»Die gefährdete Republik – Von Bonn nach Berlin« – ein erstaunlicher Titel und wenn man noch dazu die Jahresreihe »1949 – 1989 – 2009« liest ahnt man, welche Melodie hier angestimmt wird. Das Buch kommt zunächst als Bestandsaufnahme sowohl der sogenannten »Bonner Republik«, die mit dem Mauerfall 1989 sukzessive »abdankte« (aber erst fast ein Jahrzehnt später, 1999 mit der ersten Plenarsitzung des Bundestages im neuen Reichstags zu Berlin endgültig zu Ende ging) als auch einer Art Zwischenbilanz der scheinbar noch immer sinn- bzw. rollensuchenden »Berliner Republik« daher.
Die These des Autors: Die Demokratie der alten Bundesrepublik war stabiler (weil besser) in der Bevölkerung verankert als im neuen, souveränen Deutschland. Dabei wird die fast behagliche Situation der »Bonner Republik« aus einer selbstverordneten (und von anderen erwarteten!) Zurückhaltung heraus zu agieren (bzw. zu reagieren) und sich in die Bipolarität des Kalten Krieges, die EWG (später dann EG bzw. EU) und NATO willig einbinden zu lassen als unausweichlich betrachtet. »Nie wieder Krieg« lautete das Grundbekenntnis (und, die intellektuelle Variante, »Nie wieder Auschwitz«, die allerdings – von Lucke erwähnt das durchaus – 1999 plötzlich zu einer Art Staatsraison pervertiert wurde und als Kriegsrechtfertigung diente). Da die Außenpolitik letztlich fast als Indienstnahme von Auschwitz stattfand, konnte man sich auf das Innere konzentrieren; zutreffend ist vom Primat der Innenpolitik die Rede.
Wohlstandsversprechen und Kommunikation
Albrecht von Lucke glaubt, dass die Demokratie-Akzeptanz innerhalb der »Bonner Republik« vor allem durch Erhards Wirtschaftswunder und den danach parteiübergreifenden Konsens des Ausbaus der sozialen Marktwirtschaft inklusive der Sozialsicherungssysteme ermöglicht und gefestigt wurde. Das Wohlstandsversprechen, also der soziale (und ökonomische) Aufstieg durch Bildung und Arbeit, war nicht nur Möglichkeit, sondern vielfach Realität geworden. Die Durchlässigkeit innerhalb der sozialen Schichten war erreichbar.
Die intellektuellen Debatten wurden hart aber durchaus in gegenseitigem Respekt ausgefochten, so die These. Dabei blieb selbst in der entschiedensten Auseinandersetzung möglich, was die Weimarer Republik nicht vermocht hatte: »die Transformation von radikaler Systemopposition in kritische Loyalität und Reformismus«. (Das Zitat ist von Paul Nolte.) Die Stärke der Bundesrepublik – immer wenn von Lucke Bundesrepublik schreibt, meint er die »Bonner Republik«! – bestand darin, dass in Kommunikation, aber gerade auch in hartem Konflikt unterscheidbare Alternativen für den Bürger erkennbar und damit auch wählbar wurden – und im Ernstfall die Verständigung über die Gegensätze hinweg erfolgte.
Diese Sicht auf die Diskussionskultur ist nicht nur von einigem Sentiment durchtränkt, sondern arg simplifizierend. Tatsächlich haben immer wieder Grundsatzfragen des Selbstverständnisses Nachkriegsdeutschlands die Debattenkultur der Bundesrepublik der ersten dreißig Jahre geprägt. Über die Verwerfungen quer durch die politische aber auch intellektuelle Elite anlässlich der Wiederbewaffnungsdebatte Mitte der 50er Jahre gibt es beredte Zeugnisse (u. a. Wolfgang Koeppens fiktionale Bearbeitung »Das Treibhaus«). Und wer jemals die teilweise unversöhnlich und aggressiv geführten Diskussionen in den 70er Jahren hinsichtlich die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition mitbekam, konnte bei den Gegnern dieser Politik nirgends eine Loyalität zur Regierung festmachen.
