»Neh­men und Le­sen«

Ludwig Hohl: Die seltsame Wendung
Lud­wig Hohl: Die selt­sa­me Wen­dung

Aus An­lass des 120. Ge­burts­tags von Lud­wig Hohl im näch­sten Jahr ver­öf­fent­licht der Suhr­kamp-Ver­lag un­ter Ku­ra­tie­rung der Lud­wig-Hohl-Stif­tung im Rah­men der Bi­blio­thek Suhr­kamp-Rei­he gleich fünf Tex­te in vier Bü­chern des 1980 ver­stor­be­nen Schwei­zer So­li­tärs. Vier da­von sind bis­her un­ver­öf­fent­lich­te Wer­ke; ei­ner er­schien 1949 vom Dich­ter im Selbst­ver­lag. Wäh­rend Die selt­sa­me Wen­dung als No­vel­le be­zeich­net wur­de, nann­te Hohl die an­de­ren vier »Be­richt«. Die For­schung ru­bri­ziert die fünf Tex­te, ent­stan­den zwi­schen 1929 und 1949, als »ge­schlos­se­ne Grup­pe«.

Lud­wig Hohl, 1904 ge­bo­ren, war, wie Pe­ter Bich­sel ein­mal sag­te, ein Schrift­stel­ler, der das Pech hat­te, zeit sei­nes Le­bens »Ge­heim­tip« zu sein. Der Va­ter war Pfar­rer, die Mut­ter ei­ne Toch­ter ei­nes Pa­pier­fa­bri­kan­ten. Im Ok­to­ber 1924 ver­ließ Hohl mit sei­ner da­ma­li­gen Freun­din fast flucht­ar­tig die als eng emp­fun­de­ne Welt des groß­bür­ger­li­chen El­tern­hau­ses und zog nach Pa­ris. Er leg­te den Vor­na­men Ar­nold – es war der sei­nes Va­ters ab – und nann­te sich fort­an »Lud­wig«. Der jun­ge Hohl ver­stand sich als Künst­ler. Kurz zu­vor wa­ren ei­ni­ge Ge­dich­te von ihm pu­bli­ziert wor­den. Nun al­so in der Me­tro­po­le der Kunst, in Pa­ris, in der Nä­he des Mont­par­nas­se. Aber Hohl fass­te schwer Fuß. Von den El­tern gab es nur un­re­gel­mä­ßig Zu­wen­dun­gen; den Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te an­fangs die Freun­din. Er streif­te mit sei­nem No­tiz­buch durch die Bars und Ca­fés und rasch krei­ste auch die Fla­sche.

Er­folg­lo­sig­keit, Al­ko­hol, die Tren­nung von der Freun­din – in die­sem Kli­ma ent­stand Die selt­sa­me Wen­dung im Jahr 1929. Der bio­gra­phi­sche Kon­text ist deut­lich, auch wenn hier, an­ders als in den Be­rich­ten nicht in der Ich-Form, son­dern per­so­nal er­zählt wird. Haupt­fi­gur ist ein na­men­los blei­ben­den Ma­ler, der sich »im Mont­par­nas­se« nie­der­lässt. Zu­nächst wohnt er in ei­nem Ho­tel, be­kommt von ei­nem Ver­wal­ter re­gel­mä­ßig Geld zu­ge­schickt, wel­ches für ei­ne be­stimm­te Zeit rei­chen soll. Spä­ter passt er den Geld­fluss sei­nen bis­wei­len ex­zes­siv aus­ge­leb­ten Be­dürf­nis­sen an, bis schließ­lich nichts mehr vor­han­den ist.

