Der Beitrag »Bücherliebhaber gegen ‘Hasen-Pups’ der »Berliner Zeitung« ist inzwischen mehrfach auf Facebook verlinkt und kommentiert worden. Berichtet wird von einem sogenannten »Top-Rezensenten« von Amazon, der inzwischen aufgrund von Cyber-Mobbing ausgestiegen sei. Er habe Drohbriefe erhalten und sei beschimpft worden. Der Leser wird mit der Suche nach den Gründen für diese Kampagnen alleine gelassen. Wen hatte Thorsten Wiedau denn derart angegriffen?
Auch die eingangs erwähnten Zahlen stimmen nachdenklich. In zehn Jahren will er 10.000 Bücher gelesen haben und hat 3.468 »Rezensionen« geschrieben (also fast täglich eine). Und dies, wie so oft betont wird, als »Hobbykritiker« mit teilweise 80 Stunden-Woche Arbeitszeit in seinem Beruf. Um eine Seite zu lesen brauche er, so der Bericht, 45 Sekunden. Für eine »Rezension« verwendet er 30 Minuten. Richtige Beschäftigung mit Literatur klingt anders.
Die 45 Sekunden lassen ahnen, wie dort jemand liest – der Autor Rudolf Novotny hat die Angaben des ehemaligen »Top-Rezensenten« vermutlich nicht überprüft: Bei einer 80 Std-Woche und einem Mittel von 6 Stunden Schlaf pro Nacht kommt man auf 46 Stunden Freizeit pro Woche (ohne beispielsweise Körperpflege und normale soziale Kontakte). 46 Stunden sind 165.600 Sekunden. Berücksichtigt man jetzt nicht weiter das Schreiben der sogenannten Rezension, so kann der Mann in einer Woche bei 45 Sekunden pro Seite 3.680 Seiten lesen. Er will 1.000 Bücher pro Jahr gelesen haben. Das wären 19 Bücher pro Woche. Demzufolge läge die durchschnittliche Seitenzahl pro gelesenem Buch bei 193 Seiten.
Diese Werte beziehen sich – wie gesagt – darauf, dass er nichts mehr anderes gemacht hat, als in seiner freien Zeit zu lesen. Berücksichtigt man das Verfassen der sogenannten Rezensionen, sieht die Rechnung leicht anders aus. Dann müssten 12.600 Sekunden von der Lesezeit abgezogen werden (bei angenommen 7 Texten pro Woche); es blieben jetzt rd. 3.400 Seiten/Woche = 178 Seiten/Buch. Welche Bücher wurden denn besprochen? Im Text ist diffus von »Romanen, Krimis, Kochbüchern, Reiseliteratur« die Rede. »Rezension« wird als »klar und knackig« definiert. 30 Zeilen sollen diese wohl im Schnitt betragen haben (damit ist die genannte Zeit von 30 Minuten merkwürdigerweise sehr hoch gegriffen). Betont wird, dass sich Wiedau offensiv gegen die etablierte Literaturkritik gestellt habe. Mit 30 Zeilen?
Schließlich stilisiert der Beitrag den Top-Rezensenten als »Opfer« einer »Schlangengrube«. Das Amazon-Bewertungssystem wird erläutert und entsprechend kritisiert. Da ist von »Kritikern« die Rede, die »massenhaft« Profile anlegen, um andere Rezensenten abzuwerten. Belegt wird dies nicht. Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass schlechte Amazon-Besprechungen den Buchverkauf einschränken. Auch hier unterbleibt der Beleg. Ungeklärt auch, warum der angeblich so angesehene Top-Rezensent (der angeblich mit Rezensionsexemplaren nur so überschüttet wird) nicht in einem Blog oder einer anderen Plattform reüssieren wollte. (Die Antwort könnte sich aus der o. g. Rechnung und der Qualität seiner Texte speisen).
»Die Rezensionen sind mal gut und mal schlecht geschrieben«, heißt es im Artikel. Am Ende bekommt Frau Löffler noch Gelegenheit, sich in ihrer herablassenden Arroganz zu zeigen. Das rettet den Text aber auch nicht mehr.
