Haus Eu­ro­pa

Das einst hym­nisch be­schwo­re­ne »Haus Eu­ro­pa« hat seit ge­stern ei­ne neue, gro­ße Be­schä­di­gung er­fah­ren. Russ­lands Prä­si­dent Pu­tin hat die »Volks­re­pu­bli­ken« Do­nezk und Lu­hansk, die er sel­ber mit Hil­fe will­fäh­ri­ger Se­pa­ra­ti­sten als Pfahl im Ter­ri­to­ri­um der Ukrai­ne 2014 eta­bliert hat­te, jetzt so­zu­sa­gen di­plo­ma­tisch an­er­kannt. Das wi­der­spricht dem seit Jah­ren brach­lie­gen­den so­ge­nann­ten »Min­s­ker-Ab­­kom­­men« zwar, aber egal. So ...

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Ve­ra Vor­ne­weg: Kein Wort zu­rück

Vera Vorneweg: Kein Wort zurück
Ve­ra Vor­ne­weg:
Kein Wort zu­rück

Ich ken­ne Ve­ra Vor­ne­weg seit Som­mer 2018. Ei­nes Ta­ges fand ich ei­ne Aus­ga­be der (in­zwi­schen ein­ge­stell­ten) Li­te­ra­tur­zeit­schrift »Text+Bild« in mei­nem Brief­ka­sten. Ein po­si­ti­ve Fol­ge der Im­pres­sumpflicht. Wir wohn­ten da­mals nur ein paar Stra­ßen­zü­ge aus­ein­an­der und tra­fen uns fort­an zwei, drei Mal im Jahr im »Schweid­nit­zer Eck«, spra­chen über Li­te­ra­tur und Lek­tü­ren, über Pe­ter Hand­ke, Esther Kin­sky, Karl Ove Knaus­gård, Ger­hard Rühm oder Eva-Ma­ria Al­ves, und an­de­re.

Im Herbst 2018 er­hielt Vor­ne­weg ein Sti­pen­di­um des Lan­des Thü­rin­gen und leb­te ei­ni­ge Mo­na­te in der Ort­schaft Kal­ten­lengs­feld. Ih­re Ein­drücke und Ge­dan­ken wäh­rend des Auf­ent­halts hat­te sie von ih­rem No­tiz­buch in den Com­pu­ter über­tra­gen, dann aus­ge­druckt und an be­stimm­ten Stel­len im Ort an­ge­bracht, wie bei­spiels­wei­se an ei­ner Bus­hal­te­stel­le. Li­te­ra­tur wur­de so­mit öf­fent­lich. Vor­ne­weg be­ton­te in den un­ver­meid­li­chen Stel­lung­nah­men den Me­di­en ge­gen­über, dass die­ses Dorf sie zur Schrift­stel­le­rin ge­macht ha­be.

»Ein ganz be­son­de­res Buch« soll­te auf­grund die­ses Auf­ent­halts ent­ste­hen, so hieß es in ei­ner Lo­kal­zei­tung. Man kennt das: Aus­ge­zeich­ne­te sind an­ge­hal­ten, das neue Um­feld in ih­re Tex­te ein­flie­ßen zu las­sen. Da­bei gibt es Tex­te über Groß­stadt­men­schen in Dör­fern und/oder in an­de­ren re­gio­na­len Um­ge­bun­gen zur Ge­nü­ge. Sie dro­hen häu­fig in fal­sche Idyl­lik ab­zu­glei­ten, oder, noch schlim­mer, sich in gön­ner­haf­te Ar­ro­ganz zu ver­zet­teln. Ne­ben­bei stellt sich das Di­lem­ma, dass sich Orts­per­sön­lich­kei­ten un­ge­ach­tet ih­rer Ver­frem­dun­gen im Text wo­mög­lich falsch (oder rich­tig) ge­trof­fen füh­len. Es ist nicht ein­fach.

Bei ei­nem er­neu­ten Be­such in Thü­rin­gen 2019 ge­riet Vor­ne­weg in den Land­tags­wahl­kampf. Sie war em­pört über Aus­sa­gen auf den Pla­ka­ten der AfD, die sie un­mög­lich bei der Ein- oder Durch­fahrt igno­rie­ren konn­te. Aber es schien, als ha­be sie ihr The­ma ge­fun­den. Sie be­rich­te­te mir über das Schrei­ben an ei­ner Er­zäh­lung, die, wie sie sag­te, nur zum Teil mit ih­ren Er­fah­run­gen im Dorf zu tun ha­be, aber ei­ne Not­wen­dig­keit für sie sei.