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Pe­ter Slo­ter­di­jk: Zei­len und Ta­ge III

Seit je­her haf­tet Ta­­ge- bzw. No­tiz­buch­schrei­bern ein ge­wis­ser Stoi­zis­mus an: Un­ab­hän­gig von al­len Welt­läu­fen und pri­va­ten Um­ge­bungs­ge­räu­schen set­zen sie sich re­gel­mä­ßig an ei­nen Tisch, um zu schrei­ben, zu re­flek­tie­ren, zu kom­men­tie­ren. Frü­her wur­den Ta­­ge- bzw. No­tiz­bü­cher pro­mi­nen­ter Au­toren zu­meist erst nach de­ren Ab­le­ben pu­bli­ziert. So ver­mied man vor al­lem un­an­ge­neh­me Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Zeit­ge­nos­sen. Ein Man­ko ...

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Flor­jan Li­puš: Die Ver­wei­ge­rung der Weh­mut

Florjan Lipuš: Die Verweigerung der Wehmut
Flor­jan Li­puš: Die
Ver­wei­ge­rung der Weh­mut

Das Gast­land der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2023 ist Slo­we­ni­en. Mit Blick dar­auf, so lässt es der Ver­lag wis­sen, hat man in der Bi­blio­thek Suhr­kamp den Ro­man Die Ver­wei­ge­rung der Weh­mut von Flor­jan Li­puš neu auf­ge­nom­men. Der Au­tor schreibt auf slo­we­nisch, in­so­fern scheint der An­lass stim­mig. Aber der 1937 ge­bo­re­ne Flor­jan Li­puš ist Öster­rei­cher, ei­ner der pro­fi­lier­te­sten Schrift­stel­ler der Min­der­heit der Kärnt­ner Slo­we­nen.

Egal. Man dankt dem Suhr­kamp-Ver­lag für die­se Neu­auf­la­ge des 1985 erst­mals pu­bli­zier­ten Ro­mans, weil ein mar­kan­ter und wich­ti­ger Ti­tel ei­nem lang­sa­men Ver­ges­sen in An­ti­qua­ria­ten ent­ris­sen und nach vie­len Jah­ren wie­der bi­blio­phil prä­sen­ta­bel wur­de. Dass die deut­sche Über­set­zung von Fab­jan Haf­ner aus dem Jahr 1989 da­bei un­an­ge­ta­stet ge­blie­ben ist, muss zu­sätz­lich ge­rühmt wer­den. (Wenn, dann ein klei­ner Ein­wand: ob man je­ne vier oder fünf ei­gen­tüm­li­che Be­griff­lich­kei­ten nicht in ei­nem klei­nen Glos­sar hät­te er­klä­ren kön­nen.)

Die Hand­lung ist rasch er­zählt: Ein Er­zäh­ler, der von sich als »der Rei­sen­de« er­zählt, kommt zur Be­er­di­gung sei­nes Va­ters in sein Hei­mat­dorf zu­rück. Schon die Fahrt mit dem Zug führt zu Dé­jà-vus aus der Kind­heit, die im­mer wie­der auf­blit­zen. Er sieht die Ar­bei­ten auf dem Feld, Deng­ler und Mä­her mit ih­rer Ern­te­last und ima­gi­niert die Wald­ar­bei­ter mit ih­ren Pfer­de­fuhr­wer­ken, die die ge­schla­ge­nen Stäm­me trans­por­tie­ren und auf­pas­sen müs­sen, wenn es berg­ab geht.

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Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Xaver Bayer: Poesie
Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Das neue­ste Buch des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers Xa­ver Bay­er trägt den simp­len Ti­tel Poe­sie. Auf noch nicht ein­mal 100 Sei­ten wer­den in Form ei­nes Lang­ge­dichts schier zahl­lo­se Sin­nes­ein­drücke auf­ge­fä­chert. Da­bei ist die Er­zähl­per­spek­ti­ve ist für die­se Form eher un­ge­wöhn­lich: Es gibt kei­nen di­rek­ten Ich‑, son­dern ei­nen »Man«-Erzähler, so als er­klä­re hier je­mand die Wahr­neh­mun­gen, Bil­der und Emp­fin­dun­gen ei­ner Fi­gur für die je­wei­li­gen Le­ser.

