Er­kennt­nis

Ein Reh nä­hert sich, um­kreist mich lang­sam, schaut mich von ver­schie­de­nen Stand­punkten an. Die auf­ge­stell­ten Oh­ren be­we­gen sich vor­sich­tig, mit win­zi­gen Rucken, fast wie ein Zit­tern, aber es ist kein Zit­tern, es sind vor­sätz­li­che Rucke. An den Oh­ren – mehr als an den fra­gen­den Au­gen – er­ken­ne ich, wie es von mir denkt. Das Reh ...

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Die Kü­ste der Frei­heit

1

Wer reist heu­te noch mit dem Schiff? Nie­mand. Ein paar Neu­rei­che, die nach dem Lu­xus ver­gan­ge­ner Zei­ten ha­schen. Ei­ne Hand­voll Tech­ni­ker, die die Au­to­ma­tik der Frach­ter über­wa­chen. Scha­ren von Ha­be­nicht­sen, die auf ro­sti­gen Käh­nen die Fe­stung Eu­ro­pa be­stür­men (ei­ne Fe­stung, die sa­gen­haf­te Reich­tü­mer birgt).

2

Das Jahr 1989 ver­brach­te ich in Si­zi­li­en. Es war das Jahr, in dem die Mau­er fiel. Je­der weiß, was ge­meint ist: die Mau­er, die Ber­lin in zwei Tei­le teil­te; und die nicht fiel, son­dern über­rannt, igno­riert, zer­stört wur­de. Ei­nes Mor­gens im No­vem­ber nahm ich in Tra­pa­ni den Bus nach Eri­ce. Die­ses Dorf liegt hoch über dem Meer, die hin­füh­ren­de Stra­ße macht Ser­pen­ti­nen und Spitz­keh­ren. Au­ßer mir wa­ren nur zwei Fahr­gä­ste im Bus, die mit dem Chauf­feur be­kannt wa­ren. Wäh­rend er das Fahr­zeug mit der üb­li­chen traumwand­lerischen Si­cher­heit die Ab­grün­de ent­lang lenk­te, blick­te der Chauf­feur in den Rück­spiegel, um die Ge­sich­ter der Ge­sprächs­part­ner im Au­gen­win­kel zu be­hal­ten. Er er­zähl­te von den Bil­dern in den Fern­seh­nach­rich­ten am Vor­abend. Er schien sehr zu­frie­den zu sein. Die Leu­te, be­rich­te­te er, hat­ten auf der Mau­er ge­tanzt. Das hat­te ihm ge­fal­len. Es war ein wun­der­ba­res Schau­spiel ge­we­sen. Die bei­den Fahr­gä­ste, al­te, ver­dorr­te Män­ner, nick­ten. Sie hat­ten das Schau­spiel ver­säumt. Ich selbst schau­te wäh­rend der Fahrt auf die Mu­ster der Mee­res­flä­che tief un­ter uns; die wei­ßen Recht­ecke der Salz­ber­ge vor der Kü­ste; die dunk­len Höcker der In­seln wei­ter drau­ßen. Ich dach­te: Was geht mich das an, Ber­lin. Ich dach­te: Was soll die­se Hy­ste­rie. Spä­ter, abends, sah ich in Eri­ce ei­nen der bei­den Fahr­gä­ste still vor sei­ner Haus­tür sit­zen.

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Lied für heu­te und mor­gen

Die Frau mit dem Kopf­tuch ist wun­der­schön. Das Tuch, grün und gol­den, ge­hei­mes Mu­ster, rahmt das Ge­sicht, kehrt sei­ne Schön­heit her­vor. Es ist ei­ne fremd­län­di­sche Schön­heit, ei­ne aus Ir­gend­wo, In­di­en oder Afri­ka oder Mon­go­lei oder Pe­ru, von der Kü­ste, vom Hoch­land, aus dem Ge­bir­ge, man weiß es nicht, sie kommt von ei­nem ganz an­de­ren Erd­teil, ...