Geschichtsklitternde Idealisierung der »Bonner Republik«
Die Debatten wurden kaum im diskursiven Miteinander, sondern über die damals jeweils herrschenden Mehrheitsverhältnisse entschieden. Da diese Entscheidungen Grundsatzcharakter hatten und teilweise völkerrechtliche Verbindlichkeit bekamen, wurden sie auch bei Regierungswechseln von der jeweils neuen Administration übernommen (und sogar weitergeführt). Wie fragil allerdings der Konsens in der Ostpolitik verankert war, konnte man Jahrzehnte danach während der Verhandlungen über den sogenannten »Zwei-plus-Vier«-Vertrag 1990/91 sehen, als dort zur Grundbedingung deutscher Souveränität die Oder-Neisse-Grenze mit Polen als unabänderbar festgelegt wurde (und in diesem Punkt die Ostpolitik der Regierung Brandt endgültig zementiert wurde) und einige rechts-nationale Abgeordnete der CDU/CSU Bedenken äußerten (die allerdings keine entscheidende Rolle mehr spielten). Die vom Autor beschworene »Einbeziehung des Anderen« (Habermas), jenes Antidot gegen das antiliberale, ausgrenzende Freund-Feind-Denken Carl Schmitts kann anlässlich der Schärfe und Radikalität der Debatten insbesondere der 60er und 70er Jahre (mit Ausnahme der Terrorismusbekämpfung während des »Deutschen Herbstes« 1977) nur als geschichtsklitternde Idealisierung bezeichnet werden.
Von Lucke konstatiert, dass die »Berliner Republik« nach dem 11. September 2001 zum Freund-Feind-Denken zurückkehrt sei. Der Bürger (und insbesondere der muslimische Mitbürger) sieht sich immer mehr mit einer Art Generalverdacht konfrontiert. Die EU-weite Verschärfung des Asylrechts sieht er in diesem Zusammenhang fast als konsequent. Recht oder Gewalt laute wieder die Gretchenfrage, so der Autor, der Habermas paraphrasierend, von der Rückkehr »grosser, gewaltbegründeter Politik« im alten, vor-bundesrepublikanischen Sinne und von einem neuen Nachtwächter- und Sicherheitsstaat spricht (von den zahlreichen Geheimdienst- und Bespitzelungsaffären der »alten« Bundesrepublik erfährt der Leser sicherheitshalber nichts).
Man weiss nicht, ob von Lucke mit vor-bundesrepublikanisch nun Weimar meint (die Behauptung »Bonn ist nicht Weimar« strapaziert er am Anfang des Buches) oder gleich wilhelminisches Politikgebaren unterstellt. In jedem Fall sieht der Autor mit dem 11. September die Stunde Carl Schmitts gekommen (das Herbeibeschwören von Carl Schmitt bei Freund und Feind [sic!] ist derzeit publizistisch en vogue). Einige Schmitt-Adepten dienen ihm dabei als Beleg für seine These (u. a. Otto Depenheuer und sein Buch »Selbstbehauptung des Rechtsstates«).
Eine dezidierte Beweisführung, dass dieses Denken entscheidend (und somit auch gesetzgeberisch) in den politischen Diskurs Deutschlands eingedrungen ist, bleibt aus, auch wenn er äußerst suggestiv zu Werke geht und emphatisch den »links-rechts«-Gegensatz der »Bonner Republik« als Ethos der Politik feiert. Da werden dann praktischerweise die eindeutigen Gegenpositionen des Verfassungsrichters Udo di Fabio nur in einem Nebensatz und in Bezug auf eine Nuance erwähnt.