Al­les ist va­ge, nichts kon­kret. Der Ort ist ei­ne Stadt »de­ren Häu­ser­fas­sa­den tä­to­wiert sind«. Der Wind »streift« »ma­ro­die­rend durch den ver­las­se­nen Ba­sar«. Man sieht Ge­bäu­de, de­ren Bal­ko­ne »wie her­aus­ge­zo­ge­ne Schub­la­den« aus­schau­en. Men­schen sind ver­ein­zelt. Die Zeit könn­te in ei­ner na­hen Zu­kunft lie­gen. Die Na­tur steckt vol­ler Wild­wuchs. »Die Ufer­bö­schun­gen über­wu­chert von Am­bro­sia, Gold­ru­te und Spring­kraut. Der Wald zu­ge­wach­sen mit Knö­te­rich.«

Die In­ten­ti­on des Schau­en­den ist un­klar. Ne­ben den ein­pras­seln­den Ein­drücken stellt er sich bis­wei­len exi­sten­ti­el­le Fra­gen: »War das der Gip­fel des Le­bens, und läuft von nun an al­les wie­der zu­rück?« Sze­nen des Fla­nie­rens wech­seln mit Epi­so­den lan­ger, apa­thi­scher Auf­ent­hal­te in der Woh­nung ab, in de­nen »man« zu­neh­mend tag­träu­men­de, be­äng­sti­gen­de Bil­der ent­wickelt. »Auf der Flucht vor den Wör­tern eilt man durch die Woh­nung.« Ver­mut­lich han­delt es sich um ei­nen Be­woh­ner ei­nes Hau­ses, wel­ches ab­ge­ris­sen wer­den soll. Hier­für spre­chen die Bau­ar­bei­ten um ihn her­um. »Vie­ler­orts ist der Stuck an den Fas­sa­den auf­ge­bis­sen und of­fen­bart sein In­ne­res: Sty­ro­por.«

So man­cher Blick könn­te aus dem No­tiz­buch Pe­ter Hand­kes stam­men. »Die Schat­ten zwei­er ein­an­der um­krei­sen­der Flie­gen auf der ver­wit­ter­ten Scheu­nen­wand: die fäl­schungs­si­che­re Un­ter­schrift des Seins« et­wa. Ein an­der­mal ent­deckt er ei­ne »Flie­ge, die über den Tisch irrt, als such­te sie ver­zwei­felt et­was Ver­lo­ren­ge­gan­ge­nes« oder auch »Spin­nen, in ih­ren Net­zen zwi­schen den Zwei­gen«, die »in der Mor­gen­son­ne« leuch­ten. Bei ei­nem sei­ner Gän­ge ent­deckt er am »Wald­bo­den ei­ne ver­trock­ne­te Schlan­gen­haut, ein röt­li­cher Pilz, ei­ne Ton­scher­be«. (Er­in­ne­rung an Gre­gor Keu­sch­nigs An­sicht der drei Din­ge im Sand aus der Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung).

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Ste­phan Lam­by: Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges

Stephan Lamby: Ernstfall - Regieren in Zeiten des Krieges
Ste­phan Lam­by: Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges

Ste­phan Lam­by ist seit ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit der Chro­nist bun­des­deut­scher In­nen­po­li­tik. Man er­in­nert sich noch an sein fast le­gen­dä­res In­ter­view mit Hel­mut Kohl und die zahl­rei­chen, zeit­ge­schicht­lich be­deu­ten­den und mehr­fach prä­mier­ten Do­ku­men­ta­tio­nen ins­be­son­de­re in der end­los er­schei­nen­den Mer­kel-Ära, die in schö­ner Re­gel­mä­ssig­keit und zeit­nah in der ARD zu se­hen wa­ren. Im­mer wie­der zeigt er Men­schen, die po­li­ti­sche Macht auf Zeit ha­ben, bei ih­ren Ver­su­chen, im Wi­der­streit zwi­schen Freund und Geg­ner, Me­di­en und Öf­fent­lich­keit für ih­re Idea­le zu agie­ren und da­bei nicht sel­ten ge­hetzt und ge­trie­ben er­schei­nen (manch­mal kom­men­tie­ren zu­sätz­lich Jour­na­li­sten). Zum fast ge­flü­gel­ten Wort wur­de der Ti­tel sei­nes Films über die »ner­vö­se Re­pu­blik«. Die po­li­ti­schen Prot­ago­ni­sten er­laub­ten ihm Ein­blicke, die an­de­ren ver­bor­gen blei­ben. Im Ge­gen­satz zu an­de­ren Fil­me­ma­chern, die sich wuch­tig in­sze­nie­ren, ist Lam­by ein Po­li­tik­flü­ste­rer; in sei­ner zu­rück­hal­ten­den, manch­mal fast an­ti­cham­brie­ren­den, da­bei je­doch nie un­ter­wür­fi­gen Art ge­lin­gen bis­wei­len be­mer­kens­wer­te Ein­sich­ten.

