»Warum es so schwer ist, die ‘Bild’-Zeitung zu kritisieren. Und warum man es dennoch machen sollte« lautet der Untertitel eines Artikels von Georg Seeßlen und Markus Metz im aktuellen »Freitag«. Nach holprigem Beginn kommt man in Fahrt:
Die Empörung unter den aufrechten Demokraten, so es sie noch gibt, den verbliebenen Verfechtern einer moralischen Kultur der Medien, den versprengten Aufklärern, Sprach- und Bildkritikern, den Vertretern von Persönlichkeitsrecht und Menschenwürde ist verständlicherweise groß. Auf einen Beistand der Parteien, der Stars der Unterhaltungsbranche, der großen kulturellen Institutionen, der Gewerkschaften und der Kirchen gegen das System Bild sollte niemand zählen.
Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten
Es ist ja nicht so, dass sich Peter Sloterdijk darüber beklagt, dass das deutsch-französische Verhältnis vom Heroismus zum Konsumismus mutiert scheint und inzwischen mit wohlwollende[r], gegenseitige[r] Nicht-Beachtung vermutlich zutreffend charakterisiert ist. Am Ende empfiehlt er ja sogar den grossen Konfliktherden der Welt, sich nicht zu sehr füreinander zu interessieren. Denn erst gegenseitige Desinteressierung und Defaszination lassen Kooperation und Vernetzung zu.
Die Thesen basieren auf einer Rede, die 2007 gehalten wurde. Einerseits wird das deutsch-französische Verhältnis skizziert (zunächst weit ausholend und dann doch auf die Zeit nach 1945 konzentriert) und zum anderen die Rolle Deutschlands in Europa befragt. Ein Europa, für das die Bezeichnung »Nachkriegseuropa« 64 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs langsam obsolet sein dürfte.
»Metanoia« und »Affirmation«
Das 50jährige Jubiläum des gemeinsamen Gottesdienstes zwischen Adenauer und de Gaulle im Jahre 1962 in Reims antizipierend (Sloterdijk greift hier spitzbübisch dem »Jubiläumsjahr« 2012 vor [nur die Evangelische Kirche in Deutschland ist da geschäftiger: sie beginnt im Jahr 2008 die Feierlichkeiten, die sogenannte »Lutherdekade«, die 2017 ihren Höhepunkt haben soll]), stellt er trocken, aber wahrscheinlich zutreffend fest: Es gehört fast keine Phantasie dazu, um sich die Reden vorzustellen, die man…hören wird.
Augen auf, du bist allein: im Bahnhof von Brighton die saalartige unterirdische Toilette, traumgroß, traumleer, dazu der Mosaikboden, und draußen der Vollmond; Augen auf: die vielen Rothaarigen im letzten Zug zurück nach London, und zuvor, Augen auf: die, wir, paar Alleinigen in der letzten Kinovorstellung, am Nachmittag des Weihnachtsabends in B., Frauen fast nur, und ...
Viel wäre schon gewonnen, wenn einem die Meldungen über die lächerlich-heuchlerischen Weihnachtspredigten diverser Bischöfe und Kardinäle erspart bliebe. Denke ich gerade, als ich von Bischof Hubers Weihnachtspredigt lese. »Wir dürfen das Geld nicht länger vergötzen« heisst es da wohl – so von tagesschau.de zitiert. Auch der Rest des Beitrags: der übliche Schmus, die Appelle an ...
So manch ein Autor entdeckt in diesen Tagen des weltökonomischen Zusammenbruchs wieder das »Primat der Politik« und beginnt, Aufgaben und Ziele politischen Handelns (neu) zu entwerfen. Diesen Vorwurf des billigen Opportunismus auf Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, anzuwenden, wäre allerdings falsch. Marx ist Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz und seit Jahren ein glühender Verfechter der Katholischen Soziallehre. Anfang des Jahres war er kurz als Nachfolger von Karl Kardinal Lehmann für das Amt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz im Gespräch. Mit Bischof Robert Zollitsch wurde dann jemand gewählt, der in sozialethischen Fragen mit Marx größtenteils übereinstimmen dürfte, in theologischen Fragen (insbesondere der Ökumene, wie bspw. der Interzelebration) jedoch wesentlich offener zu sein scheint als Marx.
Marx setzt sich in seinem Buch »Das Kapital« (ein eher missglückter, weil zwanghaft origineller Titel, der zudem missverständlich ist) zunächst ausführlich mit seinem Namensvetter (irgendwann nervt diese Formulierung) auseinander (nicht nur wegen der Namensgleichheit und schreibt ihm sogar einen Brief (statt einer Einleitung). Marx treibt die Frage um: Hat Karl Marx doch recht? Ist der Kapitalismus ein notwendiges Stadium der Geschichte, durch das die Industriegesellschaft gehen muss, bevor die Akkumulation des Kapitals und die Entfremdung der Arbeiterschaft in dem Punkt kulminieren, an dem die Entwicklung in die kommunistische Revolution umschlägt?
