zwar nicht de­zi­diert ne­ga­tiv kon­no­tiert, aber er »pro­gram­miert« uns und ist un­wi­der­ruf­lich. Die Kennt­nis über ihn, die Selbst­re­fle­xi­on oder Selbst­ver­ge­wis­se­rung, he­ben sei­ne Wir­kung nicht auf; lin­dern noch nicht ein­mal. Er ist da­mit tücki­scher als al­les an­de­re, in­klu­si­ve das, was man land­läu­fig De­pres­si­on nennt.

Man ist ge­neigt, das Buch in das Feuil­le­ton-Re­gal zu stel­len. Aber die Su­che nach dem Knacks lässt ei­nem nicht mehr los. Und mit ihm das Fra­gen.


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

Der klei­ne Un­ter­schied

Horst See­ho­fer gab das Amt Bun­des­mi­ni­sters für Er­näh­rung, Land­wirt­schaft und Ver­brau­cher­schutz auf, weil er Mi­ni­ster­prä­si­dent in Bay­ern wur­de. Zur Neu­be­set­zung des Mi­ni­ste­ri­ums in Ber­lin ein paar Zi­ta­te aus un­se­ren Qua­li­täts­me­di­en aus den letz­ten Ta­gen:

DIE ZEIT:
Ai­gner ist über die An­fra­ge von Horst See­ho­fer, ob sie sei­ne Nach­fol­ge in Ber­lin an­tre­ten wol­le, nach ei­ge­nem Be­kun­den zu­nächst »zu­sam­men­ge­zuckt«. Sie ha­be »erst mal schlucken und nach­den­ken« müs­sen, sag­te sie am Frei­tag im ARD-»Morgenmagazin«. »Aber mich freut das na­tür­lich wahn­sin­nig, dass Horst See­ho­fer in mich das Ver­trau­en setzt.«
Wei­ter­le­sen

Cat­weaz­le beim Fern­seh­preis

In den 70er Jah­ren wur­de im deut­schen Fern­se­hen die Se­rie »Cat­weaz­le« aus­ge­strahlt. Ein Zau­be­rer – eben je­ner Cat­weaz­le – wur­de vom 11. Jahr­hun­dert in die 70er Jah­re des 20. Jahr­hun­derts »ver­setzt«. Die Ko­mik be­stand dar­in, dass er all die uns selbstver­ständlich ge­wor­de­nen Er­run­gen­schaf­ten der Tech­nik (Strom, Te­le­fon, Au­tos) an­fangs für Teu­fels­zeug hielt, ver­such­te mit Zau­ber­sprü­chen zu ban­nen und spä­ter dann zur Ma­gie er­klär­te.

Mar­cel Reich-Ra­nicki muss sich am Sams­tag bei der Ga­la zum Deut­schen Fern­seh­preis wie Cat­weaz­le ge­fühlt ha­ben. Was dort für preis­wür­dig be­fun­den wur­de, hat ihm ver­mut­lich ei­nen Kul­tur­schock grö­sse­ren Aus­ma­sses be­schert. Wie es heisst, woll­te der für sein Le­bens­werk preis­wür­dig emp­fun­de­ne Reich-Ra­nicki ir­gend­wann ein­fach ge­hen. Da­mit er nicht zu sehr lei­den muss­te, zog man sei­ne Preis­ver­ga­be vor. Der Rest ist be­kannt.
Wei­ter­le­sen

Gün­ter Grass: Die Box

Günter Grass: Die Box

Gün­ter Grass: Die Box


Den Aus­weg, Gün­ter Grass’ neu­es Buch »Die Box« in vor­aus­ei­len­der Mil­de mit den Wer­ken der Ver­gan­gen­heit des Schrift­stel­lers zu ver­rech­nen, hat die »ZEIT« da­hin­ge­hend ver­passt, dass sie mit An­dre­as Mai­er ei­nen Re­zen­sen­ten be­auf­trag­te, der nach ei­ge­ner Aus­sa­ge vor­her noch kein Buch von Grass ge­le­sen hat­te. »Der Um­blät­te­rer« ver­mu­tet hier nicht zu Un­recht ein tak­ti­sches Vor­ge­hen. In dem Mai­er of­fen mit sei­nem Nicht­wis­sen ko­ket­tiert, so­gar sug­ge­riert, die Ah­nungs­lo­sig­keit sei vor­teil­haft für die Re­zep­ti­on die­ses Bu­ches, wird dem Le­ser ei­ne Art neu­er, nai­ver, ja: un­schul­di­ger Re­zen­sen­ten­blick vor­ge­spielt. Was auf den er­sten Blick ori­gi­nell er­scheint, muss aber bei ei­ner Per­son wie Grass und ei­nem Buch wie die »Die Box« schei­tern.

