Isa­bel­le Graw: Der gro­ße Preis

Isabelle Graw: Der grosse Preis

Isa­bel­le Graw: Der gro­sse Preis

Wie kommt es ei­gent­lich da­zu, dass auch zeit­ge­nös­si­sche Kunst in­zwi­schen bei Auk­tio­nen ex­or­bi­tant ho­he Prei­se er­zielt? Wie ist die­ser Hype zu er­klä­ren? Die Pro­fes­so­rin, Kunst­kri­ti­ke­rin und Pu­bli­zi­stin Isa­bel­le Graw un­ter­sucht in Ih­rem Buch mit dem schön-dop­pel­deu­ti­gen Ti­tel »Der gro­ße Preis« die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Kunst (ge­meint ist stets der Son­der­fall der bil­den­den Kün­ste) und Markt. Wo­bei das Buch durch­aus den Be­ginn der Wirt­schafts­kri­se, die uns auf­grund me­dia­ler Auf­be­rei­tung stän­dig prä­sent ist, re­flek­tiert (der Schluss, auf­grund der Spe­zia­li­sie­rung des Kunst­mark­tes wä­ren die Aus­wir­kun­gen ge­dämpf­ter, er­weist sich al­ler­dings als falsch). Be­reits auf den er­sten Sei­ten ih­res Vor­worts (wel­ches ei­ne Zu­sam­men­fas­sung der spä­ter aus­führ­lich aus­ge­brei­te­ten The­sen dar­stellt) wird der ho­he An­spruch die­ses Pro­jekts deut­lich – und die Am­bi­va­len­zen, die sich für je­man­den stel­len, der, wie Graw mehr­fach be­merkt, sel­ber stark in das Ge­sche­hen des zu be­ur­tei­len­den Ge­gen­stan­des in­vol­viert ist.

Kein kul­tur­kri­ti­sches La­men­to

Graw be­schäf­tigt sich zu­nächst mit den Me­cha­nis­men des Mark­tes und wie die­se auf Preis und Wert ei­nes Kunst­werks wir­ken. Es gibt sehr klu­ge und be­den­kens­wer­te Aus­füh­run­gen zu Par­al­le­len zwi­schen Kunst­werk und Lu­xus­gut, wo­bei her­aus­ge­stellt wird, dass dem Kunst­werk im Ge­gen­satz zum Lu­xus­ge­gen­stand der Ge­brauchs­wert fehlt. Wäh­rend ein Lu­xus­au­to durch­aus noch sei­ner ei­gent­li­chen Be­stim­mung (von A nach B zu kom­men) ge­nügt (wenn die­ser Zweck auch in den Hin­ter­grund ge­drängt zu sein scheint bzw. als Selbst­ver­ständ­lich­keit vor­aus­ge­setzt wird), be­sitzt ein Kunst­werk ei­nen sol­chen Ge­brauchs­wert nicht (das äs­the­ti­sche Ver­gnü­gen lässt Graw – wohl zu Recht – in Be­zug auf die Wer­tig­keit nicht gel­ten). Um­ge­kehrt fehlt dem Lu­xus­gut je­doch so­wohl kulturelle[s] und soziale[s] Pre­sti­ge als auch die Au­ra des kul­tu­rell Be­deu­tungs­vol­len.

Gleich­zei­tig stellt Graw fest, dass der Markt längst nicht mehr als ge­sell­schaft­lich ab­ge­kop­pel­te Rea­li­tät be­grif­fen wer­den kann, son­dern dass er die gan­ze Ebe­ne des So­zia­len in Form ei­nes Net­zes um­schliesst. Die »glo­ba­le In­du­strie« und »ar­chai­sche Tausch­ge­sell­schaft« sind für sie zwei Sei­ten der­sel­ben Me­dail­le. Mehr­fach wird be­tont, dass sie kein de­zi­diert markt­feind­li­ches oder kul­tur­kri­ti­sches La­men­to in alar­mi­sti­schem Ton­fall an­stim­men möch­te. Eher im Ge­gen­teil wird ein biss­chen süf­fi­sant dar­auf ver­wie­sen, dass Marktphobie…gut fürs Ge­schäft sei.

Kunst hat, so ei­ne The­se des Bu­ches, so­wohl ei­nen Markt- als auch ei­nen Sym­bol­wert, wo­bei das Ver­hält­nis zwi­schen Sym­bol- und Marktwert…in Ent­spre­chung zum Kunst-Markt-Ver­hält­nis als span­nungs­ge­la­de­nes Wech­sel­ver­hält­nis auf­ge­fasst wird. Die­ser Be­mer­kung sagt je­doch lei­der al­les und nichts aus. Und auch nach sehr vie­len Er­läu­te­run­gen zu Sym­bol- und Markt­wert ver­steht es die Au­torin nicht, ih­re The­se mit mehr als Be­lie­big­keits­me­ta­phern zu un­ter­stüt­zen.

Da­bei wird mun­ter mit Denk­ge­bäu­den (un­ter an­de­rem) von Kant, Marx, Ben­ja­min, Ador­no, Fou­cault und Pierre Bour­dieu jon­gliert und auch neue­re, zeit­ge­nös­si­sche Den­ker wie Pao­lo Vir­no und Ul­rich Bröck­ling oder Kunst­theo­re­ti­ker wie Mar­cel Duch­amp und An­dy War­hol (für Graw ei­ne be­son­de­re Fi­gur) kom­men zu Wort. In teil­wei­se ek­lek­ti­zi­sti­scher Ma­nier (es gibt im­mer­hin 353 Fuss­no­ten auf 235 Sei­ten) wer­den The­sen va­ri­iert, mo­di­fi­ziert und – je nach Gu­sto – auch (pass­kon­form) kor­ri­giert.