Paranoia um Carl Schmitt
Stattdessen dient ihm Frank Schirrmachers Artikel »Junge Männer auf Feindfahrt« als Beleg für die auch unter Intellektuellen verbreitete Stimmung eines (naturgemäß zurecht als gefährlich eingestuften) Feinddenkens innerhalb des politischen und soziokulturellen Kontextes. Schirrmachers Text rekurriert auf den brutalen Überfall zweier jugendlicher Ausländer auf einen Rentner auf dem Münchener U‑Bahn-Gelände. Von Lucke gefällt nicht, wenn Schirrmacher von Deutschenfeindlichkeit der beiden ausländischen Jugendlichen spricht und sieht hier (ohne dies zu belegen) eine Art Dammbruch. Dabei geht er einig mit Schirrmacher, dass es eine wesentliche Errungenschaft der »Bonner Republik« gewesen sei, den » ‘inneren Feind’ nicht zu postulieren« und führt als Beispiel die RAF-Terroristen an, die trotz ihrer Verbrechen vom Staat nicht als »Feinde« betrachtet worden seien. Von Lucke vergisst dabei, dass (1.) Schirrmacher kein Regierungssprecher ist und (2.) die publizistischen Salven Mitte der 70er Jahre sehr wohl suggerierten, dass es sich bei den RAF-Terroristen um Feinde des Rechtsstaats handelte (mitnichten übrigens nur in der »Springer«-Presse, aber vor allem natürlich dort) und der damalige Bundespräsident Walter Scheel bei der Trauerveranstaltung für Hanns-Martin Schleyer von den Terroristen als »Feinde[n] jeglicher Zivilisation« sprach.
Der »Feind« war in Wirklichkeit auch (und gerade) in der »Bonner Republik« bis in die 80er Jahre hinein als geradezu neurotischer Antikommunismus präsent, der es Adenauer und Erhard erlaubte, bis weit in die 60er Jahre hinein sogar die inzwischen gewendete SPD zu stigmatisieren. Außenpolitisch wurde erst durch die sozial-liberale Entspannungspolitik dieses Ressentiment offiziell gezähmt.
Aus Angst durch Opposition und Medien als verfassungspolitisches »Leichtgewicht« verunglimpft zu werden schuf (ja: antizipierte) die sozial-liberale Regierung 1972 den sogenannten »Radikalenerlass« (offizielle Bezeichnung: »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst« [Hervorhebung G. K.]), der einen virulenten (und traditionellen) Antikommunismus im Inneren durchaus fortschrieb und als eine Postulierung eines »inneren Feindes« betrachtet werden muss (man denke auch an den der Demokratiefeindlichkeit unverdächtigen Karl Popper und dessen Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«). Und generell gilt, dass, auch wenn die offizielle Sprachregelung dies seit den 70er Jahren verbat, die Bundeswehr sehr wohl ihr »Feindbild« aus einer (diffusen, aber von großen Teilen der Bevölkerung real empfundenen) Bedrohung aus »dem Osten« bezog (auch wenn die Nennung der Sowjetunion in diesem Zusammenhang nicht opportun war).
Von Lucke muss hier leider eine (freundlich ausgedrückt) höchst selektive Auslegung bescheinigt werden. Indem er Schirrmachers Artikel (und auch den Kommentar von Thomas Schmid aus der »Welt«) derart als Beispiele einer Selbstidiotisierung der Intellektuellen der neuen »Berliner Republik« darstellt, unterschlägt er den direkten Anlass der Kommentare: Beide Artikel beziehen sich nämlich direkt auf ein Video des »Zeit«-Feuilletonchefs Jens Jessen, der suggerierte, dass der Rentner selber womöglich durch sein typisch-deutsches, nörgeliges Verhalten diese Eskalation provoziert habe. Jessen stellt den Rentner als den deutschen Spiesser per se dar und entlastet somit indirekt die beiden Täter. Von Lucke verschweigt diesen Kontext, weil er offensichtlich seiner These im Wege steht. Seriös ist so etwas nicht.
Der stille Konsens zwischen Politik und Wahlvolk bröckelt
Der Ruf nach dem Staat, der nicht zuletzt in der derzeit grassierenden Weltwirtschaftskrise immer stärker um sich greift, sieht der Autor als Ausweis verminderter Konfliktbereitschaft einer Gesellschaft – auch dies Beleg für seine These des Rückzugs des Bürgers von der Demokratie bzw. deren Institutionen. Von Lucke übersieht dabei ausgerechnet seine Eingangsthese, wonach der Ausbau der Sozialversicherungssysteme (mit dem vorläufigen Höhepunkt der Errichtung der Pflegeversicherung im Jahre 1995) den Staat immer weiter in die Rolle des Helfers aus persönlichen Lebenssituationen definiert hatte. Der im Buch so euphorisch gefeierte Wohlstandsgedanke ging mit einer Absicherungsmentalität einher: Jeder konnte im Krisenfall (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegefall in der Familie, aber auch beispielsweise bei der Finanzierung von Immobilien oder bei der Aus- und Weiterbildung) unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, die selbstverständlich (und fast bedingungslos) gewährt wurde.