Ich las den Artikel als durchaus wohlwollendes Portrait und mochte hier eine persönliche Bekanntschaft des Journalisten mit Herrn Wiedau nicht ausschließen. Es sollte hier auf jeden Fall aber wohl nicht um eine journalistische Darstellung eines Phänomens gehen, was ich nicht zuletzt an den angeführten Kritikpunkten wie bspw. dem Nichthinterfragen der behaupteten Fakten festmachen möchte.
Allerdings möchte ich auf etwas anderes hinweisen, nämlich die in meinen Augen durchaus gegebene Existenzberechtigung solcher Kurzbemerkungen, auch zur Literatur. Insbesondere, wenn es um Gebrauchsliteratur wie Ratgeber, Kochbücher, Krimis etc. geht, für die ein kurzer Hinweis auf die Nützlichkeit vollkommen ausreicht. Nicht ohne Grund läßt ja das Feuilleton solcherlei Literatur gerne links liegen – es gibt häufig auch gar nicht mehr dazu zu sagen als: »Gut gemacht, kann man lesen.« Das ist in meinen Augen auch völlig in Ordnung, nicht immer möchte man wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält und gegen einen gut geschriebenen Krimi für den Urlaub oder eine hübsche Liebesgeschichte für die Badewanne ist überhaupt nichts einzuwenden. Und da tut es denn auch ein kleiner Mehrzeiler zur Begutachtung (und möglicherweise läßt sich damit auch das behauptete Lesetempo erreichen ;) ).
Was aber der Artikel, und das ist auf jeden Fall vorzuwerfen, nicht macht, ist darauf hinzuweisen, daß Frau Löffler etwas völlig anderes macht. Man kann und darf von ihr halten, was man will, aber sie hat vollkommen Recht: Ihre Art der Literaturbetrachtung ist eine völlig andere. Mit einer Lesemaschine wie Herrn Wiedau hätte sie tatsächlich gar nichts zu besprechen, da ist ein Treffen vollkommen unnötig (und da rede ich noch nicht von der Perfidie, mit der versucht wird, sie vorzuführen – an wie viele Gesprächsinhalte erinnert sich der Herr Novotny wohl noch nach 6 Jahren?) Es wird hier aber so getan, als täte Herr Wiedau dasselbe, nur halt unbezahlt und lediglich die (nicht unbedingt abzustreitende) Arroganz des Feuilletonjournalismus unterscheide ihn von den dort tätigen Wächtern der Hochkultur. Es handelt sich um grundverschiedene Herangehensweisen und Ansprüche an Literatur, die ich beide für legitim halte, die aber eben nicht dasselbe sind.
Vielen Dank für diesen Einwurf, dem ich vollkommen zustimme. Die Differenz, die zwischen den (meisten) Amazon-Kritiken und einer Frau Löffler besteht, liegt ja auf der Hand. Sie wird aber zweifach unterlaufen (sowohl im Artikel als auch durch Amazon und ähnliche Portale): Zum einen durch den Begriff »Rezension«. Und zum anderen durch Wiedaus offensiver Angriff auf die Literaturkritik des Feuilletons (bspw. in dem er schreibt, er schlafe bei der Lektüre von Frau Löfflers Texten ein).
Es ist kein spezifisches Problem von Amazon – auch viele andere sogenannte Literaturportale haben es: jeder Zehnzeiler wird zur »Rezension« erklärt. Es ist bezeichnend, dass der Begriff Rezension bzw. Rezensent derart inflationär vergeben wird. Er verschafft (wenigstens bei einigen) einen Distinktionsgewinn. Dabei wird jedes Stammeln, das kaum über die Memorierung des Klappentextes hinaus kommt, als solche bezeichnet. Wiedau hält sich ja für einen »Rezensenten«, der in der Liga von Frau Löffler mitspielen kann. Dabei verwechselt er Masse mit Klasse und meint, viel lesen bedeute automatisch viel Ahnung. Dass sich ein Journalist damit derart identifiziert, halte ich für höchst problematisch.
Das System krankt an der ihm zugewiesenen und am Ende vielleicht tatsächlich bestehenden kommerziellen Relevanz. »Rezensent« sollte eine Art Meistergrad sein, den man sich erwerben müsste. Vorher ist man »Schreiber«. Amazon ist so etwas vollkommen gleichgültig – sie agieren nach dem Masse-Prinzip: Hauptsache, man redet drüber.