Sym­bol­wert und Markt­wert

Graw folgt Bour­dieu noch in der Fest­stel­lung, dass der Sym­bol­wert von Kunst Ma­ni­fe­sta­ti­on ei­ner ma­te­ri­ell nicht mess­ba­ren, schwer zu quan­ti­fi­zie­ren­den Aus­zeich­nung sei. Dann braucht sie Marx, um den Sym­bol­wert im ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis von Wa­re zu Wa­re zu er­ken­nen. Dem­nach ist Sym­bol­wert als zwei­fa­che ge­sell­schaft­li­che Auf­la­dung zu de­fi­nie­ren weil er für ei­nen Über­schuss und ei­ne Auf­ge­la­den­heit steht, die jen­seits von dem mit ihm Be­zeich­ne­ten lie­gen. Der Sym­bol­wert drückt je­ne schwer ding­fest zu ma­chen­de, sym­bo­li­sche Be­deu­tung aus, die sich aus un­ter­schied­li­chen Fak­to­ren – Sin­gu­la­ri­tät, kunst­hi­sto­ri­sche Zu­schrei­bung, Eta­bliert­heit des Künst­lers, Ori­gi­na­li­täts­ver­hei­ssung, Ver­spre­chen auf Dau­er, Au­to­no­mie­po­stu­lat oder in­tel­lek­tu­el­lem An­spruch – zu­sam­men­setzt. Rich­ti­ger­wei­se kon­sta­tiert sie, dass die Ent­las­sung der Kunst aus ih­rer Zweck­ge­bun­den­heit durch die Äs­the­tik im 18. Jahr­hun­dert erst die Vor­aus­set­zun­gen zu ih­rer Ver­mark­tung schaff­te (wo­bei reich­lich spät ein kur­zer Hin­weis auf das Werk­statt­we­sens Rem­brandts aus dem 17. Jahr­hun­dert folgt). Nun stellt sich das Pro­blem, dass das, was von be­ru­fe­ner Sei­te (Kunst­kri­tik und Kunst­ge­schich­te) als äs­the­ti­sche Lei­stung ei­ner künst­le­ri­schen Ar­beit be­haup­tet wird nicht oh­ne wei­te­res in ei­nen Preis »über­führt« wer­den kann.

Trotz der Fest­stel­lung, dass der Markt­wert im­mer auf ei­nen »Sym­bol­wert« an­ge­wie­sen [ist], der ihn [den Markt­wert] letzt­lich le­gi­ti­miert be­geht Graw ei­nen Denk­feh­ler, in dem sie be­haup­tet, dass der Sym­bol­wert nicht im Markt­wert auf[geht]…obwohl, wie sie sel­ber kon­zi­diert, für ihn ein Preis ver­langt wird. Die­ser Preis recht­fer­tigt sich um­ge­kehrt mit ei­nem Sym­bol­wert, der grund­sätz­lich nicht ver­re­chen­bar ist. Das führt zu ih­rem Pa­ra­do­xon, dass das Kunst­werk von sei­ner sym­bo­li­schen Be­deu­tung aus ge­se­hen preis­los sei und den­noch hat es sei­nen Preis. In dem sie den Sym­bol­wert je­doch am Markt »bil­den« lässt (eben durch In­sti­tu­tio­nen wie Kri­tik, Ga­le­ri­sten, Samm­ler, Kunst­wis­sen­schaft­ler), wird der Sym­bol­wert so­zu­sa­gen so­zia­li­siert und ist nicht bei­spiels­wei­se nur ei­ne Wert­zu­wei­sung ei­nes ein­zel­nen Samm­lers oder ei­ner klei­nen Grup­pe von En­thu­sia­sten. Dies wie­der­um führt zu ei­ner Quan­ti­fi­zie­rung, die zwar nicht re­al nach­prüf­bar ist, aber durch­aus mit der Zeit durch­aus Pa­ra­me­ter ent­wickelt, die min­de­stens für ei­ne ge­wis­se Zeit Gül­tig­keit be­sit­zen.

Da­her trifft der Ver­gleich zwi­schen dem Kunst­werk und der Mar­ken­wa­re (sieht man – ähn­lich wie beim Lu­xus­ar­ti­kel – von des­sen Ge­brauchs­wert ab) durch­aus mehr zu, als Graw ein­räumt. Der Ge­dan­ke, dass die De­si­gner­bril­le nicht [an] die Vor­stel­lung ei­nes von ihr ab­ge­wor­fe­nen, er­kennt­nis­theo­re­ti­schen Mehr­werts ge­knüpft ist und da­mit im Ge­gen­satz zum Kunst­werk steht, wel­ches enor­me in­tel­lek­tu­el­le Lei­stun­gen voll­brin­gen soll, ver­hin­dert nicht, dass nicht nur der Preis in der Kunst als et­was Ar­bi­trä­res an­ge­se­hen wer­den muss. Auch der Wert der De­si­gner­bril­le ist in die­sem Sin­ne will­kür­lich, weil vom rei­nen Ma­te­ri­al- und Pro­duk­ti­ons­wert ab­ge­kop­pelt. Die Auf­la­dung des Kunst­werks als »in­tel­lek­tu­el­les« Pro­dukt ist letzt­lich nur wie­der­um Teil des Sym­bol­wer­tes des Kunst­wer­kes. Das wä­re, sa­lopp ge­sagt, letzt­lich der (ein­zi­ge) Grund, war­um ei­ne De­si­gner­bril­le nor­ma­ler­wei­se preis­wer­ter (!) ist als ein Bild ei­nes an­ge­sag­ten Ma­lers.

Da hilft dann die Fest­stel­lung der Über­de­ter­mi­niert­heit des Sym­bol­werts, der sich in hor­ren­den Prei­sen zeigt (wie bei­spiels­wei­se für Da­mi­an Hirsts »To­ten­schä­del«, der noch im Au­gust 2008 für 100 Mil­lio­nen US-Dol­lar ver­stei­gert wur­de, je­doch ei­nen rei­nen »Ma­te­ri­al­wert« von nur rd. US$ 30 Mil­lio­nen ha­ben soll), nicht wei­ter.

Graw folgt Bour­dieu in dem Au­gen­blick nicht mehr, als die­ser Sym­bol­wert und Markt­wert in relative[r] Un­ab­hän­gig­keit sieht. Sie plä­diert für ei­ne eng ge­führ­te Par­al­le­li­tät und kommt zu dem si­byl­li­ni­schen Schluss, sie mach­ten sich bei­de ge­gen­sei­tig das Le­ben schwer, um doch auf­ein­an­der an­ge­wie­sen zu sein; ihr Ver­hält­nis sei von An­zie­hung und Ab­sto­ssung ge­prägt. Dies wä­re je­doch nur rich­tig, wenn es so­zu­sa­gen zwei »Prei­se« gä­be, die auch ge­trennt er­mit­telt wür­den. Statt die Schnitt­stel­le, wenn der Sym­bol­wert zum Markt­wert wird und die ein­zel­nen Im­pli­ka­tio­nen zu de­fi­nie­ren und even­tu­ell ei­ne Art Phä­no­me­no­lo­gie des Markt­werts zu ver­su­chen, wird ei­ne schlaf­fe Schwe­be­po­si­ti­on kon­stru­iert.