Richard von Weizsäcker formulierte 1992 im Interview mit den Journalisten Werner A. Perger und Gunter Hofmann eine »Art von Vorteilsaufteilung zwischen Politik und Gesellschaft. In der Gesellschaft steht die Erhaltung materieller Vorteile im Vordergrund. Im politischen System dominiert die Kunst des Parteienkampfs untereinander. Es geht…um Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung.« Von einem »stillen Konsens zwischen Öffentlichkeit und Parteien« mochte von Weizsäcker zwar nicht sprechen. Die Gefahr sei jedoch, so der damalige Bundespräsident, dass »beide Seiten der ständigen Versuchung [erliegen] auf Kosten der Zukunft zu leben, um sich die Gegenwart zu erleichtern«.
Dies ist, obwohl nach dem Mauerfall formuliert, eindeutig Produkt und Erbe der »Bonner Republik«, denn Systemakzeptanz wurde durch ein (über viele Jahre eingehaltenes) Wohlstands- und Sicherheitsversprechen sozusagen »erkauft« (die Eingangsthese von Luckes weitergesponnen). Erst als ab ungefähr Mitte der 70er Jahre, verstärkt jedoch in den 90er Jahren ein fast selbstverständlich geglaubter, permanenter ökonomischer Aufschwung für immer grösser werdende Teile der Bevölkerung nicht mehr garantiert werden konnte (von da an stieg – aus vielen Gründen – die Arbeitslosigkeit stetig an), bröckelte auch wieder zunehmend die System-(respektive Demokratie-)Akzeptanz (die durch die Ereignisse des Mauerfalls 1989/90 noch einmal ein kurzes, aber heftiges Zwischenhoch erfuhr).
Wenn beklagt wird, dass das gesellschaftliche Ferment, der Unterbau einer am eigenen Gemeinwesen interessierten Bürgergesellschaft und somit das Ethos einer republikanischen Öffentlichkeit erodiere und als schleichender Prozess eine postdemokratische Phase begänne, in der ein Substanzverlust der Demokratie drohe (die These stammt vom britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch), so ist wird damit ein langwieriger Prozess beschrieben, der mit den Umwälzungen seit 1989 relativ wenig und mit einer Erwartungshaltung, welches sich seit den 70er Jahren über die Generationen gebildet hat, relativ viel zu tun hat (was im übrigen auch nicht auf die Bundesrepublik beschränkt blieb; man denke nur an die skandinavischen Länder).
Dieser Exkurs zeigt, dass die Dichotomie »Bonner Republik« versus »Berliner Republik« die zweifellos vorhandenen Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Kultur der Bundesrepublik Deutschland nur unzureichend begründen. Zwar betont von Lucke zu Recht die Symbolik, die im Hauptstadtbeschluss zu Gunsten Berlins lag, aber im wesentlichen sind seine Feststellungen, die einen verstärkten Nationalismus beispielsweise innerhalb der Bevölkerung ausmachen, eher dürftig. Und am Ende bezeichnet er selber die schwarz-rot-goldenen »Demonstrationen« etwa während der Fussball-WM 2006 zutreffend als Placebo-Patriotismus.
»Revitalisierung des Pathetischen?«
Die Argumentation, Deutschland drohe mit einer Revitaliserung des Pathetischen neue »Helden«, die wiederum eine neuartige Herrschafts- und Kriegsrhetorik zu produzieren, die zunächst aus Verschleierungsgründen als solche bewusst nicht deklariert werde, ist dagegen nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch wenn von Luckes Behauptung, Kohl sei – in bester deutscher Kanzlertradition -Pathosverweigerer gewesen, bei näherer Anschauung in dieser Form nicht aufrecht erhalten werden kann. Spätestens mit der unter Gerhard Schröder offen vorgebrachten »Bewerbung« um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat ist allerdings eine Veränderung im Selbstverständnis (der politischen Klasse) Deutschlands festzustellen.