In einem alltäglichen Verständnis ist jeder ein Kritiker, der urteilt, der, wie im Artikel angeführt, Freunden oder Bekannten ein Buch empfiehlt oder davon abrät. Vielleicht kann man den teilweise verwendete Begriff »Kundenrezension« etablieren, dann gäbe es auch eine sprachliche Differenz zu »Besprechung« oder »Rezension«. Ähnlich vorgehend, könnte man auch von »Kundenkritik« und »Kundenkritikern« sprechen.
Diese Art von Kritik ist berechtigt, weil sie die Art vieler, auch begeisterter Leser ist, über Bücher zu sprechen, sie ist eine andere Art von Zugang, verglichen mit dem feuilletonistischen (wobei das nicht generell gilt), man kann und soll hier keine Vorschriften machen. Allerdings ist die Öffentlichmachung problematisch, weil ein unausgewogenes Urteil hier mehr Schaden (neben einer Verletzung des Autors; aber auch hier steht die etablierte Kritik nicht immer gut da) anrichten kann, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Leser, das nicht erkennt (ich möchte dem aber entgegenhalten, dass das Urteil über einen geschriebenen Text einfacher zu fällen ist, als diesen selbst zu verfassen, wie es auch einfacher ist, die Arbeit eines Installateurs zu beurteilen, als sie selber durchzuführen). Die Richtschnur ist, wie immer, die Art und Weise der Argumentation.
Amazon hat recht geschickt ein System etabliert, das Eitelkeiten und Bedürfnisse von Kunden kostenlos (be)nutzt, um den Verkauf von Büchern zu fördern — mittlerweile sind die Verlage aufgesprungen (hat man eigentlich jemals von dieser Seite versucht Amazon eine Plattform entgegen zu halten?).
Allerdings bezweifle ich ob Herr Wiedau sich tatsächlich in der Liga von Frau Löffler sieht, wenn man deren Selbstverständnisse vergleicht: »„Ich habe fassungslose Ehrfurcht vor der Arbeitsleistung des Autors. Wer bin ich mit meinen Rezensionen? Ein Nichts! Ein Niemand!“«. Sie hingegen: „Ich habe mich mein halbes Leben lang mit Literaturkritik beschäftigt. Und deshalb rede ich nur mit Leuten, die Ahnung haben. Nicht mit einem, was ist er, Botaniker?“
Ich bin gegen die Verwendung des Begriffs »Rezension«, weil es sich um einen Fachterminus handelt, der etwas suggeriert, was in den meisten Fällen nicht geleistet wird. Und natürlich sieht sich Wiedau in der Liga mit Frau Löffler, schon weil er diese angreift, wie man hier ansatzweise im Perlentaucher-Duktus nachlesen kann (den Original-Artikel aus dem Börsenblatt habe ich nicht gefunden): »Professionell verfasste Kritiken seien entweder für viele Zeitungsleser unverständlich oder sie lösten gelangweilte Reaktionen aus, meint der Hobbyrezensent.«
Abgesehen davon, dass die Aussage über die Langeweile eine Behauptung darstellt, ist dem zweierlei entgegen zu halten: Zunächst einmal ist der Kritiker nicht unbedingt für die Überforderung des Lesers verantwortlich (etwas anderes ist die Literaturwissenschaft, die sich gerne in ihrem Jargon separiert). Und zum zweiten ist klar, dass ich mit dieser Feststellung in das »Revier« derjenigen eintauche, die ich so kritisiere. Dass er sich später als »Niemand« darstellt, ist natürlich eine Koketterie. In Wirklichkeit ist er vermutlich ein ziemlicher Egomane (das meine ich noch nicht einmal despektierlich).
Wie der Buchmarkt die einfache, leichtverständliche, nach dichotomischen Weltbildern verfasste Kritik herbeisehnt kann man am Erfolg der Formate »Das literarische Quartett« und vor allem von Heidenreichs »Lesen!« feststellen. Reich-Ranicki behandelte die zu besprechenden Bücher wie ein Richter Anklageschriften (»Der nächste Fall...«). Das vollkommene Verschwinden von Literaturkritik ist dann bei Heidenreich zu beobachten. Wenn man polemisch sein will ist sie die Mutter der Amazon-Dilettanten à la Wiedau, die glauben, nur weil sie ein Buch durchblättern, haben sie es schon verstanden und seien berufen, es zu beurteilen.