Da­bei for­mu­liert Lam­by mit sei­ner sanft-ein­neh­men­den Stim­me durch­aus Hy­po­the­sen. Noch häu­fi­ger als in ei­nem Film sind sol­che un­ter­schwel­li­gen Be­wer­tun­gen in Bü­chern spür­bar. Und da­mit kommt man auf Ste­phan Lam­bys neue­stes Buch Ernst­fall – Re­gie­ren in Zei­ten des Krie­ges. Der Un­ter­ti­tel lau­tet ein biss­chen ame­ri­ka­nesk »Ein Re­port aus dem In­ne­ren der Macht«. Da­mit wird ei­ne ge­wis­se Er­war­tung ge­schürt. Und Lam­by lässt sich nicht lum­pen.

Auf fast 400 Sei­ten wird das Wir­ken und Han­deln der neu­en Bun­des­re­gie­rung vom De­zem­ber 2021 bis zum 13. Ju­li 2023 (NA­TO-Gip­fel in Vil­ni­us) be­schrie­ben. Da­bei ste­hen zwei The­men im Vor­der­grund, die sich teil­wei­se ge­zwun­ge­ner­ma­ßen über­la­gern. Zum ei­nen die In­va­si­on Russ­lands in die Ukrai­ne vom 24.2.22, die sich ra­sant ver­än­dern­den Pa­ra­me­ter der Au­ßen- und Si­cher­heits­po­li­tik Deutsch­lands und die Aus­wir­kun­gen auf die En­er­gie­ver­sor­gung ei­nes der größ­ten In­du­strie­na­tio­nen der Welt. Und zum an­de­ren die Be­mü­hun­gen um ei­ne öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on des Lan­des im An­ge­sicht des be­droh­li­chen Kli­ma­wan­dels.

Al­le an­de­ren The­men, wie et­wa der frü­he Rück­tritt von An­ne Spie­gel, die sehr um­strit­te­ne Wahl­recht­re­form oder, noch ein­schnei­den­der für die Be­völ­ke­rung, die »Ab­wick­lung« der Co­vid-Pan­de­mie nebst dem De­ba­kel, ei­ne Impf­pflicht zu im­ple­men­tie­ren, wer­den aus­ge­blen­det. Fast ein biss­chen pflicht­schul­dig wirkt ei­ne Er­wäh­nung mit und über Karl Lau­ter­bach, der in An­be­tracht des Kriegs in der Ukrai­ne plötz­lich kaum noch in den Schlag­zei­len steht. Da­bei war ge­ra­de das The­ma Impf­pflicht ei­ne höchst kon­tro­ver­se An­ge­le­gen­heit; quer durch al­le Frak­tio­nen.