Tat­säch­lich be­tont Graw die Son­der­stel­lung des Kunst­werks auf­grund die­ser »bi­po­la­ren Wert­ermitt­lung« (die sie als po­la­re Grund­kon­stel­la­ti­on be­zeich­net). Sie ver­gisst da­bei, dass bei­spiels­wei­se auch der Bör­sen­han­del ähn­li­chen Be­wer­tun­gen un­ter­liegt (streng ge­nom­men ist so­gar der Wert des Gel­des sel­ber ein höchst sym­bo­li­scher). Zwar wä­re hier (theo­re­tisch) der (Markt-)Wert des Un­ter­neh­mens über die buch­hal­te­ri­schen Kenn­zif­fern der Bi­lanz quan­ti­fi­zier­bar. Der Ak­ti­en­kurs je­doch schafft ei­ne zwei­te, ex­trem va­ria­ble Grö­sse, der nun den »Sym­bol­wert« des Un­ter­neh­mens aus­drückt. Bei­de Wer­te kön­nen sich be­trächt­lich un­ter­schei­den, wie man am Bei­spiel der Spe­ku­la­tio­nen um die VW-Ak­tie En­de 2008 se­hen kann, als die Volks­wa­gen AG vor­über­ge­hend zum »wert­voll­sten« Un­ter­neh­men der Welt wur­de. Die­ser »Wert« ent­sprach je­doch kei­nes­falls der »rea­len« Be­wer­tung des Kon­zerns. Im Ge­gen­satz zum Kunst­werk sind zwar bei­de Wer­te viel eher zu er­mit­teln, da sie an kon­kre­ten Zah­len fest­zu­ma­chen sind. Aber durch die Vo­la­ti­li­tät des Ak­ti­en­mark­tes (der sich üb­ri­gens ver­blüf­fen­der­wei­se in Tei­len dem nä­hert, was Graw als Spe­zi­fi­kum des Kunst­mark­tes her­aus­ar­bei­tet) bleibt der »Sym­bol­wert« (Bör­sen­wert) des Un­ter­neh­mens un­ge­wiss, ja spe­ku­la­tiv, ob­wohl er re­fle­xiv auch wie­der in den ei­gent­li­chen Markt­wert ein­fliesst (wenn auch nur in­di­rekt, bei­spiels­wei­se durch im­ma­te­ri­el­le Zu­ord­nun­gen). Den­noch hat ein Un­ter­neh­men (um die­sen Ver­gleich fort­zu­füh­ren) letzt­lich nur ei­nen »Wert« – ge­nau wie das Kunst­werk (wel­ches ja auch Schwan­kun­gen un­ter­wor­fen ist).

Net­wor­king statt Ein­zel­kämp­fer

Er­gie­big ist Graws Buch in der Schil­de­rung der Ve­flech­tung der ein­zel­nen »In­sti­tu­tio­nen«, die den Markterfolg…zum Maß al­ler Din­ge und zum Grad­mes­ser künst­le­ri­scher Qua­li­tät ma­chen. Da sie sich ge­le­gent­lich nicht mit nor­ma­len Vo­ka­bu­lar zu­frie­den­gibt, wird hier­für den sper­ri­ge (ver­mut­lich je­doch pas­sen­de) Be­griff der Kon­se­kra­ti­ons­in­stan­zen ein­ge­führt. Nicht nur hier zeigt sich, dass die Au­torin von der (zu­nächst) de­skrip­tiv-neu­tra­len Hal­tung, die ei­ne ge­wis­se Re­ser­viert­heit ge­gen­über der be­schrie­be­nen Dy­na­mik zeigt, ir­gend­wann so­zu­sa­gen zwi­schen den Zei­len im­mer mehr ins Be­ja­hen­de ab­drif­tet, so dass es dem Le­ser ge­le­gent­lich er­scheint, als sei das Buch von zwei Au­toren ge­schrie­ben wor­den, de­ren Sät­ze ir­gend­wann zu­sam­men­mon­tiert wor­den sei­en.

Ei­ner­seits ist es für sie fol­ge­rich­tig, dass der Markt à la longue auf be­stimm­te Kon­se­kra­ti­ons­in­stan­zen an­ge­wie­sen ist, die künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­on le­gi­ti­mie­ren, an­de­rer­seits kon­sta­tiert sie, dass der Markt ei­ne Art »per­ma­nen­tes öko­no­mi­sches Tri­bu­nal« sei. Sie mo­niert das Vor­drin­gen ei­ner Markt­lo­gik, die sich in letzt­lich un­durch­schau­ba­ren Ran­king­sy­ste­men oder ob­sku­ren Hit­li­sten zeigt und be­an­stan­det teil­wei­se em­pha­tisch, dass Kri­ti­ker im­mer mehr ih­re neu­tra­le Po­si­ti­on zu Gun­sten ei­ner Rol­le von Glaub­wür­dig­keits­lie­fe­ran­ten über­neh­men, die gut fürs Ge­schäft sind, weil sie je­ne Be­deu­tung pro­du­zie­ren, die den Markt­wert letzt­lich le­gi­ti­miert (die Kri­ti­ker wol­len wohl auch ein biss­chen von der Gold­rausch­stim­mung pro­fi­tie­ren, in dem sie dem pri­va­ten Ga­le­ri­sten er­lau­ben, sie für ei­nen Text gut zu be­zah­len) und pro­ble­ma­ti­siert an­de­rer­seits das markt­fer­ne Selbst­ver­ständ­nis von Tei­len der Kri­tik. Ei­ner­seits scheint sie den Pa­ra­dig­men­wech­sel, der den Markt­er­folg als äs­the­ti­sches Kri­te­ri­um fest­schreibt, zu kri­ti­sie­ren, an­de­rer­seits ent­fal­tet sie am En­de des Bu­ches an di­ver­sen von ihr so ge­nann­ten markt­re­fle­xi­ven Kunst­wer­ken ei­ne gut ge­öl­te Ex­ege­se­ma­schi­ne, der bei­spiels­wei­se der In­ter­pre­ta­ti­ons­wal­ze des mär­chen­deu­ten­den Eu­gen Dre­wer­mann in nichts nach­steht.