Dennoch finde ich nichts Schlimmes daran, wenn solche »Kritiken« veröffentlicht werden. (Schrecklich finde ich allerdings dieses Sterne-System; eine Beleidigung für jeden kreativ arbeitenden Menschen.) Amazon (und auch andere, wie beispielsweise hier) sollten die Angelegenheit jedoch besser kontrollieren, d. h. zur Not Kriterien einfordern. Um die Mehrfachprofile einzudämmen wäre unbedingt eine Legitimation (die bei Amazon verbleibt und nicht veröffentlicht werden muss; das Pseudonym kann so geschützt bleiben) erforderlich. Ändert man nichts zeigt man ja nur, wie desinteressiert man in Wirklichkeit an dem Buch (bzw. Artikel) ist.
Im übrigen: Wer sich von solchen »Kritiken« beeinflussen lässt – dem ist eh’ nicht zu helfen.
@Gregor
Natürlich wäre ein anderer Begriff besser, allerdings lässt sich Sprachverhalten und ‑verwendung nicht steuern (was auch gut ist). Wenn man böse sein will, dann kann man vermuten, dass der Rezensionsbegriff absichtlich aus Gründen von Suggestion gewählt wurde (wobei es sicherlich auch die einfachste Lösung war).
Um das beurteilen zu können, müsste ich den Artikel aus dem Börsenblatt kennen. Herr Wiedau versucht m.E. eher seine Art der Buchbesprechung zu rechtfertigen und zu verteidigen, immerhin eine Angelegenheit, der er sich leidenschaftlich gewidmet hat. Er kann doch Frau Löffler nicht einfach das Feld zur Gänze überlassen, ohne sein Tun preiszugeben.
Mir sind Sternchenwertungen zu grobschlächtig und nichtssagend, als dass ich sie beachte. Und klar: Mehr Kontrolle und Legitimation wären wünschenswert, aber das reduziert möglicher Weise die Zahl der positiven Wertungen und wird vielleicht von Seiten des Betreibers nicht gewünscht.
Ja, das hoffte ich angedeutet zu haben: Jemand der solche »Besprechungen« mag, hat sowieso ein gänzlich anderes Interesse an Literatur oder an Büchern.
Sternchenwertungen kommt in einer Affektgesellschaft natürlich gut an. Hätte man doch wenigstens eine gerade Zahl der Bewertungsstufen gewählt. Bei ungeraden Möglichkeiten (3, 5 oder 7) wird die Mittelkategorie (2, 3, 4) sehr gerne gewählt – u. U. auch dann, wenn man sich gar nicht so intensiv auseinandergesetzt hat. Aber auch das dürfte eine gewollte und programmatische Entscheidung sein.
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Wiedaus Text von 2006 habe ich nicht gefunden. Auf seiner Amazon-Seite hat er einen »Nachruf« verfasst, der seine Verfassung durchaus gut zeigen dürfte. Gipfel des Schwulstes ist das hier: Ein Leben dem Buch auf dieser Plattform gewidmet geht nunmehr zu Ende, doch seine Liebe zum Buch ist nicht erloschen. Möge dereinst woanders ein Licht leuchten und alle wahren Buchliebhaber versammeln um einem Medium zu dienen das wie wohl kein zweites alle Menschen und ganze Gesellschaften weltweit veränderte. Ideen in die Weite des Universums hinaus sendete und es der Menschheit ermöglichte die ganze Schönheit der Schöpfung zu erkennen. – Hier kann man auch seine »Rezensionen« lesen.
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Sehe gerade, dass auch die Frankfurter Rundschau den Artikel nun »übernommen« hat. Soviel dann zur Vielfalt...