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Sprach­zwei­fel und Sprach­ver­trau­en

Über das Fort­wir­ken von Hof­mannst­hals Chan­dos-Brief

Für Gre­gor Keu­sch­nig,
und auch für Aki­ra Hot­ta, zur Er­mun­te­rung

Ei­ner der Tex­te, die ich oft wie­der­le­se, teils am Leit­fa­den des Zu­falls, beim Streu­nen zwi­schen den Bü­chern, dann wie­der an­ge­regt durch Kol­le­gen, ist der Chan­dos-Brief von Hu­go von Hof­manns­thal. Ein bei Au­toren be­lieb­ter Text, der sich gut zum Zi­tie­ren eig­net; man kommt nicht um ihn her­um. Bei mei­ner neue­sten Lek­tü­re ha­be ich ihn mehr als frü­her als Er­zäh­lung ge­le­sen, als Ge­schich­te mit re­la­tiv weit ge­spann­tem Er­zähl­bo­gen, der dann in der Ge­gen­wart kul­mi­niert, in den Au­gen­blicken der Epi­pha­nie. Kul­mi­niert wie ei­ne Brücke, die plötz­lich ab­bricht, ins Nichts führt – nicht in ei­ne hel­le oder dü­ste­re Zu­kunft, die wir ah­nen, son­dern ins Nichts.

Die­ser Lord Chan­dos ist ein jun­ger, be­gü­ter­ter Mann, einst­mals Schü­ler des be­deu­ten­den Phi­lo­so­phen Fran­cis Ba­con, dem er nach lan­ger Schwei­ge­zeit nun ei­nen Brief schreibt, den letz­ten, wie man ver­mu­ten muß. Chan­dos ist ein Schrift­stel­ler, ein Dich­ter, der mit sei­nen Schä­fer­spie­len ei­ni­gen Er­folg hat­te und nun mit sei­nem La­tein am En­de ist. Die Schäfer­dichtung war ein be­lieb­tes Gen­re im Hu­ma­nis­mus, al­so je­ner Kul­tur, der Ba­con und Chan­dos ent­stamm­ten; es wur­de noch im Ba­rock und Ro­ko­ko eif­rig be­dient. Der­lei Idyl­len kann Chan­dos nun nicht mehr schrei­ben, und auch sein epi­sches Groß­pro­jekt – in der Art ei­nes Ver­gil, mag man sich vor­stel­len – ist ge­schei­tert. Das ehe­ma­li­ge Ta­lent steht nun al­so mit lee­ren Hän­den da. Chan­dos be­fin­det sich nicht nur in ei­ner Schreib­kri­se, son­dern in ei­ner ra­di­ka­len Sprach­kri­se – um das Zau­ber­wort zu ge­brau­chen, das die Le­ser, Au­toren und Ger­ma­ni­sten und Kri­ti­ker, bis heu­te gern und oft et­was ge­dan­ken­los ver­wen­den. Die In­ter­pre­ta­ti­on ei­nes die­ser be­rufs­be­ding­ten Chan­dos­brief­le­ser will be­son­ders ori­gi­nell sein und läuft dar­auf hin­aus, daß der ge­reif­te Chan­dos künf­tig je­der Ori­gi­na­li­tät ent­sa­ge, das Dich­ten sein las­se und sich sei­nen Land­gü­tern wid­me. Das wä­re nun ei­ne ru­hi­ge, sinn­vol­le, der Ge­sell­schaft dien­li­che Art des Ver­stum­mens, die in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te tat­säch­lich ein an­de­rer Dich­ter voll­zo­gen hat, kein fik­tio­na­ler, son­dern ein hi­sto­ri­scher: Ar­thur Rim­baud.

Die­se Lek­tü­re über­sieht, daß Chan­dos lei­det; der Ton sei­nes Brie­fes deu­tet eher dar­auf hin, daß das Lei­den un­heil­bar ist. Chan­dos ist in ei­ne Kri­se ge­ra­ten, die er nicht, viel­leicht nie mehr, zu lö­sen, der er nicht zu ent­ge­hen ver­mag. Sei­ne Kri­se ist in Wahr­heit ei­ne Ka­ta­stro­phe, ein Zu­sam­men­bruch. Al­ler­dings darf man nicht über­se­hen, wie es eben­falls ei­ni­gen Le­sern un­ter­lau­fen ist, al­len vor­an Her­mann Broch, daß der Chan­dos-Brief kei­nes­wegs nur »ne­ga­tiv« ist. Nein, er ent­hält zahl­rei­che lich­te Au­gen­blicke, Er­leb­nis­se, die of­fen­bar nur des­halb statt­fin­den kön­nen, weil er sich der Ka­ta­stro­phe aus­ge­setzt hat, statt ihr, wie es we­ni­ger ra­di­ka­le Au­toren tun mö­gen, den Rücken zu keh­ren und sprach­li­che, in letz­ter In­stanz al­so: ge­sell­schaft­li­che Kom­pro­mis­se zu schlie­ßen. Broch hat die­se Er­leb­nis­se, in de­nen das wahr­neh­men­de Sub­jekt sich in der um­ge­ben­den Welt der Din­ge auf­zu­lö­sen scheint, als Schritt in den Wahn­sinn be­zeich­net. Auch dar­in kann ich ihm nicht fol­gen. Will man über­haupt so et­was wie ein Auf­ge­ho­ben­sein in der Welt er­fah­ren, hat man sich zu­vor ei­ner Rei­he be­que­mer Si­cher­hei­ten und prag­ma­ti­scher Ori­en­tie­run­gen zu be­ge­ben. Chan­dos tut dies, in­dem er auf Kom­mu­ni­ka­ti­on zu­gun­sten von schwei­gend-spre­chen­der Kom­mu­ni­on ver­zich­tet. Ne­ben­her be­dient er sich wei­ter der gän­gi­gen Sprach­for­men, er ist durch­aus im­stan­de, sei­ne Ge­schäf­te zu er­le­di­gen und so zu tun, als ver­bän­de ihn noch et­was mit der bür­ger­li­chen Welt. Daß er im Brief an Fran­cis Ba­con sei­nen Er­leb­nis­sen in der Be­geg­nung mit klei­nen, un­schein­ba­ren Din­gen sprach­li­chen Aus­druck gibt, ist ein per­for­ma­ti­ves Pa­ra­dox. Chan­dos sagt näm­lich das, was er nicht sa­gen kann.