Das Buch hat aber auch sehr in­ter­es­san­te und er­he­ben­de Mo­men­te. Et­wa, wenn Graw aus­führ­lich auf die In­ter­de­pen­den­zen und ge­gen­sei­ti­gen Ver­strickun­gen der Kon­se­kra­ti­ons­in­stan­zen ein­geht und ei­ne ge­konn­te und poin­tier­te Sicht auf die Kunst­welt als netz­för­mig or­ga­ni­sier­te »Kon­takt­welt« gibt, was letzt­lich fast zwangs­läu­fig in den »Net­wor­king-Im­pe­ra­tiv« mün­det. Zwar über­neh­men Auk­ti­ons­häu­ser im­mer noch die Rol­le von Kre­dit­in­sti­tu­ten und Kri­ti­ker wer­den (wie be­reits er­wähnt) zu Be­deu­tungs­pro­du­zen­ten, aber die Rol­len von Ga­le­ri­sten, Ku­ra­to­ren und Samm­lern wei­sen in­zwi­schen oft Über­schnei­dun­gen auf. Kri­ti­ker sind in­zwi­schen auch Ga­le­ri­sten und/oder Ku­ra­to­ren, Auk­tio­nen be­stücken Ga­le­rien – je­der macht ir­gend­wann ein­mal al­les und das führt zu Rollenkonflikte[n] (Graw ver­schweigt hier aber­mals ih­re ei­ge­nen po­ten­ti­el­len In­ter­es­sen­kon­flik­te nicht), die letzt­lich ei­nen Man­gel an Selbst­re­fle­xi­on zur Fol­ge ha­ben. Dies wird ein­dring­lich und mit of­fen­sicht­lich ho­her Ver­traut­heit ge­schil­dert, wenn auch oh­ne di­rek­te Be­ur­tei­lung die­ses Prin­zips; (mo­ra­li­sche) Ent­rü­stung scheint ihr fremd sein. Auch un­ter­lässt sie es, Be­le­ge aus dem »Näh­käst­chen« bei­zu­steu­ern.

Die Auf­he­bung der klas­si­schen Kom­pe­tenz­pro­fi­le führt zu ei­nem Ko­ope­ra­ti­ons­zwang. Der Geg­ner von heu­te könn­te der drin­gend be­nö­tig­te Ko­ope­ra­ti­ons­part­ner von mor­gen sein. Freund­schaf­ten wer­den un­ter rein öko­no­mi­schen Ge­sichts­punk­ten ge­schlos­sen (ein we­nig holp­rig das Bei­spiel van Gogh/Gauguin, um dies nicht aus­schliess­lich als zeit­ge­mä­sses Phä­no­men zu be­schrei­ben). Der Ein­zel­kämp­fer ist weit­ge­hend chan­cen­los, er fun­giert höch­stens noch als ei­ne Art Künst­ler-Künst­ler, der da­zu neigt sein gan­zes Le­ben in Form von als »le­gen­där« er­ach­ten­den Auf­trit­ten in die Waag­scha­le zu wer­fen. Am Mo­dell des Künst­ler-Künst­lers ent­deckt Graw die Dif­fe­renz zwi­schen ei­nem ho­hen Kult­welt, der in der je­wei­li­gen Per­son be­grün­det liegt und ei­nem eher ge­rin­gen Markt­wert, da die Kunst­wer­ke oft ver­gäng­lich und kei­ne fe­sten Ge­gen­stän­de sind. Der Künst­ler-Künst­ler, der an­fangs (ober­fläch­lich be­trach­tet) für ei­ne Ver­wei­ge­rung der Kom­mer­zia­li­sie­rung steht, geht bei Graw spä­ter in den Ce­le­bri­ty über – das zwei­fel­los ge­lun­gen­ste Ka­pi­tel des Bu­ches.

Ce­le­bri­ty: Ver­schmel­zung von Le­ben und Werk

Ein Ce­le­bri­ty ist zu­nächst ein­mal ei­ne om­ni­prä­sen­te Fi­gur, die als »Pro­dukt« aus­schliess­lich ih­re ei­ge­ne Be­rühmt­heit »be­sitzt« und die­se ver­mark­tet. Ihr Le­ben und ih­re Per­sön­lich­keit sol­len ex­em­pla­risch, her­aus­ra­gend und der Re­de Wert sein. Graw be­schreibt nun, wie der Kunst­markt die­se Form der Selbst­ver­mark­tung ak­ku­mu­liert und da­mit das Pro­jekt der Avant­gar­de prak­tisch voll­endet. Sie nennt dies bio­po­li­ti­sche Wen­de. Der Künst­ler, der ja im­mer­hin im Ge­gen­satz zum Ce­le­bri­ty das Kunst­werk (im Ide­al­fall ein Œu­vre) an­zu­bie­ten kann, wird zum lebende[n] Be­weis. Die Le­gen­de vom Künst­ler wird im­ple­men­tiert, der sein Le­ben als fun­da­men­ta­le Ka­te­go­rie, wel­ches min­de­stens eben­so sehr wie das Werk un­ser In­ter­es­se ver­dient de­fi­niert und in­sze­niert wird und dann zu­sam­men mit dem Kunst­werk dem neo­li­be­ra­len Re­gime dar­bringt (är­ger­lich in die­sem Zu­sam­men­hang, dass Graw den Be­griff »neo­li­be­ral« meh­re­re Ma­le im land­läu­fi­gen, al­so fal­schen Sinn ver­wen­det, ob­wohl sie ihn auch min­de­stens zwei­mal kor­rekt ver­wen­det und so­gar er­läu­tert).

Graw zi­tiert die Schau­spie­le­rin An­ge­li­na Jo­lie, die mein­te, ihr Pro­dukt [be­stün­de heu­te] zu 80% aus ih­rem Pri­vat­le­ben, aus »al­ber­nen und er­fun­de­nen Ge­schich­ten« oder dem, was sie an­ha­be. Das Ver­hält­nis zwi­schen »Le­ben« und »Werk« ist, so die The­se, grund­sätz­lich met­ony­misch, al­so durch Ver­schie­bung und Über­tra­gung cha­rak­te­ri­siert. Wie bei Ce­le­bri­ties fär­ben Le­ben und Werk des Künst­lers auf­ein­an­der ab und be­grün­den ei­nen Kult des Au­then­ti­schen. Schön wenn sie be­schreibt, wie Er­folg und auch Schei­tern der Prot­ago­ni­sten in fast bi­bli­schen Di­men­sio­nen Heils­er­war­tun­gen und Sehn­süch­te be­die­nen, die längst au­sser­halb jeg­li­chen Werks­kon­tex­tes lie­gen. Ob­wohl Graw mit gro­sser Stren­ge bei der Be­trach­tung der Kunst­sze­ne bleibt, las­sen sich hier sehr gut Par­al­le­len bei­spiels­wei­se zum Li­te­ra­tur­be­trieb fest­stel­len.

Vom Ce­le­bri­ty-Künst­ler ist es nur noch ein klei­ner Schritt zur Ce­le­bri­ty-Kul­tur, wel­che die von der Kul­tur­kri­tik re­gel­mä­ssig auf­ge­ru­fe­ne (und ver­damm­te) »Spektakelkultur«…abgelöst hat. Graw über­sieht zwar, dass die »Spek­ta­kel«- bzw. »Skan­dal­kul­tur« als be­kannt­heits­stif­ten­des Re­qui­sit im­mer noch oft ge­nug prak­ti­ziert wird (und sie un­ter­lässt es, hier die me­dia­len Me­cha­nis­men her­aus­zu­ar­bei­ten), aber vom Prin­zip her neigt man da­zu, ihr zu­zu­stim­men.