Bei DVDs und bei Hörbücher finde ich Amazon-»Rezensionen« oft sehr hilfreich: Man kann recht schnell erkennen, wer wirklich in der Materie steckt – unter anderem weil diese »Rezensenten« sich die Mühe machen, über Dinge wie massive Kürzungen gegenüber dem Original (sei es Text oder Serien-Original), Umschnitte, schlechte Synchronisation und andere Dinge zu informieren – was in der Produktinfo bei Amazon selbst meist fehlt. Da sind extrem kompetente, versierte und engagierte Menschen unterwegs, die zum Teil auf dem Niveau von Feuilletons agieren. Das liegt aber auch sicher daran, dass sich Hörbuch und DVD noch nicht so ganz selbstverständlich als Thema für das große Feuilleton etabliert haben. Das kommt ja gerade erst (zumindest bei der FAZ, die das auch ganz ordentlich macht).
@Gregor
Bezüglich des Nachrufs hast Du völlig recht (da möchte ich die »Rezensionen« erst gar nicht lesen).
@Doktor D
Da sehen Sie mal, wie eingeschränkt mein Blick ist. Aber es ist natürlich klar, dass es auch bei Amazon kompetente Kenner gibt.
Im übrigen glaube ich ja, dass der Wert der von mir inkriminierten Buch-Rezensionen in dreifacher Hinsicht überschätzt wird:
1. Der Autor überschätzt sie (insbesondere, wenn es sich im negative Texte handelt und er/sie glaubt, potentielle Leser würden abgeschreckt).
2. Amazon überschätzt sie als Maßstab für die Kompetenz ihrer Kunden.
3. Die sogenannten »Rezensenten« überschätzen ihre Wirkung. Dieser Frust ist aus Wiedaus Aussagen deutlich herauszuhören.
Wie gesagt, damit sind nicht die von Ihnen und Gachmuret angesprochenen Nischenkenner gemeint.
@Gregor Keuschnig: Mich würde interessieren, was den Journalisten bewegt hat, Wideau in das Zentrum eines Artikels zum Phänomen »Kunden-/Leser-Empfehlungen bei Amazon« zu machen. Ein mittelalter Mann, der sich für einen Feuilletonisten hält, wie Sie zurecht unterstreichen, ist überhaupt nicht typisch für Amazon-Rezensenten. Auch hier dominieren Leserinnen – und ganz viele Texte basieren auf Fan-Tum (das kann auch eine Form von Kompetenz sein, führt aber auch ganz gerne zu bösartigen Kommentaren zu Kritikern, die es gewagt haben, einen geliebten Text schlecht zu finden.) Und die nun wirklich weit bekannte Tatsache, dass Autoren, PR-Menschen von Verlagen und auch die Freunde und Verwandten der Autoren in den »Rezensionen« zugange sind, als den Hot-Topic in der literarischen Internet-Welt zu präsentieren, das ist doch wirklich lächerlich und unseriös. Wäre Novotny wirklich an Aufklärung interessiert (oder hätte sich ein bisschen mehr in das Thema vertieft), hätte er besser mit Leuten sprechen sollen, die ihm was zu den Algorithmen und statistischen Verfahren, die hinter behavioural targeting stecken, erzählen können. Subjektivität / Individualität ist da ein statistisches Phänomen, sonst garnichts. Offensichtlich hat Wideau (und auch Novotny) überhaupt nicht verstanden, welche Rolle die »Rezensionen« im Amazon-Business Modell spielen. Ausgerechnet in einem System, das schlicht und ergreifend statistisch funktioniert (also auf vielen Klicks, vielen Kunden, vielen Empfehlern, vielen Feedbacks etc.), auf das dort völlig obsolete Modell des Kritikers im Rahmen einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu rekurrieren – das demonstriert eine solche Ignoranz gegenüber beiden Modellen, das ist eigentlich Satire.
@Doktor D
Es ist eigentlich erstaunlich, dass, wie Sie schon ansprechen, in dem langen Artikel von Frau Löffler abgesehen, nur eine Sichtweise dargestellt wird (und nicht die von Kunden, Entwicklern, usw.).
Aber ist es tatsächlich so, dass für den Kunden, der an einem Buch interessiert ist, die bloße Anzahl der »Rezensionen« eine Rolle spielt?
@metepsilonema: Nicht für den Kunden, sondern für das ‘behavioural targeting’ von Amazon. Sehr viele Rezensionen, gleich ob gut oder schlecht, scheinen etwas am Amazon Ranking des rezensierten Werkes zu ändern, was für die Präsentation auf der Startseite oder in den Empfehlungen eine Rolle spielen kann. Viel wichtiger sind aber die eigentlichen Verkaufszahlen und Klickraten sowie das Verhalten des »Targets« also von Doktor D und Metepsilonema im Amazon-Universum – so zumindest vermutet ein Freund, der sich mit behavioural targeting als statistischem Problem beruflich befasst (aber nicht bei Amazon).