Der Text sel­ber blieb mir ver­bor­gen. Ich be­grüß­te das, ob­wohl mei­ne Neu­gier mit je­der Er­ör­te­rung stieg. Lei­der gab es Schwie­rig­kei­ten für den Text ei­nen ad­äqua­ten Ver­lag zu fin­den, was sich auf­grund der Co­ro­na-Pan­de­mie noch ver­schärf­te. Zwi­schen­zeit­lich wid­me­te sich Vor­ne­weg der Ge­stal­tung des öf­fent­li­chen Rau­mes mit Li­te­ra­tur in Düs­sel­dorf. Auch hier half ein Sti­pen­di­um. Auf ei­ner Rollade (neue Schreib­wei­se ei­gent­lich »Roll­la­de«) ei­ner ver­las­se­nen Gast­wirt­schaft in Düs­sel­dorf Ober­bilk schrieb sie Ein­drücke auf, die beim Schau­en und Hö­ren von der Stra­ße und der un­mit­tel­ba­ren Um­ge­bung des Hau­ses ent­stan­den. Der Be­sit­zer der Lo­ka­li­tät hat­te ihr die­se Nut­zung ge­stat­tet. Erst wenn das Haus re­no­viert wird, ver­schwin­den auch die Rolläden mit den Tex­ten. Ver­gäng­li­che Kunst. Im­mer­hin: Ih­re Im­pres­sio­nen sind hier auch dar­über hin­aus fest­ge­hal­ten.

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Mar­ga­ret MacMil­lan: Krieg

Margaret MacMillan: Krieg
Mar­ga­ret MacMil­lan: Krieg

Krieg hat in der Zunft der zeit­ge­nös­si­schen Ge­schichts­schrei­ber, um es sa­lopp aus­zu­drücken, kei­ne gu­te Pres­se. Auch die ka­na­di­sche Hi­sto­ri­ke­rin Mar­ga­ret MacMil­lan ist kei­ne Bel­li­zi­stin, aber sie möch­te mit ih­rem Buch »Krieg« (Über­set­zung von Klaus-Die­ter Schmidt) die­ses Phä­no­men sach­lich er­klä­ren und er­läu­tern »wie Kon­flik­te die Mensch­heit präg­ten«. Krieg sei, so MacMil­lan im Vor­wort, »kei­ne Ver­ir­rung […], die man am be­sten so schnell wie mög­lich ver­gisst. Auch ist er nicht ein­fach die Ab­we­sen­heit von Frie­den, dem ver­meint­li­chen Nor­mal­zu­stand. Wenn wir nicht be­grei­fen, wie tief Krieg und Ge­sell­schaft in­ein­an­der ver­wo­ben sind – so sehr, dass man nicht sa­gen kann, wer von bei­den do­mi­niert oder ur­säch­lich ist –, über­se­hen wir ei­ne wich­ti­ge Di­men­si­on der Mensch­heits­ge­schich­te.« Ihr Ziel ist es, die »or­ga­ni­sier­te Ge­walt« als Be­stand­teil der Ge­schich­te an­zu­er­ken­nen, oh­ne so­fort in mo­ra­li­sche Ka­te­go­rien zu ver­fal­len. Gleich­zei­tig möch­te sie die For­schung über den Krieg nicht mehr nur den Mi­li­tär­hi­sto­ri­kern über­las­sen, die »vor sich hin­for­schen, ih­re un­ap­pe­tit­li­chen Fun­de zu­ta­ge för­dern und ih­re we­nig er­bau­li­chen Ge­schich­ten ver­fer­ti­gen, oh­ne je­man­den zu stö­ren.«