Als Sündenfall »neu-deutscher« Außenpolitik muss das bis heute unerklärliche einseitige Vorpreschen der Kohl/Genscher-Regierung 1991 in Bezug auf die deutsche Anerkennung von Slowenien und Kroatien angesehen werden, ohne gleichzeitig mindestens ein europäisch abgestimmtes Konzept für die »restliche« jugoslawische Föderation vorzulegen. Und natürlich stellt der (völkerrechtswidrige) Kosovo-Krieg 1999, den von Lucke zu Recht als das definitive Ende der Nachkriegszeit begreift, eine tiefgreifende Zäsur dar.
Merkwürdigerweise gewichtet der Autor Schröders Ablehnung des Irakkriegs 2003 (und somit auch einer deutschen Beteiligung daran) eher als Ausnahme statt hierin eine Form von Erneuerung der Werte der alten Bundesrepublik zu erkennen. Und wenn er Schröder als Nachkriegskind bezeichnet, der, anders als Kohl, (scheinbar) unbefangener an den Feierlichkeiten zum D‑Day teilnehmen konnte, so stimmt dies nur teilweise: Schröder hatte seinen Vater niemals kennengelernt; dieser starb als Soldat im gleichen Jahr, als Gerhard Schröder geboren wurde. So schnell wird die leichtfüssige Vokabel vom Nachkriegskind zur missglückten Metapher. (Umso unerklärlicher die Verpflichtungen Schröders sowohl im Kosovo-Krieg als auch im Fall von Afghanistan; beides zu untersuchen, würde den Gegenstand dieses Aufsatzes sprengen. Dies jedoch ausschließlich als Ausdruck einer »neuen deutschen Verantwortung« rein machtpolitisch zu interpretieren, dürfte zu kurz greifen.)
Ansammlung von Phrasen und sachliche Fehler
Wenn von Lucke das Aufkeimen einer Renaissance der deutschen Nation feststellt, so muss er sich zunächst fragen lassen, was daran beklagenswert sein soll. Natürlich bleibt die »Berliner Republik« sowohl in der EU als auch in der NATO eingebunden. Eine Bismarcksche Bündnispolitik ist weit und breit nicht in Sicht; nicht einmal die neo-nationale »Linke« plant die so viel gefürchteten »Alleingänge«. Stattdessen wurde das, was der Autor als Residuum der »Bonner Republik« betrachtet, nämlich die Ablehnung des Irakkriegs der Regierung Schröder/Fischer, von vielen (amerikafreundlichen) Auguren als Aufkeimen neuer »Achsen«-Politik (vom neuen »Rapallo« war sogar die Rede) denunziert. Und moniert nicht von Lucke zu Recht die postsouverän[e] (Scheckbuch-)Rückzugsgemütlichkeit der »Bonner Republik«, die sich auf das Nachkriegsgefühl stützend und mit dem bei Bedarf stets als eine Art Monstranz hervorgeholten moralischen Anspruch der außenpolitischen Zurücknahme agiert hat? (Freilich gab es hier die rühmliche Ausnahme der Ostpolitik Brandt/Bahr/Scheel!)
Zu einfach macht es sich der Autor auch, wenn er ökonomisch-sozialen Verwerfungen mit Schröders Agenda-Politik erklärt (dabei Ursache und Wirkung mindestens teilweise verwechselt) und dann die üblichen Floskeln einer verarmenden Bundesrepublik rekapituliert. Und wenn von der Rückkehr der Klassengesellschaft gesprochen wird: was ist das für eine fatale Fehleinschätzung, die impliziert, dass es vorher eine »klassenlose« Gesellschaft gegeben haben soll.