Der »markt­re­fle­xi­ve« Künst­ler

Den »Ur­va­ter« des Ce­le­bri­ty-Künst­lers sieht Graw in An­dy War­hol, der in den 60er Jah­ren vom blo­ssen Par­ty­gän­ger zum In­be­griff des markt­re­fle­xi­ven Künst­lers wur­de, schon insofern…als er das Markt­ge­sche­hen zu sei­nem künst­le­ri­schen Ma­te­ri­al er­klär­te, oh­ne sich mit sei­ner blo­ßen Ab­bil­dung zu be­gnü­gen und dies ob­wohl (oder ge­ra­de weil?) die Bil­der der Pop Art-Kollegen…Lichtenstein oder Johns weit hö­her be­wer­tet wor­den wa­ren.

Mit der Im­ple­men­tie­rung des markt­re­fle­xi­ven Künst­lers, der aus der Ce­le­bri­ty-Kul­tur her­vor­geht und sie wohl über­win­den soll, er­lei­det Graw je­doch ve­ri­ta­blen Schiff­bruch. Mit markt­re­fle­xi­ven Ge­sten soll der Rück­be­zug auf ein Markt­ge­sche­hen um­schrie­ben sein, von dem sich der Ge­sti­ku­lie­ren­de selbst nicht aus­nimmt. Die­sem Markt­ge­sche­hen wird in sei­ner je­wei­li­gen hi­sto­ri­schen Ver­fasst­heit be­geg­net – sei es, dass die struk­tu­rel­le Nä­he des Kunst­markts zum Fi­nanz­markt be­haup­tet wird, sei es, dass den Aus­wir­kun­gen des Ce­le­bri­ty-Prin­zips auf künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­on nach­ge­gan­gen wird. Fast glaubt man ver­stan­den zu ha­ben, da heisst es dann aber, dass un­ter Markt­re­fle­xi­on nicht das un­mit­tel­ba­re Hin­ein­ra­gen des Mark­tes in die künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­on zu ver­ste­hen sei. Was ist al­so kon­kret ge­meint, wenn ge­sagt wird, dass markt­re­fle­xi­ve Gesten…die Markt­be­din­gun­gen im Hin­blick auf de­ren po­ten­ti­el­le Ver­än­der­bar­keit auf­grei­fen?

Die Bei­spie­le, die Graw dann auf­führt (von Gu­st­ave Cour­bet über Mar­cel Duch­amp, Yves Klein [nach Graw ein Vor­rei­ter der…»Eventkultur«], Da­mi­en Hirst [des­sen ab­ge­klär­ter Markt­rea­lis­mus vor­ge­führt wird], Mer­lin Car­pen­ter, Jeff Ko­ons bis zur Ak­ti­on von An­drea Fra­ser, die auf ei­nem Vi­deo mit ei­nem ih­rer Samm­ler se­xu­ell ver­kehrt [Un­tit­led, 2003]) ent­wickelt Graw die be­reits an­ge­spro­che­nen, ein­drucks­vol­len In­ter­pre­ta­ti­ons­mo­del­le, die je­doch we­nig über­zeu­gen, da das, was sie als Markt­re­fle­xi­vi­tät de­fi­niert letzt­lich nur noch aus kom­mer­zi­el­len Er­wä­gun­gen her­aus pro­du­ziert scheint (in­klu­si­ve ge­le­gent­li­chem Skan­dal­an­teil) und da­mit schlicht­weg das Be­die­nen ge­wis­ser Er­war­tungs­hal­tun­gen be­frie­digt. Ei­ne Markt­re­fle­xi­vi­tät, die den Markt auf ei­ne markt­kon­for­me (und so­mit vor­her­seh­ba­re) Art und Wei­se be­dient, weil sie glaubt, die Ver­hält­nis­se nicht mehr än­dern zu kön­nen, ver­kommt zur blo­ssen Af­fir­ma­ti­on (wenn sie nicht in Zy­nis­mus ab­glei­tet, was im Zwei­fel schwer zu ent­schei­den sein kann).

Bei all die­sen Über­le­gun­gen spielt üb­ri­gens ver­blüf­fen­der­wei­se der Kunst­be­trach­ter und Mu­se­ums­be­su­cher in »Der gro­ße Preis« kei­ne Rol­le. Er bleibt wohl ent­we­der Ce­le­bri­ty-Grou­pie mit »Bun­te«, »Va­ni­ty Fair« oder »Ga­la« als Re­fe­renz­me­di­en oder wird zum ak­kla­mie­ren­den Kon­su­men­ten de­gra­diert, der im Mu­se­um schon rou­ti­niert zur Er­klär­ma­schi­ne per Kopf­hö­rer greift und im »Mu­se­ums­shop« am En­de drei Kunst­post­kar­ten für zwei Eu­ro das Stück kau­fen darf, be­vor er sich dann ir­gend­wann ob die­ses so­lip­si­stisch-gross­mau­li­gen Ge­ha­bes ei­ner sich selbst ge­nü­gen­den Kunst­schicke­ria mehr oder we­ni­ger an­ge­ekelt ab­wen­det.

Wenn Graw rich­ti­ger­wei­se den Ge­stus des Markt­ver­wei­ge­rers als mei­stens un­glaub­wür­di­ge Po­se her­aus­ar­bei­tet (weil er letzt­lich auch nur auf den Markt re­kur­riert), so ist der markt­re­fle­xi­ve Künst­ler im Er­geb­nis nichts an­de­res als je­mand, der dem Kom­merz in ei­nem selbst­re­fe­ren­ti­el­len Sy­stem er­liegt. Ob er des­sen Ge­setz­mä­ssig­kei­ten ana­ly­siert hat und kühl mit ih­nen spielt oder ob es sich um ei­nen pri­mi­ti­ve­ren, tri­via­li­sier­ten Vor­gang han­delt, spielt dann letzt­lich kei­ne Rol­le mehr. Wo da die Kunst als em­pha­ti­sches Aus­drucks­me­di­um bleibt, wird nicht the­ma­ti­siert.

Mit­ten in die­sem Amal­ga­mie­rungs­pro­zess zwi­schen Kunst und Markt be­wegt sich Isa­bel­le Graw als He­roi­ne des Be­schrei­bens. Ge­nau wie der markt­re­fle­xi­ve Künst­ler, er­liegt sie fast wil­lig den (schein­ba­ren) Rea­li­tä­ten, in dem sie die­se als Fa­tum de­fi­niert und durch ei­ne kru­de The­se über »Markt­re­fle­xi­vi­tät« auf­zu­wer­ten ver­sucht.