Der Grat scheint schmal, den MacMil­lan (Jahr­gang 1943) be­tritt. Zu Be­ginn wirft sie die Fra­ge auf, was aus Eu­ro­pa ge­wor­den wä­re, wenn bei­spiels­wei­se »die mus­li­mi­schen Füh­rer den gan­zen Kon­ti­nent er­obert hät­ten, was ih­nen mehr­mals bei­na­he ge­lun­gen wä­re« oder wenn Hit­ler den Krieg ge­won­nen hät­te. Die­se kon­tra­fak­ti­schen Über­le­gun­gen sol­len nicht als Recht­fer­ti­gung für Krie­ge per se die­nen, aber wohl auf­zei­gen, wie krie­ge­ri­sche Hand­lun­gen die ak­tu­el­le Ge­gen­wart auch noch nach Jahr­hun­der­ten prä­gen. So sind die »star­ken Na­tio­nal­staa­ten von heu­te mit ih­ren Zen­tral­re­gie­run­gen und gut or­ga­ni­sier­ten Bü­ro­kra­tien […] das Pro­dukt von Jahr­hun­der­ten des Krie­ges.« Zum ei­nen sind im 19. Jahr­hun­dert Na­tio­nal­staa­ten als Fol­ge von Krie­gen ent­stan­den und hat­ten dann – zum an­de­ren – bis­wei­len durch­aus frie­dens­stif­ten­de Wir­kun­gen.

»Der Krieg«, so MacMil­lan, »ist ver­mut­lich die am be­sten or­ga­ni­sier­te al­ler mensch­li­chen Ak­ti­vi­tä­ten, und er hat sei­ner­seits die Or­ga­ni­sa­ti­on der Ge­sell­schaft vor­an­ge­trie­ben.« Ei­ni­ge Bei­spie­le, die man zu­nächst nicht mi­li­tä­risch deu­ten wür­de wie das Ket­ten­hemd oder den Steig­bü­gel bringt sie an. Die Ent­wick­lung von Waf­fen hat­te im­mer auch Aus­wir­kun­gen auf die Zi­vil­ge­sell­schaft. Der Na­tio­na­lis­mus schließ­lich lie­fer­te, so MacMil­lan, »die Mo­ti­va­ti­on und die in­du­stri­el­le Re­vo­lu­ti­on die Mit­tel« für Krie­ge.

In neun Ka­pi­teln un­ter­sucht MacMil­lan Fa­cet­ten des Krie­ges und de­ren Aus­wir­kun­gen. Ei­nen gro­ßen Teil der Quel­len für ih­re Be­ob­ach­tun­gen und Hy­po­the­sen bil­den fik­tio­na­le Tex­te, wie je­ne von Ho­mer, Thuky­di­des, Ver­gil, Ho­raz, Sal­lust, Wil­liam Shake­speare, Fre­de­ric Man­ning, Erich-Ma­ria Re­mar­que oder Ernst Jün­ger. Tho­mas Hob­bes und Jean Jac­ques Rous­se­au kom­men mit ih­ren un­ter­schied­li­chen Ge­sell­schafts­mo­del­len zu Wort. Sun­zi (oder auch Sun Tsu), Ma­chia­vel­li und Clau­se­witz wer­den als Mi­li­tär­stra­te­gen her­an­ge­zo­gen. Es fin­den sich Zi­ta­te aus den Ta­ge­bü­chern von Sa­mu­el Pe­pys und Mar­ta Hil­lers. Ge­gen­wär­ti­ge Kron­zeu­gen für ih­re The­sen sind vor al­lem Swet­la­na Al­e­xi­je­witsch und Ste­ven Pin­ker.

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Den­nis Coo­per: Die Schlam­pen

Dennis Cooper: Die Schlampen
Den­nis Coo­per:
Die Schlam­pen

Vor ei­ni­gen Jah­ren er­reg­te die Ab­schal­tung des Web­logs des Schrift­stel­ler Den­nis Coo­per für ei­ni­ges Auf­se­hen, auch in Deutsch­land. Die Goog­le-Toch­ter »Blog­spot« hat­te, wie sich erst spä­ter her­aus­stell­te, auf­grund ei­nes Bil­des, wel­ches als Kin­der­por­no­gra­fie ge­mel­det wur­de, die Sei­te vom Netz ge­nom­men. Zwei Mo­na­te spä­ter re­vi­dier­te man die Ent­schei­dung; der Blog ging wie­der on­line.