Na­tür­lich muss Lam­by Prio­ri­tä­ten set­zen. »Zei­ten­wen­de« und öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on sind die The­men, die Deutsch­land noch lan­ge be­schäf­ti­gen wer­den. Wer im Fe­bru­ar 2022 auf ei­ne ein­sa­me In­sel oh­ne Me­di­en­zu­gän­ge ver­schla­gen wur­de und heu­te, an­dert­halb Jah­re spä­ter zu­rück­ge­kom­men ist, kann mit die­sem Buch sei­ne In­for­ma­ti­ons­de­fi­zi­te rasch und, was die­se The­men an­geht, um­fas­send auf­fül­len. Weit­ge­hend wird chro­no­lo­gisch, zeit­wei­se ta­ge­buch­ar­tig er­zählt. Nur ab und zu gibt es Zu­sam­men­fas­sun­gen. Da­bei ver­mei­det Ste­phan Lam­by dan­kens­wer­ter­wei­se weit­ge­hend die mitt­ler­wei­le gras­sie­ren­de Re­por­ter­un­sit­te, sei­ne Be­ob­ach­tun­gen als Li­te­ra­tur zu ver­klei­den.

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Mi­cha­el Klee­berg: Däm­me­rung

Nach Karl­mann (2007) und Va­ter­jah­re (2014) legt Mi­cha­el Klee­berg nun mit Däm­me­rung den drit­ten (und letz­ten) Band der fik­ti­ven Bio­gra­phie von Karl­mann Renn, ge­nannt Char­ly, vor. Char­ly, Jahr­gang 1959, er­leb­te in Karl­mann die Zeit zwi­schen 1985 (es be­ginnt mit Bo­ris Beckers er­stem Wim­­b­le­­don-Sieg) und Sep­tem­ber 1989. Va­ter­jah­re spielt zwar nur an zwei Ta­gen (10.9.–11.9.2001), fasst ...

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Ein­blicke in in­ne­re Kyff­häu­ser

Do­mi­nik Graf und Ana­tol Regnier un­ter­su­chen Mo­ti­ve und Be­find­lich­kei­ten von Schrift­stel­lern, die wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land ge­blie­ben wa­ren.

Dominik Graf: Jeder schreibt für sich allein
Do­mi­nik Graf:
Je­der schreibt für sich al­lein

Seit fast 50 Jah­ren macht Do­mi­nik Graf Fil­me. Vie­le Fern­seh­spie­le sind dar­un­ter, Kri­mis, Tat­or­te und Po­li­zei­ru­fe aber auch Do­ku­men­tar- und Li­te­ra­tur­ver­fil­mun­gen. Er ist ei­ner der letz­ten Re­gis­seu­re, die Fern­seh­pro­duk­tio­nen noch mit ei­nem ge­wis­sen An­spruch aus­stat­ten. Sein neu­er Do­ku­men­tar­film sprengt nicht nur hin­sicht­lich The­ma­tik son­dern vor al­lem we­gen sei­ner Län­ge die »nor­ma­len«, schein­bar un­hin­ter­frag­ba­ren Fun­da­men­te zeit­ge­nös­si­schen Fern­seh­schaf­fens. Ein­hun­dert­sie­ben­und­sech­zig Mi­nu­ten, al­so fast drei Stun­den, dau­ert Je­der schreibt für sich al­lein und er zeigt Le­ben und Aus­kom­men deut­scher Schrift­stel­ler, die wäh­rend der NS-Zeit im Land ver­blie­ben wa­ren.

Das Ge­rüst lie­fert das 2020 von Ana­tol Regnier pu­bli­zier­te Buch glei­chen Ti­tels. Regnier, 1945 ge­bo­ren, ist der Sohn des Schau­spie­lers Charles Regnier (be­kannt aus zahl­rei­chen Se­ri­en und Fern­seh­fil­men, aber auch als Ko­mö­di­ant) und Pa­me­la We­de­kind, der Toch­ter des Dra­ma­ti­kers Frank We­de­kind und der Schau­spie­le­rin Til­ly Ne­wes. Ana­tol Regnier ver­fass­te ne­ben an­de­ren Bü­chern 2008 ei­ne viel­be­ach­te­te Bio­gra­phie über Frank We­de­kind.

In un­ter­schied­li­cher In­ten­si­tät krei­sen Buch und Film um das Ver­hal­ten von Gott­fried Benn, Erich Käst­ner, Hans Fal­la­da, Jo­chen Klep­per, Hanns Johst, Ina Sei­del und Will Ves­per wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Auf Bör­ries von Münch­hau­sen, Hans Grimm oder Agnes Mie­gel, auf die Regnier in sei­nem Buch nä­her ein­geht, wird im Film ver­zich­tet.