Denn (1.) ist Grass auch (und vor al­lem) ei­ne po­li­ti­sche Per­son und wird als sol­che in der Öf­fent­lich­keit stär­ker wahr­ge­nom­men als über sei­ne schrift­stel­le­ri­schen Wer­ke. Die Ur­tei­le über Grass re­sul­tie­ren in den sel­ten­sten Fäl­len über das li­te­ra­ri­sche Oeu­vre, wie die Re­zep­ti­on sei­nes »Zwiebel«-Buches ex­em­pla­risch ge­zeigt hat. Und (2.) ist das Buch »Die Box« oh­ne Vor­kennt­nis­se we­nig­stens ei­ni­ger Bü­cher von Grass sehr viel schwie­ri­ger ver­steh­bar. Schliess­lich han­delt es sich nicht um ei­ne li­ne­ar er­zähl­te (Auto-)Biografie, son­dern um ein de­zi­diert li­te­ra­ri­sches Pro­jekt. Wei­ter­le­sen

Fab­jan Haf­ner: Pe­ter Hand­ke – Un­ter­wegs ins Neun­te Land

Fabjan Hafner: Peter Handke - Unterwegs ins Neunte Land

Fab­jan Haf­ner: Pe­ter Hand­ke –
Un­ter­wegs ins Neun­te Land

Mit sei­nem Buch »Pe­ter Hand­ke – Un­ter­wegs ins Neun­te Land« möch­te Fab­jan Haf­ner auf­zei­gen, dass das Slo­we­ni­sche bei Pe­ter Hand­ke mehr als nur ei­ne Be­schäf­ti­gung mit sei­nen Ah­nen ist, son­dern nichts we­ni­ger als ein Le­bens­the­ma , ja der Ge­ne­ral­baß im Ge­samt­werk des Dich­ters. Slo­we­ni­en ist Sehn­suchts­ort, (s)ein Uto­pia sui ge­ne­ris und bu­ko­li­sches Traum­land. Die ge­sam­te müt­ter­li­che Ver­wandt­schaft Hand­kes ge­hör­te der Min­der­heit der Kärnt­ner Slo­we­nen an. Be­son­ders der Gross­va­ter, Gre­gor Si­utz (slo­we­nisch: Sivec) und des­sen gleich­na­mi­ger Sohn sind Licht­gestalten in Hand­kes Kind­heit und Ju­gend und blei­ben dar­über hin­aus prä­gend.

Haf­ner be­tont zwar wie­der­holt, dass Hand­ke sel­ber ei­ne bio­gra­fi­sche Deu­tung sei­ner Er­zählungen (ins­be­son­de­re sei­ner Slo­we­ni­en-Re­kur­se) ab­lehnt, kon­zi­diert dann je­doch, dass die le­bens­ge­schicht­li­che Lesart…ergiebiger sei als die in­ter­tex­tu­el­le. 1942 wur­de Pe­ter Hand­ke in Al­ten­markt (bei Grif­fen) in Süd­kärn­ten ge­bo­ren. 1944 geht die Fa­mi­lie nach Ber­lin (in den Ost­teil der Stadt); Hand­kes Stief­va­ter (es stell­te sich für Hand­ke erst spä­ter erst her­aus, dass es sein Stief­va­ter war) kam aus Ber­lin. 1948 zu­rück, hat der klei­ne Hand­ke das Slo­we­ni­sche voll­kom­men ver­ges­sen und spricht »hoch­deutsch«, was im Dorf als ab­ge­ho­ben emp­fun­den wird. Er kann sich mit den Ein­hei­mi­schen, wie auch dem Gross­va­ter nur schlecht ver­stän­di­gen; ih­ren Dia­lekt ver­steht er nicht. Hier­aus rührt – so Haf­ner – Hand­kes ge­ne­rel­le Ab­leh­nung des Dia­lekts ge­gen­über. Die Fa­mi­lie ist in mehr­fa­cher Hin­sicht »am Rand«, der jun­ge Hand­ke dop­pelt un­zu­hau­se: Geo­gra­fisch be­wohnt die Fa­mi­lie ei­nen Hof am Dorf­rand; es sind »ein­fa­che Ver­hält­nis­se«. Ge­sell­schaft­lich sind sie Kärnt­ner Slo­we­nen, al­so ei­ne Min­der­heit, an­de­rer­seits stammt der Mann der Mut­ter aus Deutsch­land. In der Fa­mi­lie dient (wie auch un­ter den »öster­rei­chi­schen Kärnt­nern«) das Slo­we­ni­sche als ei­ne Art Ge­heim­spra­che. Wei­ter­le­sen