Coo­per ist tat­säch­lich das, was man ge­mein­hin ei­nen »Skan­dal­schrift­stel­ler« nen­nen kann. Dies zeigt sich auch in sei­nem neue­sten Ro­man »Die Schlam­pen« (Über­set­zung: Rai­mund Var­ga). Hier wer­den zwei auch in an­de­ren Tex­ten Coo­pers be­kann­te Mo­ti­ve ge­spie­gelt: Zum ei­nen die Fas­zi­na­ti­on von Iden­ti­täts­wand­lun­gen und ‑ver­mi­schun­gen in den di­gi­ta­len Me­di­en. Und zum and­ren die se­xu­el­le Lust an Ge­walt und Tod. Bei­de The­men wer­den auch ver­schränkt.

Das Buch spielt in den Ado­les­zenz-Jah­ren des In­ter­net 2001 und 2002; AOL und Pa­ger sind noch wich­tig. Der ge­sam­te Ro­man be­steht aus Po­stings bzw. so­ge­nann­ten »Re­zen­sio­nen« auf ei­ner Sex-Da­ting-Web­sei­te über »Es­corts« (»Twinks«), die von ho­mo­se­xu­el­len Män­nern fre­quen­tiert wer­den (Coo­per ist sel­ber be­ken­nen­der Schwu­ler). Hier be­rich­ten Frei­er un­ter Pseud­ony­men wie Bri­an, built­li­kea­truck, Elai­ne, the­gay­jour­na­list, Zack Young, the­bas­her, snaz­zy­stocky oder xtra­cu­te­bill von ih­ren re­al-life-Er­fah­run­gen mit Call­boys und be­ant­wor­ten Fra­gen nach de­ren kör­per­li­chen Merk­ma­len. Ei­ne Art vir­tu­el­ler, po­ly­pho­ner Brief­ro­man. Sehr bald kon­zen­triert sich die Auf­merk­sam­keit auf ei­nen ge­wis­sen Brad in Long Beach bzw. Los An­ge­les, der sehr jung aus­se­hen soll (die Al­ters­an­ga­ben va­ri­ie­ren zwi­schen 14 und 20) und auf­grund po­si­ti­ver Ur­tei­le sehr schnell in der Gunst der User auf­steigt.

Rasch wird aus Brad dann Ste­ve, dann Ke­vin, spä­ter Thad. Schließ­lich taucht ein ge­wis­ser Bri­an auf, ei­ne Art Ma­na­ger von Brad. Wahl­wei­se ist Brad psy­chisch krank, hat ei­nen Hirn­tu­mor, Leuk­ämie oder AIDS (was die Gier der Frei­er nichts im Ge­ring­sten stört; eher im Ge­gen­teil). Dann wie­der­um hat er ei­ne Freun­din, die schwan­ger von ihm ist. Al­le die­se Per­so­nen mel­den sich auf der Web­sei­te, po­sten State­ments und füh­ren das, was an­de­re ge­schrie­ben ha­ben, ad ab­sur­dum. Wer ist Brad wirk­lich? Ist das Fo­to von ihm, wel­ches im Um­lauf ist, ein Ori­gi­nal? Oder ist es je­mand an­ders? Bri­an ach­tet ei­gent­lich dar­auf, dass es we­der Fo­tos noch Ton­auf­nah­men gibt. Brads Dien­ste sind teu­er, rich­ten »sich an wohl­ha­ben­de Kli­en­ten mit ex­tre­men Fan­ta­sien«.

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Von »zei­chen­ba­sier­ten Epi­de­mien«

Me­di­en­theo­rie rührt an das me­dia­le Un­be­wuß­te von so­zia­len Groß­kör­pern, die seit dem 18. Jahr­hun­dert als Po­pu­la­tio­nen von Na­tio­nal­staa­ten ver­faßt sind, zu­meist in For­ma­tie­run­gen von zehn Mil­lio­nen bis 300 Mil­lio­nen Men­schen und mehr. Im Blick auf die­se über­gro­ßen Ge­bil­de sta­tu­iert die un­be­lieb­te Theo­rie: Der ak­tu­el­le men­ta­le Zu­sam­men­hang sol­cher nie­mals phy­sisch ver­samm­lungs­fä­hi­gen Rie­sen­kol­lek­ti­ve kann nur durch Mas­sen­me­di­en ...