Auf der vor­letz­ten Sei­te traut dann der Le­ser sei­nen Au­gen nicht. Graws ei­ge­nes Ver­hält­nis zu Markt, Markt­ge­sche­hen und markt­erfolg­rei­chen Prak­ti­ken sei von Am­bi­va­lenz ge­prägt er­fah­ren wir da. Sie ste­he bestimmte[n] Ent­wick­lun­gen – et­wa dem…Siegeszug des Markt­er­folgs – ab­le­hend ge­gen­über und ver­fol­ge das Ge­sche­hen mit ei­ner Art schau­dern­der Be­gei­ste­rung. Sie nennt ih­re Stu­die plötz­lich »Fas­zi­na­ti­ons­ana­ly­se« und Form der Gesellschaftskritik…die Di­stanz zu den Ver­hält­nis­sen, in die sie gleich­sam ein­ge­bun­den ist, re­kla­miert, um die­sen Ver­hält­nis­sen aber auch fas­zi­niert zu­zu­schau­en und bei­zu­woh­nen.

Die­ser Spa­gat ist, mit Ver­laub, miss­lun­gen; die Keh­re un­glaub­wür­dig. Hier trifft das ein­fa­che Bild von je­man­dem, der den Ku­chen gleich­zei­tig es­sen und be­hal­ten woll­te. Was das Buch den­noch le­sens­wert macht, ist ei­ne Fül­le von De­tails, die dem in­ter­es­sier­ten Le­ser die Ge­ge­ben­hei­ten des Kunst­mark­tes deut­lich ma­chen. In über­bor­den­der po­li­ti­scher Kor­rekt­heit er­geht sich die Au­torin al­ler­dings lei­der in ein wah­res »In­nen-Ge­wit­ter«, was zu Satz­un­ge­tü­men wie Im Be­reich der bil­den­den Kün­ste sind es ge­wöhn­lich Kunsthistoriker/innen, Kritiker/innen oder Kurator/innen… oder Dar­auf, dass eine/ihre Ga­le­rie auch in schwie­ri­gen Zei­ten zu ihm/ihr hal­ten wird, kann sich mit­hin kein Künstler/keine Künst­le­rin mehr ver­las­sen führt (ach ja, auf Sei­te 40, vor­letz­te Zei­le, wur­de »Spezialist/innen« ver­ges­sen).


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

Ver­meint­li­che Wahr­hei­ten

Ei­ne neue Stu­die zur »La­ge der In­te­gra­ti­on in Deutsch­land«, dies­mal vom »Ber­lin-In­sti­tut für Be­völ­ke­rung und Ent­wick­lung« her­aus­ge­ge­ben sorg­te be­reits ge­stern in Vor­ab­mel­dun­gen für ei­ni­gen Wir­bel. In der Stu­die »Un­ge­nut­ze Po­ten­zia­le« Kurz­zu­sam­men­fas­sung, pdf wird ein »In­te­gra­ti­ons-In­dex« er­mit­telt und ei­ne se­pa­ra­te Be­ur­tei­lung der In­te­gra­ti­ons­er­fol­ge nach Her­kunfts­grup­pen vor­ge­nom­men.

Die er­nüch­tern­de Bi­lanz: »Zum Teil mas­si­ve In­te­gra­ti­ons­män­gel be­stehen da­ge­gen bei Migranten…vor al­lem bei der aus der Tür­kei. Von den hier le­ben­den 2,8 Mil­lio­nen Tür­kisch­stäm­mi­gen ist knapp die Hälf­te schon in Deutsch­land ge­bo­ren. Die­se zwei­te Ge­ne­ra­ti­on schafft es je­doch kaum, die De­fi­zi­te der meist ge­ring ge­bil­de­ten Zu­ge­wan­der­ten aus den Zei­ten der Gast­ar­bei­ter­an­wer­bung aus­zu­glei­chen. So sind auch noch un­ter den in Deutsch­land ge­bo­re­nen 15- bis 64-Jäh­ri­gen zehn Pro­zent oh­ne je­den Bil­dungs­ab­schluss – sie­ben­mal mehr als un­ter den Ein­hei­mi­schen die­ser Al­ters­klas­se. Dem­entspre­chend schwach fällt ih­re In­te­gra­ti­on in den Ar­beits­markt aus.« (Quel­le: Ab­stract der Stu­die – pdf)
Wei­ter­le­sen

Tho­mas Bern­hard: Mei­ne Prei­se

Thomas Bernhard: Meine Preise

Tho­mas Bern­hard: Mei­ne Prei­se

Ei­ne Zeit­rei­se. Ein dé­jà-vu. Er ist wie­der da. Man hält ein neu­es Buch in der Hand, »Mei­ne Prei­se«. Na­tür­lich weiss man – es ist ein nach­ge­las­se­nes Werk. Rai­mund Fellin­ger ord­net es am En­de phi­lo­lo­gisch ein. Um 1980 (viel­leicht 1981) her­um hat­te es Tho­mas Bern­hard fer­tig­ge­stellt; ei­ni­ge Sei­ten des Ty­po­skripts sind fak­si­mi­liert. Für ei­nen kur­zen Nach­mit­tag nur be­ginnt die Wü­ste wie­der zu le­ben. Aber klar, Tho­mas Bern­hard bleibt tot und bis auf wei­te­res sind kei­ne Wun­der zu er­war­ten.

Na­tur­ge­mäss (!) möch­te der Ver­lag ei­ne Art Re­vi­val be­grün­den. Ein neu­es Buch! Zwan­zig­ster To­des­tag! Jo­sef Wink­ler mein­te neu­lich, dass kaum ein Schrift­stel­ler die öster­rei­chi­sche Li­te­ra­tur der 1960er bis 90er Jah­re so be­ein­flusst ha­be wie Tho­mas Bern­hard (zu den Epi­go­nen seufz­te er). Tat­säch­lich war Bern­hard kur­ze Zeit auch der meist­ge­spiel­te Dra­ma­ti­ker auf deutsch­spra­chi­gen Büh­nen. Und heu­te? Bern­hard wer­de von den jun­gen Schrift­stel­lern, so Wink­ler, kaum noch ge­le­sen (ähn­lich wie Hand­ke, aber das ist ein an­de­res The­ma). Wei­ter­le­sen