Könnte es nicht sein, dass die Durchlässigkeit der sozialen Schichten der »Bonner Republik« multifaktorale Ursachen hatte? Hat sich nicht die Haltung großer Teile der Gesellschaft zu den Errungenschaften des Staates geändert, die nun viel selbstverständlicher aufgenommen, ja gefordert werden? Muss man, bei aller berechtigten Empörung für die zunehmende Staats- und Politikgleichgültigkeit nicht auch einmal Kennedys Diktum in Erinnerung bringen (auch auf die Gefahr, in unerwünschtes Pathos zu verfallen)? Ist es nicht zwingend erforderlich, dass staatliche Infrastruktur immer auch eines gewissen Engagements desjenigen bedarf, der diese nutzt? Ein Schul- und Berufsabschluss, ein besseres Einkommen oder die Möglichkeit, neue Konsumartikel zu erwerben – all dies kann nicht vom Staat für den einzelnen herbeigeschafft, sondern muss selber angeeignet werden. Richtigerweise betont von Lucke die eingerissene Unsitte, dass der Bürger nur noch als Konsument gesehen wird – dieser Rolle könnte er sich aber auch dezidiert entziehen. Und wenn die »Berliner Republik« nun dabei ist, die Delegation des privaten Wohlstands an den Staat, der in der »Bonner Republik« ihren Ursprung hat (und von allen Regierungen entsprechend auf- und ausgebaut wurde) zu befragen – was ist daran so verwerflich?
Natürlich: Die Kommunikation zwischen der Politik und seinen Bürgern ist gestört. Es gibt, da liegt der Autor richtig, bedauerlicherweise weder eine breite gesellschaftliche Debatte über die Rolle, die Möglichkeiten und die Grenzen des Staates noch eine Diskussion über den Umgang mit Kriegen (stattdessen werden dürre Durchhalteparolen gedroschen). Da von Lucke jedoch die Gegenüberstellung von »Bonner« und »Berliner« Republik nicht aufgibt entsteht fast zwangsläufig der Eindruck, dass eine Art Reanimation dieser »goldenen Zeit« herbeigeredet werden soll. Dies ist jedoch – der Autor zeigt das selber – aus vielerlei Gründen weder möglich noch erstrebenswert.
Statt also mutig Projekte für eine Zukunft zu entwerfen und dabei eventuelle Risiken zu kalkulieren, verfällt von Lucke größtenteils in glorifizierende Verklärungsrhetorik. Statt der Bundesrepublik Deutschland gäbe es nur noch Deutschland und es entstehe eine Republik ohne Republikaner. Als sei das republikanische Element in der »alten« Bundesrepublik Allgemeingut gewesen. (Und mutierte in den 80er Jahren der Begriff »Republikaner« nicht fast als Schimpfwort, weil sich eine rechtsradikale Partei plötzlich dieses Namens bediente und ihn damit praktisch »entehrte«?)
Bedauerlich übrigens, dass das Buch neben den genannten Schwächen auch noch markante Fehler aufweist. So ist von einer Regierungserklärung von Willy Brandt von 1968 die Rede, welche den Satz »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an« beinhalten soll. Und Brandts berühmtes Diktum »mehr Demokratie wagen« verortet von Lucke auf Anfang der siebziger Jahre. Jeder nur halbwegs politisch Gebildete weiß freilich, dass Brandts Regierungserklärung, aus der beide Zitate stammen, im Oktober 1969 gehalten wurde. Da ist der Lapsus, Philipp Jenninger als Martin Jenninger zu bezeichnen, fast noch entschuldbar. (Und natürlich auch hier die mehrfach falsch verwandte Phrase »neoliberal« – obwohl von Lucke beim ersten Mal noch darauf hinweist…)
Am Ende gibt es einen eher kleinlauten Vermerk, der auf eine Krise des gesamten westlichen Gesellschaftsystems hinweist. Vorher wurde kursorisch auf für die Demokratie teilweise weit bedrohlichere Entwicklungen in Österreich, der Schweiz oder Italien hingewiesen (insbesondere was den Rechtspopulismus angeht). Wenn es sich jedoch um eine umfassende Krise des westlichen politischen (und/oder ökonomischen) Systems handelt (wofür einiges spricht) bleibt die Frage, warum von Lucke in diesem Buch derart impertinent auf spezifisch bundesrepublikanische Besonderheiten rekurriert.