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Welt­lied

Mein Zep­ter liegt auf der Stein­bank, und im Bo­den da­vor sind über Nacht zwei Lö­cher er­schie­nen, et­wa dau­men­na­gel­groß. Dar­aus sind zwei Zi­ka­den hervor­gekrochen, die dort sie­ben Jah­re ver­bracht ha­ben, nicht mehr als ei­ne Daumen­länge un­ter der Er­de (mit ei­nem Zweig­lein nach­ge­mes­sen). Jetzt hocken sie über mir im Baum und brül­len, was das Zeug hält, sie­ben ...

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Vom 19. Jahr­hun­dert ler­nen

Lafcadio Hearn: Chita
Laf­ca­dio Hearn: Chi­ta
Wie­der­ent­deckt: Laf­ca­dio Hearn

»Un­er­schöpf­lich sind die­se Bü­cher. Wie ich sie auf­blättere, ist es mir bei­na­he un­be­greif­lich, zu den­ken, daß sie wirk­lich un­ter den Deut­schen noch fast un­be­kannt sein sol­len.« Die­se Sät­ze schrieb Hu­go von Hof­manns­thal 1904 nach dem Tod von Laf­ca­dio Hearn, und sie sind mehr als hun­dert Jah­re spä­ter zu wie­der­ho­len. Der un­greif­ba­re, no­ma­di­sie­ren­de, in un­ter­schied­li­chen Gen­res tä­ti­ge Au­tor: daß sich an sei­ner Si­tua­ti­on post­hum et­was Ent­schei­den­des än­dern wird, ist zu hof­fen, wenn­gleich man es be­zwei­feln mag. Der Über­set­zer Alex­an­der Pech­mann tut das Sei­ne da­zu, in ei­ner her­vor­ra­gen­den Ar­beit von Prä­sen­ta­ti­on, Ein­füh­lung und Wie­der­ga­be. Im Nach­wort zu sei­ner Aus­ga­be des Ro­mans Chi­ta. Ei­ne Er­in­ne­rung an Last Is­land si­tu­iert er Hearn li­te­r­ar­hi­sto­risch zwi­schen Ro­bert Cra­ne, R. L. Ste­ven­son und Jo­seph Con­rad.

Ein an­gel­säch­si­scher Au­tor, ge­wiß. Viel­leicht ame­ri­ka­nisch. In­ter­kul­tu­rell und mehr­sprachig wie Con­rad. Neu­gie­rig auf Aben­teu­er wie Ste­ven­son. In Grie­chen­land ge­bo­ren, in Frank­reich zur Schu­le ge­gan­gen, nach Ir­land und in die USA ge­schickt, da­mit ihn die Fa­mi­lie los­wird. Von Cin­cin­na­ti nach New Or­leans ge­flüch­tet (oder wie­der ver­trie­ben). Dann Mar­ti­ni­que, dann Ja­pan, da­mals ein fast ganz un­be­kann­tes Land – Hearn trug viel da­zu bei, es jen­seits ei­nes ge­fäl­li­gen Exo­tis­mus be­kannt zu ma­chen. Die letz­ten 14 Jah­re bis zu sei­nem Tod. Hear­ns’ Werk ist he­te­ro­gen, es zeugt von ei­nem müh­sa­men Lebens­kampf, auch wenn die Mü­hen in den Tex­ten durch­aus nicht im­mer durch­klin­gen. Chi­ta zum Bei­spiel ist ein sorg­fäl­tig ge­wirk­ter Ro­man mit zahl­lo­sen Na­tur­be­schrei­bun­gen, die eben­so wie die lang­sa­me, dann doch wie­der be­schleu­nig­te Er­zähl­be­we­gung an Adal­bert Stif­ter er­in­nern. Er­zäh­lung ei­ner Ge­gend, der In­seln und Ba­yous und Sümp­fe in Loui­sia­na, am Golf von Me­xi­ko; aber auch ei­nes ver­wai­sten Mäd­chens und sei­ner Pfle­ge­el­tern.