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Uwe Witt­stock: Fe­bru­ar 33

Uwe Wittstock: Februar 33
Uwe Witt­stock: Fe­bru­ar 33

»Der Win­ter der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel von Uwe Witt­stocks »Fe­bru­ar 33«. Es ist die Zeit vom 28. Ja­nu­ar 1933 bis zum 15. März 1933, die er Re­vue pas­sie­ren lässt, 47 Ta­ge in 35 chro­no­lo­gisch ge­ord­ne­ten Ka­pi­teln. Sie er­zäh­len vom Be­ginn ei­nes ge­wal­ti­gen Epo­chen­bruchs, ei­ner furcht­ba­ren Zeit, an des­sen En­de Mil­lio­nen von To­ten zu be­kla­gen sind. Das Buch be­ginnt harm­los mit dem Pres­se­ball, dem letz­ten gro­ßen Fest in Ber­lin, auf dem sich auch Schrift­stel­ler und Künst­ler zei­gen. Kurz dar­auf folgt der »Re­gie­rungs­an­tritt« Hit­lers, durch Hin­den­burgs Er­nen­nung. Das, was vor ein paar Ta­gen noch un­mög­lich schien, trat ein. Vie­le glaub­ten, dass die neue Re­gie­rung wie so vie­le an­de­re zu­vor nicht lan­ge be­stehen wür­de. Dann muss man an die Ein­lei­tung den­ken: man wuss­te da­mals schlicht­weg noch nicht, was das be­deu­te­te – mit dem heu­ti­gen Wis­sen ist es leicht, ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten ob ih­rer ver­meint­li­chen Nai­vi­tät zu zei­hen.

Die Form des Bu­ches er­in­nert zu­nächst an das kol­lek­ti­ve Ta­ge­buch »Echo­lot« von Wal­ter Kem­pow­ski. Hier wur­den Brie­fe, Ta­ge­bü­cher, Auf­zeich­nun­gen, Zei­tungs­ar­ti­kel oder No­ti­zen von pro­mi­nen­ten und we­ni­ger pro­mi­nen­ten Per­sön­lich­kei­ten im Ori­gi­nal und weit­ge­hend un­be­ar­bei­tet chro­no­lo­gisch auf tau­sen­den von Sei­ten ne­ben­ein­an­der pu­bli­ziert. Von Kem­pow­ski stamm­te le­dig­lich das kur­ze Vor­wort. Vor al­lem ist hier das »Echo­lot« zu nen­nen, wel­ches in vier Bän­den den Zeit­raum von 1. Ja­nu­ar 1943 bis 28. Fe­bru­ar 1943 um­fasst. Ein be­ein­drucken­des Werk, in dem der An­fang vom En­de – Sta­lin­grad fällt – der Hö­he­punkt dar­stellt (vie­len ist auch da­mals die Di­men­si­on nicht deut­lich). Witt­stock macht es je­doch an­ders: Er er­zählt auf­grund der ihm vor­lie­gen­den Do­ku­men­te (die am En­de ge­nannt wer­den) in ei­ner Art Do­ku-Dra­ma-Stil (oh­ne Fuß- oder End­no­ten). Um ei­ne grö­ße­re Un­mit­tel­bar­keit zu er­zeu­gen, schreibt er im Prä­sens. Kurz kommt ei­nem Flo­ri­an Il­lies’ »1913« in den Sinn, aber Witt­stock ver­fällt glück­li­cher­wei­se nicht den phan­tas­ma­go­rischen Zam­pa­no-Stil von Il­lies.

Nicht im­mer er­schei­nen Er­fin­dun­gen des Au­tors und die »Tat­sa­chen­be­rich­te« sau­ber ge­trennt. Manch­mal gibt es wer­ten­de (über­flüs­si­ge) Ein­schü­be, et­wa wenn ein­mal von den »be­sten Zei­tun­gen« die Re­de ist, bei de­nen je­mand ge­ar­bei­tet hat oder ei­ne Re­por­ta­ge »sen­sa­tio­nell« war. Das sind ver­mut­lich die »In­ter­pre­ta­ti­ons­frei­hei­ten«, von de­nen Witt­stock zu Be­ginn schreibt. Hin­zu kommt, dass mit­un­ter auch die Ori­gi­nal-Quel­len nicht im­mer hi­sto­risch zu­ver­läs­sig sind, et­wa wenn sie mit gro­ßen zeit­li­chen Ab­stand ver­fasst wur­den. Im Nach­wort gibt Witt­stock an, dass er, wenn mög­lich, Do­ku­men­te prä­fe­riert hat, die »par­al­lel zu den Er­eig­nis­sen ent­stan­den« sei­en.