Im Film kom­men­tie­ren die Ein­drücke und The­sen un­ter an­de­rem Flo­ri­an Il­lies, Al­bert von Schirn­ding, Chri­stoph Stölzl, Ga­brie­le von Ar­nim, Ju­lia Voss und Gün­ter Rohr­bach, der ei­ne Son­der­stel­lung ein­nimmt. Der in­zwi­schen 94jährige Ne­stor des deut­schen Qua­li­täts­fern­se­hens er­zählt im letz­ten Drit­tel in zwei Ex­kur­sen von sei­ner Kind­heit und Ju­gend im saar­län­di­schen Neun­kir­chen. An­son­sten »mo­de­riert« Ana­tol Regnier den Film als ei­ne Art Er­zäh­ler; häu­fig im Ge­spräch mit Do­mi­nik Graf. Die ru­hi­ge, bis­wei­len an­ek­do­ti­sche, aber nie­mals tri­via­le Er­zähl­wei­se des Bu­ches wird be­hut­sam auf den Film trans­fe­riert. Häu­fig wird ein Split-Screen ein­ge­setzt, der das Ge­sag­te mit Ori­gi­nal-Bil­dern oder Film­se­quen­zen er­gänzt und ver­dich­tet. An­son­sten bleibt die Kon­zen­tra­ti­on auf das Wort.

Anatol Regnier und Dominik Graf - © Piffl Medien GmbH
Ana­tol Regnier und Do­mi­nik Graf – © Piffl Me­di­en GmbH

Der An­fang weicht vom Buch ab. 1945 ver­such­te der ame­ri­ka­ni­sche Psy­cho­lo­ge Dou­glas Mc­Glas­han Kel­ley mit Ge­sprä­chen und, das war neu, Ror­schach-Tests den See­len­zu­stand der in Nürn­berg an­ge­klag­ten Na­zi-Grö­ßen zu ana­ly­sie­ren. Kel­ley such­te, wie es ein biss­chen pa­the­tisch heißt, »das Bö­se im Men­schen«. In 22 cells in Nurem­berg prä­sen­tier­te er 1947 die Er­geb­nis­se sei­ner Ge­sprä­che. Für die Ana­ly­sen der Ror­schach-Tests kon­sul­tier­te er Fach­leu­te und Ex­per­ten. Aber de­ren Aus­wer­tun­gen wur­den ent­ge­gen der Ab­sich­ten nie ver­öf­fent­licht. Spä­ter hat es ge­hei­ßen, man ha­be nicht das ge­fun­den, was man er­war­te­te. Die­se Män­ner – ge­meint sind die Kriegs­ver­bre­cher – wä­ren kei­ne »wahn­sin­ni­gen Krea­tu­ren« ge­we­sen; Neu­ro­ti­ker hät­ten sich dar­un­ter be­fun­den aber auch ein­fach nur Op­por­tu­ni­sten; ei­gent­lich, und das ist das er­schrecken­de, han­del­te es sich um »nor­ma­le« Men­schen.

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An­drea Gio­ve­ne: Frem­de Mäch­te

An­drea Gio­ve­nes Haus der Häu­ser, Band drei der Au­to­bio­gra­phie des fik­ti­ven Giu­lia­no di San­se­vero, en­det im Ju­ni 1940 mit dem Ein­tritt Ita­li­ens in den Zwei­ten Welt­krieg, von dem die Haupt­fi­gur wäh­rend ei­ner Zug­fahrt über­rascht wur­de. Li­cu­di, der Zau­ber­ort am Meer, in dem die Welt still­stand, war von Tou­ri­sten, Im­mo­bi­li­en­spe­ku­lan­ten und Ar­chäo­lo­gen ein­ge­nom­men, die Be­schau­lich­keit zer­stört ...

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