Zwischen »Targets« und also muss ein Komma: Viel wichtiger sind aber die eigentlichen Verkaufszahlen und Klickraten sowie das Verhalten des »Targets«, also von Doktor D und Metepsilonema im Amazon-Universum ...
So kann man mich dann vielleicht auch verstehen.
Danke. Wenn ich mich z.B. für Krimis interessiere, scheinen in den Empfehlungen jene an vorderster Stelle auf, die sich gut verkaufen, hohe Klickraten oder eben viele »Rezensionen« aufweisen (etwas vereinfacht, sicherlich).
Oh je, da hätte ich mir den Begriff »Rezension« wohl doch komplett verkneifen sollen ... ;)
(Verzeihung, völlig irrelevanter Kommentar.)
Genau die Erfahrung mache ich auch. Das scheint aber nur bei Genres zu funktionieren, wo die große Zahl an sich schon regiert. Wenn ich Amazon vor allem nach Literaturklassikern oder SWR-Bestenliste-Literatur durchsuche, kommt die Empfehlfunktion immer mal wieder in interessante Schleuderbewegungen. Sehr interessant auch was passiert, wenn man nach Autoren wie Thomas Pynchon oder David Foster Wallace sucht, die auch ein großes Following in Genre-Literatur wie Science Fiction oder Graphic Novel haben – dann wird’s richtig spannend, weil man da in einen ganz neuen Kosmos vorstoßen kann. (So bin ich überhaupt zu Sience Fiction Literatur gekommen, die ich vorher für totalen Mist hielt.)
@heinzkamke
So irrelevant ist der Kommentar nicht. Ich wende den Begriff »Rezension« auf mein Geschriebenes selber nicht (oder nur unwillig) an. (Wie Sie gelegentlich so schön schreiben: »...aus Gründen«)
Unumgängliche Nachfrage:
Um nicht mit den Zehnzeiler-Rezensionen in einem Topf zu landen oder mangels offiziellen Rezensions-Meistergrades?
(Ich unterstelle, Sie meinen Letzteres, und werde mich selbstverständlich hüten, so zu tun, als sei ich in einer Position, um über dessen Vergabe zu befinden. Und doch: Es fällt mir schwer, Ihre, was denn nun, Kritiken?, nicht als Rezensionen zu betrachten.)
@heinzkamke
Der Begriff »Rezension« ist mir zu apodiktisch; ich komme mir damit in ein festes Genre eingebunden vor. Rezensionen haben bestimmten formalen Kriterien zu gehorchen (von denen diese Amazon-Vielleser entweder keine Ahnung haben oder die sie in ihrer dummen Einfalt einfach ignorieren). Das ist mir zu eng, zwängt mich zu sehr in ein vorgegebenes Muster ein (und macht – nebenbei – angreifbar). Hinzu kommt natürlich die Nähe zum professionellen Kritiker. Insofern wäre »Rezension« eine Anmaßung. Wenn Sie – der Leser – meine Texte (bzw. einen Text) als Rezension betrachtet, ist das okay. Ich kann aber selber schlecht dieses Urteil fällen. (Ähnlich geht es mir mit dem Begriff des »Künstlers«. Leute, die sich in jedem dritten Satz selber als »Künstler« bezeichnen, betrachte ich skeptisch. Zum Künstler wird man ernannt.)
Der Ausschlag hat eine kleine Notiz in eines von Peter Handkes Notizbüchern gegeben. Dort steht: »Statt ‘Kritik’ sag ‘Begleitschreiben’ «. Ich habe keine bessere Bezeichnung gefunden (und gleich den Blog danach benannt...).
Hätte ich ja auch mal drauf kommen können, dass »Begleitschreiben« der passende Begriff sei. Danke schön für die ausführliche Erläuterung.
(Und Verzeihung für den oben gesetzten Smiley – geschickter Schachzug, diese Umwandlung in grafische Smileys, die dem jeweiligen Setzer den Fehltritt sehr deutlich vor Augen führt.)