Erstaunlich, wie Xaver Bayers Geschichten nachklingen. Tage später ist plötzlich eine Formulierung wieder da. Oder ein Bild. Beispielsweise der Ich-Erzähler, der in Paris verhaftet und von den Polizisten aufs Revier begleitet wird und dabei plötzlich mit der Vorstellung kokettiert, man könne denken, ich selbst sei der Kommissar anstatt des Verhafteten (»Noch einmal für Jean-Louis Trintignant«). Er beginnt plötzlich den französischen Schauspieler zu imitieren: Ich setze bewusst meine Schritte so resolut, dass es für einen in der Situation Uneingeweihten so wirken könnte, als wäre ich es, der die Flics, meine Untergebenen, hinüber zum Kommissariat führt, so als handelte es sich darum, in den nächsten Minuten, drüben, in meinem Büro, die Aufklärung eines Falls in Angriff zu nehmen… Nur Sekunden dauert diese Verwandlung, die augenscheinlich niemand mitbekommt.
Oder der innere Selbstmonolog eines LKW-Fahrers (»Höhenstraßengespräche«), in den immer wieder Beobachtungsfetzen einfliessen, die im gleichen Moment einen Eindruck konterkarieren und damit verblüffenderweise gleichzeitig erweitern: Zwischen den Stämmen der Bäume im krautigen Unterholz blühen die Herbstzeitlosen, und da und dort blinkt das Rot einer weggeworfenen Coladose oder das Grün einer Flasche auf. Da bedarf es der Steigerung fast nicht mehr, dass die Kehlen heiser vom Schweigen geworden sind.
Der Abstieg von nicht näher beschriebenen Wanderern aus einem Höhenwald. Es dämmert schon und sie hatten an manchen Ecken regelrecht das Gefühl, dass die Dorfbewohner in der Zeit, die wir im Wald am Gipfel verbracht hatten, ihre Häuser geringfügig umgestellt hatten, wie um uns in die Irre zu führen. Sie verlieren vollkommen die Orientierung, können auch niemanden fragen, weil sie plötzlich die Sprache nicht mehr verstehen und suchen fast wie die ersten Menschen ein Entkommen aus einem Landschaftslabyrinth (hin zu ihrem »Sehnsuchtsort«, dem Parkplatz).
Es liegt etwas in der Luft
In »Der Nichtsdestotrotzraum« hört ein Ich-Erzähler zunächst vereinzelte Schreie, dann Wimmern und wird dabei von seiner Lektüre abgelenkt. Zunächst meint er es handele sich um Kinderlärm, dann glaubt er, jemand wird gequält. Er kann aber die Quelle des Lärms nicht lokalisieren und wird immer unruhiger. Er überlegt, die Polizei anzurufen, tröstet sich jedoch dann mit der Annahme, dass dort vielleicht ein Paar sadomasochistische Sexspiele veranstaltet oder das die Bauarbeiter, die Umbauarbeiten am Haus vornehmen, in der Mittagspause ein Pornovideo von ihren Handys abspielen. Als dann die Kreissägearbeiten wieder beginnen nimmt er dies zum Anlass den Polizeianruf erst recht nicht mehr zu tätigen. (Hier gibt es allerdings eine kleine Assoziation innerhalb der Erzählung, die nicht verraten werden soll.)
In fast allen zweiundzwanzig Geschichten scheint etwas in der Luft zu liegen, eine dunkle, rätselhafte, nicht näher konkretisierbare aber ständig als Möglichkeit anwesende Bedrohung. Der Leser wird ohne jegliche Einführung in ein Setting geworfen, in das er sich zunächst einmal zurechtfinden muss (was allerdings problemlos gelingt). Die Protagonisten scheinen wie Delirierende des Daseins. Manche (manche?) sind unbarmherzig militant auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet, die nicht selten physisch Besitz von ihnen ergriffen hat. Sie sind dabei häufig von Emotionen und damit auch von Empathie befreit oder Verdrängen diese zumindest; manchmal erscheinen sie wie die Eloi in Wells’ »Zeitmaschine« oder bewegen sich einer »1984«-Welt Orwellscher Prägung oder wirken ihrer Absurdität ausgeliefert wie zeitgenössische Sisyphos-Nachfolger.
Der Rundfunkstaatsvertrag für die Bundesrepublik Deutschland schreibt in § 11 den »Auftrag« für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor. Dort heisst es:
§ 11 Auftrag
...
(2) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat in seinen Angeboten und Programmen einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. … Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.
Mit »Die Vermessung des Glaubens« (der Titel erinnert an einen Belletristikbestseller von Daniel Kehlmann) versucht der »ZEIT«-Wissenschaftsredakteur Ulrich Schnabel einen Überblick über den aktuellen Stand des naturwissenschaftlichen Diskurses über Sinn (oder Unsinn), über Chancen und Gefahren von Religionen vorzulegen. Er geht dabei weniger analytisch als essayistisch vor; die Sprache ist populärwissenschaftlich; niemals seicht oder trivial. In den einleitenden Worten dieses ambitionierten Unterfangens wünscht er sich seufzend so etwas wie eine Stiftung Glaubenstest. Dann wäre dieses Buch wie eine Präambel dazu.
Es wird sehr früh klar, dass Schnabel eine neutrale, agnostische Position einnehmen möchte. Warum er dies in einem Bekenntnis besonders herausstellen muss, bleibt unklar.