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Mar­tin von Arndt: Wie wir tö­ten, wie wir ster­ben

Martin von Arndt: Wie wir töten, wie wir sterben
Mar­tin von Arndt: Wie wir
tö­ten, wie wir ster­ben

Spät­herbst 1961. Der ita­lie­nisch­stäm­mi­ge 54jährige US-Ame­ri­ka­ner Dan Va­nuz­zi, mit ganz vie­len »Ex«-Titeln (Ex-US-Ar­my, Ex-CIC, Ex-Mos­sad), schlägt sich wört­li­chen Sinn als Bo­xer Ted Jack­son seit mehr als drei Jah­ren durch das Le­ben, und zwar in Es­sen, im Ruhr­ge­biet. Va­nuz­zi sieht jün­ger aus als er ist und er ist fit. Aber es ist kein Traum­job. Ei­gent­lich war er so et­was wie ein »un­ab­hän­gi­ger In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fer«, der ab und an von west­li­chen Ge­heim­dien­sten Auf­trä­ge be­kam, mit de­nen man sich nicht sel­ber ab­ge­ben woll­te. Mit ihm der jun­ge, rot­haa­ri­ge Un­garn-Flücht­ling Ödön, der ihn wäh­rend der Kämp­fe coacht. Der Kampf ist zu­meist Show. Buch­ma­cher be­stim­men, wer wann wie ge­winnt und ver­liert. We­he, man rich­tet sich nicht da­nach. Das ist der Ein­stieg in Mar­tin von Arndts neue­stem Po­lit-Spio­na­ge­ro­man mit dem bi­blisch an­mu­ten­den Ti­tel »Wie wir tö­ten, wie wir ster­ben«.

In die­se leicht aus­sichts­lo­se Sze­ne­rie hin­ein wird er von zwei (zu­ge­ge­ben du­bio­sen) Fran­zo­sen an­ge­spro­chen, die zwei Al­ge­ri­er, die sich in Deutsch­land im Exil auf­hal­ten, su­chen und Va­nuz­zi be­auf­tra­gen, die­se zu fas­sen und ih­nen zu über­ge­ben. Es sind Kämp­fer der Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gung FLN, die den Fran­zo­sen in Al­ge­ri­en zu schaf­fen ma­chen und wahl­wei­se als Kom­mu­ni­sten oder Ter­ro­ri­sten dar­ge­stellt wer­den. Ih­nen wer­den Mas­sa­ker ge­gen Fran­zo­sen und al­ge­ri­sche Zi­vi­li­sten nach­ge­sagt. Vie­les bleibt un­klar, aber da die bei­den die Ge­heim­dienst­re­geln be­herr­schen und Va­nuz­zi und Ödön Geld brau­chen, nimmt er an.

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Co­rin­na Belz und En­ri­que Sán­chez Lansch: In den Uf­fi­zi­en

Corinna Belz / Enrique Sánchez Lansch: In den Uffizien
Co­rin­na Belz / En­ri­que Sán­chez Lansch: In den Uf­fi­zi­en

Fast 500 Jah­re exi­stie­ren die Uf­fi­zi­en, die um­fang­reich­ste Kunst­samm­lung der Re­nais­sance, in Flo­renz. Sie ha­ben Re­vo­lu­tio­nen, Krie­ge, An­schlä­ge und Seu­chen über­stan­den. Co­rin­na Belz, die ins­be­son­de­re mit ih­ren ein­fühl­sa­men Film­por­traits über Ger­hard Rich­ter und Pe­ter Hand­ke ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit be­kannt wur­de und En­ri­que Sán­chez Lansch, in des­sen fil­mi­sches Œu­vre vie­le Mu­sik­do­ku­men­ta­tio­nen zu fin­den sind, ha­ben bin­nen 13 Mo­na­ten in 11 Dreh­blöcken ei­nen Film zu dem zweit­äl­te­sten Mu­se­um der Welt ge­dreht. Ein Glück war, dass die Dreh­ar­bei­ten 2019 vor der Pan­de­mie en­de­ten.