Das Ver­schwin­den der Kri­tik

Jetzt kön­ne die »Qua­li­täts­de­bat­te« um das deut­sche Fern­se­hen so rich­tig los ge­hen: Auf­bruch­stim­mung im Herbst 2008. Der grei­se Mar­cel Reich-Ra­nicki und ei­ne auf­ge­reg­te Pseu­do­li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin brüll­ten ih­re Fru­stra­ti­on ob des so grot­ten­schlech­ten Fernseh­programms laut (aber weit­ge­hend un­ar­ti­ku­liert) in die Öf­fent­lich­keit. Die Kri­tik (bzw. das, was sich da­für hält) mach­te das, was sie am be­sten kann: Sie stimm­te (teil­wei­se oder em­pha­tisch) zu, be­klag­te dann (lei­der, lei­der) un­ab­än­der­li­che Sach­zwän­ge, unter­fütterte ih­re Re­si­gna­ti­on mit Be­haup­tun­gen – und mach­te nichts, au­sser sich noch über das ZDF zu ent­rü­sten, die ei­ner (frei­en) Mit­ar­bei­te­rin den Ver­trag nicht mehr ver­län­ger­te, die vor­her ge­sagt hat­te, sich für das Pro­gramm (wel­ches sie wo­mög­lich kaum kennt, was ihr aber nichts oder we­nig aus­macht, da sie auch häu­fig über Bü­cher spricht, die sie nicht kennt) zu schä­men.

Das war’s dann auch schon mit der »Qua­li­täts­de­bat­te«.
Wei­ter­le­sen

Lä­cher­li­che Spiel­chen

Wie­der ein­mal ist es ge­schafft: Die Dis­kurs­wäch­ter ha­ben das Mo­no­pol auf ih­re Deu­tungshoheit an­de­ren auf­ge­drängt. Ak­tu­ell im Bei­spiel Tchi­bo und Es­so. Hat­ten bei­de Unter­nehmen (in selt­sa­mer Par­al­le­li­tät) doch die Frech­heit be­ses­sen mit dem (merk­würdig an­mu­ten­den) Spruch »Je­dem den Sei­nen« für ih­re Pro­duk­te zu wer­ben.

Das durf­te na­tür­lich nicht sein. Der schein­bar no­to­risch un­ter­be­schäf­tig­te Zen­tral­rat der Ju­den schmeisst – wie in­zwi­schen üb­lich – ganz schnell die Em­pö­rungs­ri­tu­al­ma­schi­ne an. »Nicht zu über­bie­ten­de Ge­schmack­lo­sig­keit« oder ein Bei­spiel »to­ta­ler Geschichts­unkenntnis« schmet­tern sie dann in die Run­de. Weil wäh­rend der Zeit des Nationalso­zialismus der Spruch »Je­dem das Sei­ne« über dem Ein­gang des Konzentrations­lagers Bu­chen­wald prang­te, scheint es so zu sein, dass das Ei­gen­tum der Rech­te an die­sem ur­sprüng­lich harm­lo­sen Le­bens­hil­fe-Dik­tum aus der An­ti­ke an den Zen­tral­rat überge­gangen zu sein scheint und von nun an im rhe­to­ri­schen Gift­schrank zu ver­blei­ben ha­be. Ob man da­mit den Na­tio­nal­so­zia­li­sten nicht ein biss­chen zu­viel Eh­re zu­kom­men lässt?

Ähn­li­ches durf­te der Mi­ni­ster­prä­si­dent Nie­der­sach­sens, Chri­sti­an Wulff, mit dem Be­griff des »Po­groms« er­fah­ren. Auch hier be­harr­te man auf die Ex­klu­siv­rech­te. Wulff hat­te in ei­ner Talk­show fol­gen­de For­mu­lie­rung ge­braucht: »Ich fin­de, wenn je­mand 40 Mil­lio­nen Steu­ern zahlt als Per­son und Zehn­tau­sen­de Jobs si­chert, dann muss sich ge­gen den hier nicht ei­ne Po­grom­stim­mung ent­wickeln.« Zwei­fel­los ist die­ser Ver­gleich un­an­ge­mes­sen und über­trie­ben. Aber ist er auch ei­ne »nicht hin­nehm­ba­re« Ent­glei­sung, wie die Vor­sitzende Knob­loch na­he legt? Ge­ra­de­zu ab­surd die »For­de­rung« des Ge­ne­ral­se­kre­tärs des Zen­tral­rats der Ju­den, Ste­phan Kra­mer nach ei­nem Rück­tritt des Ministerprä­sidenten. Wulff te­le­fo­nier­te mit Kra­mer, der sich zu­nächst »nicht zu­frie­den« mit der Ent­schul­di­gung des Mi­ni­ster­prä­si­den­ten zeig­te. Ein al­ber­nes Spiel: ein frei­ge­wähl­ter Po­li­ti­ker, der ei­nen blö­den Ver­gleich in­to­nier­te, sich da­für je­doch ent­schul­dig­te, wird öf­fent­lich ei­nem vir­tu­el­len Tri­bu­nal un­ter­zo­gen.

Lang­sam aber si­cher ver­spielt der Zen­tral­rat der Ju­den mit sol­chen lä­cher­li­chen Spiel­chen sei­nen Ruf als in­tel­lek­tu­el­le In­stanz der Bun­des­re­pu­blik. Die Zei­ten ei­nes Ignatz Bu­bis, der sich mit Mar­tin Wal­ser an ei­nen Tisch setz­te und dis­ku­tier­te, sind of­fen­sicht­lich lei­der längst vor­bei. Von Kier­ke­gaard stammt das Bild des Thea­ter­be­su­chers, des­sen Feuer­warnung nicht mehr ge­hört wird, weil er vor­her im­mer sei­nen Spass da­mit ge­trie­ben hat­te. Un­ter der Ägi­de von Char­lot­te Knob­loch rück-ent­wickelt sich der Zen­tral­rat zur pro­fa­nen Dis­kurs­po­li­zei, die mit paw­low­schen Af­fek­ten die »Ver­feh­lun­gen« aus Po­li­tik, Wirt­schaft und Pop­kul­tur ab­stra­fen will. Da­bei scheu­en sie vor kei­nen noch so ab­we­gi­gen Über­trei­bun­gen zu­rück, als müss­ten sie die In­fla­tio­nie­rung der Na­zi-Ver­glei­che (die es zwei­fel­los in ei­ner auf­merk­sam­keits­gei­len Dis­kurs­ge­sell­schaft gibt) mit su­per­la­ti­vem Be­trof­fen­heits­ge­stus kon­tern (viel­leicht ei­ne Fol­ge der lang­sam aber si­cher ein­tre­ten­den Ab­ge­stumpft­heit eben auf­grund über­mä­ssi­ger Or­che­strie­rung).