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Die Grau­sam­keit der Ver­nunft

Karl Gutz­kow: Wal­ly, die Zweif­le­rin Je­sus war ein »Schwär­mer«, der ei­ne »ver­un­glück­te Re­vo­lu­ti­on« an­zet­tel­te. Sich als Mes­si­as zu be­zeich­nen, war ei­ne »drei­ste Be­haup­tung«. Die Je­sus-Ge­­schich­ten in der Bi­bel sind »Mär­chen«, die nur von Och­sen und Eseln – wie im Stall von Beth­le­hem – ge­glaubt wür­den... Wer heu­te sol­che Sät­ze über den Pro­phe­ten Mo­ham­med und den ...

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Wie man sich von sich selbst be­freit

Édouard Louis: Das Ende von Eddy
Édouard Lou­is:
Das En­de von Ed­dy
Der Erst­ling des jun­gen Édouard Lou­is als so­zia­les Lehr­stück

Édouard Lou­is hieß ur­sprüng­lich Édouard Bellegueu­le, und ge­ru­fen wur­de er »Ed­dy«. So steht es im auto­biographischen Ro­man, den der Au­tor 2012 in Pa­ris ver­öf­fent­lich­te, und auch in der Wirk­lich­keit ver­hält es sich so. »Schön­maul«, mit die­sem Na­men ist das Kind ge­straft; die ent­spre­chen­den Wort­spie­le wer­den gleich zu Be­ginn des Ro­mans zi­tiert. Édouard Lou­is, 22, hat sich von den Fes­seln sei­ner Her­kunft be­freit, in­dem er die­ses Buch schrieb. Die Be­frei­ung hat auch ei­nen fi­nan­zi­el­len Hin­tergrund, denn der jun­ge Au­tor ent­stammt ei­ner Schicht, die man als neu­es Lum­pen­pro­le­ta­ri­at be­zeich­nen könn­te, und sein Erst­ling war in Pa­ris ein Best­sel­ler. Die Vor­ge­schich­te sei­ner Be­frei­ung kann man in Das En­de von Ed­dy nach­le­sen. Schon der Ti­tel weist dar­auf hin: Ed­dy Bellegueu­le gibt es nicht mehr. Die Nie­der­schrift und Ver­öf­fent­li­chung des Ro­mans ist gleich­be­deu­tend mit sei­ner Ver­nich­tung.

En fi­nir avec Ed­dy lau­tet der Ti­tel im Ori­gi­nal. Hin­rich Schmidt-Hen­kel, ein außer­ordentlich ge­wand­ter Über­set­zer, der vie­le sprach­li­che Re­gi­ster zu zie­hen ver­steht, bil­det den von Lou­is häu­fig zi­tier­ten nord­fran­zö­si­schen So­zio­lekt ge­ra­de­zu lust­voll nach – beim Ti­tel scheint er mir aber et­was schmähstad ge­we­sen zu sein (oder hat ihn ein Lek­tor be­hin­dert?). »Schluß mit Bellegueu­le« wür­de pas­sen und kä­me dem Ori­gi­nal nä­her. Die Er­zäh­lung selbst hat et­was Ge­walt­tä­ti­ges, nach dem Selbst­ver­ständ­nis des Au­tors han­delt es sich um Ge­gen­ge­walt ge­gen das ge­walt­tä­ti­ge Sy­stem. Die da­von Be­trof­fe­nen und (im Buch) Be­schrie­be­nen be­zie­hen die li­te­ra­ri­sche Ge­walt aber auf sich selbst: Der will uns ver­nich­ten! Mit­samt sei­nem Ed­dy will Lou­is auch die Um­ge­bung zer­stö­ren, in der er auf­ge­wach­sen ist, al­so die kon­kre­ten Men­schen im Dorf Hal­len­court. Mach ka­putt, was dich ka­putt macht. Li­te­ra­tur ge­gen Ver­ro­hung. Ver­ro­hung ge­gen Li­te­ra­tur, ge­gen die Schwu­len, ge­gen die Weich­ei­er.

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