Es gibt min­de­stens drei Haupt­dar­stel­ler in die­sem Film, der am 25. No­vem­ber in die Ki­nos kommt. Zum ei­nen die Mit­ar­bei­ter des Mu­se­ums, al­len vor­an der (deut­sche) Di­rek­tor Ei­ke Schmidt, der die Uf­fi­zi­en seit 2015 lei­tet. Man sieht ihn, wie er ei­nen Hin­ter­grund für ei­ne Neu­ge­stal­tung von Sä­len aus­sucht, mit Mit­ar­bei­tern Vi­si­ten­kar­ten kon­zi­piert, Blick­ach­sen über­prüft, der Rei­ni­gung ei­nes Ge­mäl­des bei­wohnt, zah­lungs­kräf­ti­ge Spen­der der »Fri­ends of the Uf­fi­zi Gal­lery« (Post­adres­se Flo­ri­da, USA) durch neu zu re­stau­rie­ren­de Sä­le führt und ei­ne Fi­gur des zeit­ge­nös­si­schen Künst­lers Ant­o­ny Gorm­ley aus­rich­tet, die in ei­ner stän­di­gen Aus­stel­lung in­te­griert wer­den soll. Letz­te­res ge­stal­tet sich schwie­rig, weil die Vor­stel­lun­gen des Künst­lers und den Ge­ge­ben­hei­ten des Ge­bäu­des (die Fi­gur wiegt 500 kg!) nicht so­fort in Über­ein­stim­mung zu brin­gen sind. Schmidt wirkt wie ein Fels und zu­gleich er­fri­schend un­spek­ta­ku­lär. Flie­ßend sein ita­lie­nisch, wel­ches, wenn es sein muss, in ein ame­ri­ka­nisch ge­tauch­tes eng­lisch über­geht. Er küm­mert sich dar­um, wenn es kein Licht gibt, der Auf­zug wie­der ein­mal stecken­bleibt und or­ga­ni­siert die Hän­gung in ei­nem neu­en Saal. Und er hat das Mu­se­um ins In­ter­net und die Men­schen ins Mu­se­um ge­bracht (von 2,2 Mil­lio­nen für die Uf­fi­zi­en ist die Re­de – na­tür­lich vor der Pan­de­mie).

Aber auch an­de­re Per­so­nen kom­men zu Wort, wie der Lei­ter der Bi­blio­thek, Clau­dio di Be­ne­det­to, der Depot-»Chef« De­me­trio Sor­ace oder der lei­ten­de Ar­chi­tekt, An­to­nio Go­do­li. Man be­kommt ei­nen kur­zen Ein­blick in die Re­stau­rie­rungs­werk­statt von Da­nie­la Lip­pi, die ein Ge­mäl­de Stück für Stück wie­der zu­sam­men­setzt, wel­ches bei ei­nem An­schlag der Ma­fia 1993 prak­tisch zer­stört wur­de (nicht nur Ta­li­ban und IS zer­stö­ren Kunst­wer­ke). Bei dem An­schlag gab es fünf To­te. Der Saal­auf­se­her Giu­sep­pe Riz­zo er­zählt vom Glück, in mit­ten die­ser Kunst­wer­ke Dienst zu tun. Im Ge­gen­satz zu deut­schen Mu­se­en ist in den Uf­fi­zi­en das fo­to­gra­fie­ren ge­stat­tet (al­ler­dings ist der Sel­fie­stick ver­bo­ten). Fa­bio So­ste­g­ni, der Haus­mei­ster, ist da­von ein biss­chen be­trübt. Er se­he so vie­le Be­su­cher die ha­stig ein Fo­to von ei­nem Kunst­werk ma­chen wür­den und wenn sie dann ei­nes ge­macht hät­ten, wei­ter­gin­gen für die näch­ste Fo­to­gra­fie. Sie hät­ten dann am En­de zwar vie­le Fo­tos ge­macht, aber die Kunst­wer­ke ei­gent­lich nicht ge­se­hen.

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