Die Su­che nach Em­pö­rungs­fut­ter lässt in­zwi­schen so­gar »Bild«-Leserreporter »Na­zi-Klei­der­stän­der« ent­decken. Und in den USA fand man vor an­dert­halb Jah­ren ei­nen Jahr­zehn­te al­ten US-Na­vy-Stütz­punkt in Ha­ken­kreuz­form. Das er­in­nert al­les ein biss­chen an die (be­leg­te) Sze­ne im 1977 ent­führ­ten Flug­zeug »Lands­hut«, als ei­ne Pas­sa­gie­rin vom »An­füh­rer« der Ent­füh­rer, ei­nem ra­sen­den An­ti­se­mi­ten, als »jü­disch« be­schimpft wur­de, weil das Lo­go ih­res Mont-Blanc-Stif­tes für ihn als Da­vid­stern in­ter­pre­tiert wur­de.

Wie wä­re es, nicht mehr je­den Un­sinn und je­den blöd­sin­ni­gen Na­zi-Ver­gleich durch über­trie­be­ne und ir­gend­wann selbst den wohl­wol­len­den Gei­stern ener­vie­ren­de Erre­gungen noch künst­lich auf­zu­wer­ten? Wie wä­re es mit ei­ner rhe­to­ri­schen und ver­ba­len Ab­rü­stung, da­mit tat­säch­lich be­sorg­nis­er­re­gen­de Ent­wick­lun­gen nicht mit dem glei­chen Ge­stus kom­men­tiert wer­den müs­sen wie die de­bi­len Ab­son­de­run­gen di­ver­ser Pro­mis? War­um nicht ein ge­wis­ses Ver­trau­en in ei­ne Dis­kur­s­kul­tur ent­wickeln?

Par­al­lel­welt »Bild«-Zeitung

»War­um es so schwer ist, die ‘Bild’-Zeitung zu kri­ti­sie­ren. Und war­um man es den­noch ma­chen soll­te« lau­tet der Un­ter­ti­tel ei­nes Ar­ti­kels von Ge­org Seeß­len und Mar­kus Metz im ak­tu­el­len »Frei­tag«. Nach holp­ri­gem Be­ginn kommt man in Fahrt:

Die Em­pö­rung un­ter den auf­rech­ten De­mo­kra­ten, so es sie noch gibt, den ver­blie­be­nen Ver­fech­tern ei­ner mo­ra­li­schen Kul­tur der Me­di­en, den ver­spreng­ten Auf­klä­rern, Sprach- und Bild­kri­ti­kern, den Ver­tre­tern von Per­sön­lich­keits­recht und Men­schen­wür­de ist ver­ständ­li­cher­wei­se groß. Auf ei­nen Bei­stand der Par­tei­en, der Stars der Un­ter­hal­tungs­bran­che, der gro­ßen kul­tu­rel­len In­sti­tu­tio­nen, der Ge­werk­schaf­ten und der Kir­chen ge­gen das Sy­stem Bild soll­te nie­mand zäh­len. Wei­ter­le­sen

Pe­ter Slo­ter­di­jk: Theo­rie der Nach­kriegs­zei­ten

Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten

Pe­ter Slo­ter­di­jk: Theo­rie der Nach­kriegs­zei­ten

Es ist ja nicht so, dass sich Pe­ter Slo­ter­di­jk dar­über be­klagt, dass das deutsch-fran­zö­si­sche Ver­hält­nis vom He­ro­is­mus zum Kon­su­mis­mus mu­tiert scheint und in­zwi­schen mit wohlwollende[r], gegenseitige[r] Nicht-Be­ach­tung ver­mut­lich zu­tref­fend cha­rak­te­ri­siert ist. Am En­de emp­fiehlt er ja so­gar den gro­ssen Kon­flikt­her­den der Welt, sich nicht zu sehr für­ein­an­der zu in­ter­es­sie­ren. Denn erst ge­gen­sei­ti­ge Des­in­ter­es­sie­rung und De­fas­zi­na­ti­on las­sen Ko­ope­ra­ti­on und Ver­net­zung zu.

Die The­sen ba­sie­ren auf ei­ner Re­de, die 2007 ge­hal­ten wur­de. Ei­ner­seits wird das deutsch-fran­zö­si­sche Ver­hält­nis skiz­ziert (zu­nächst weit aus­ho­lend und dann doch auf die Zeit nach 1945 kon­zen­triert) und zum an­de­ren die Rol­le Deutsch­lands in Eu­ro­pa be­fragt. Ein Eu­ro­pa, für das die Be­zeich­nung »Nach­kriegs­eu­ro­pa« 64 Jah­re nach En­de des Zwei­ten Welt­kriegs lang­sam ob­so­let sein dürf­te.

»Me­t­a­noia« und »Af­fir­ma­ti­on«

Das 50jährige Ju­bi­lä­um des ge­mein­sa­men Got­tes­dien­stes zwi­schen Ade­nau­er und de Gaul­le im Jah­re 1962 in Reims an­ti­zi­pie­rend (Slo­ter­di­jk greift hier spitz­bü­bisch dem »Ju­bi­lä­ums­jahr« 2012 vor [nur die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land ist da ge­schäf­ti­ger: sie be­ginnt im Jahr 2008 die Fei­er­lich­kei­ten, die so­ge­nann­te »Lu­ther­de­ka­de«, die 2017 ih­ren Hö­he­punkt ha­ben soll]), stellt er trocken, aber wahr­schein­lich zu­tref­fend fest: Es ge­hört fast kei­ne Phan­ta­sie da­zu, um sich die Re­den vor­zu­stel­len, die man…hören wird. Wei­ter­le­sen

Au­gen auf...

Au­gen auf, du bist al­lein: im Bahn­hof von Brigh­ton die saal­ar­ti­ge un­ter­ir­di­sche Toi­let­te, traum­groß, traum­leer, da­zu der Mo­sa­ik­bo­den, und drau­ßen der Voll­mond; Au­gen auf: die vie­len Rot­haa­ri­gen im letz­ten Zug zu­rück nach Lon­don, und zu­vor, Au­gen auf: die, wir, paar Al­lei­ni­gen in der letz­ten Ki­no­vor­stel­lung, am Nach­mit­tag des Weih­nachts­abends in B., Frau­en fast nur, und nach dem Film die Kas­sen des Ki­nos schon mit Hül­len drü­ber

Pe­ter Hand­ke: »Ge­stern un­ter­wegs«; un­da­tiert, aber Weih­nach­ten 1988 zu­zu­schrei­ben

Heu­te war der er­ste Mor­gen, an dem ich auf­wach­te und bis zum Auf­ste­hen ei­ni­ge Mi­nu­ten zu­brach­te, oh­ne di­rekt dar­an zu den­ken, daß ich wür­de ster­ben müs­sen.

Al­eksand­ar Tiš­ma, Ta­ge­bü­cher, aus: Schreib­heft Nr. 71; un­ter dem Da­tum des 25.12.1994