Und einen wesentlichen Punkt für die Krise der Demokratie übersieht von Lucke. Bereits 1992 konstatierte Richard von Weizsäcker: »Wir leben in einer Demoskopendemokratie. Sie verführt die Parteien dazu, in die Gesellschaft hineinzuhorchen, dort die erkennbaren Wünsche zu ermitteln, daraus ein Programm zu machen, dieses dann in die Gesellschaft zurückzufunken und sich dafür durch das Mandat für die nächste Legislaturperiode belohnen zu lassen…Und es handelt sich um einen Kreislauf, bei dem die politische Aufgabe der Führung und Konzeption zu kurz kommt. Es ist ein Zusammenspiel von Schwächen derer, die die Mandate suchen, und jener, die sie erteilen.«
Inzwischen werden in den Massenmedien alle vierzehn Tage Umfragen zu allen möglichen Themen verbreitet und ausgiebig diskutiert. Die Gefahr der Ausrichtung der Politik an eine momentan demoskopisch (scheinbar) mehrheitsfähige Stimmungslage, die dann fälschlich mit Volksnähe verwechselt wird, unterhöhlt langfristig das Wesen unserer politischen Kultur. Die Parteien treten nicht mehr mit ihrer Programmatik in den Stimmenwettbewerb, sondern biedern sich an den potentiellen Wähler an. Aufgabe der kritischen Medien, denen von Lucke eine (arg pauschal formulierte) aufklärerische Rolle in seiner Doktrin einer Integration durch Kritik (naturgemäß) zugesteht, müsste mit einer im Diskurs zu findenden journalistischen Verantwortungsethik definiert werden. Die Medien sollten weniger sensationsaffin agi(ti)eren und nicht jede Verwerfung zum ultimativen »Skandal« aufblasen, sondern dem Bürger die Möglichkeit bieten, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen. Leider trägt das vorliegende Buch hierzu nur sehr begrenzt bei.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Danke! An dieser Stelle sage ich einmal ein großes Danke für Ihr Engagement, mit dem Sie uns Leserinnen und Lesern Bücher vorstellen. Um diese aktuelle Buchvorstellung in Papierform nachlesen zu können, habe ich sie in ein Word-Dokument kopiert und dabei festgestellt, es handelt sich um sieben Seiten. Sieben Seiten, in die Ihre Energie, Ihre Zeit und ihre jahrelange Erfahrung eingeflossen sind. Dabei denke ich auch an einen Freund, der einen 300 Seiten starkes Fachbuch über Heilkräuter herausgebracht. 18 Jahre an Recherchearbeit sind da hineingeflossen, 18 Jahre Lebenszeit. Ich erwähne das, weil es darauf aufmerksam macht, wie viel unsichtbare Arbeit hinter geschriebenen Seiten steht. Die sieben Seiten ihrer Buchvorstellung sind nur ein sichtbarer Bruchteil ihrer Arbeit.
– Und an dieser Stelle möchte ich Ihre Arbeit würdigen und Ihnen dafür danken. Für mich sind Ihre Buchvorstellungen interessanter zu lesen, als mir die Bücher zu lesen erscheinen, die Sie vorstellen.
Ich stimme mit Rosenherz vollkommen
was fuer ein Seltenheit von mir mit jemandem »vollkommen« uebereinzustimmen – in seiner Beurteilung wie schoen und gewissenhaft der Keuschnig das alles macht.
Danke. Wie die Abstimmungen zeigen, ist das Interesse höchst »selektiv« (um es freundlich zu informieren) – der Bedarf scheint nicht hoch zu sein. Ich glaube nach wie vor, dass es mit der Qualität der Texte zusammenhängt, die nur sehr sehr wenige Leute.
Ich glaube nicht an den Massengeschmack. Nicht alles, was sich gut verkauft bzw. was regen Zuspruch hat, ist gut. (Es ist vor allem deswegen nicht gut.) Aber alles was gut ist, hat irgendwann entsprechenden Zuspruch. Nicht alle Bestseller sind gut, aber gute Bücher werden irgendwann Bestseller. Das gilt für elektronische Medien in der Analogie noch viel mehr.
Die Stabilität der alten Bundesrepublik wird wohl vor allem auf zwei Säulen geruht haben: Dem kontinuierlichen Wachstum des Wohlstandes und dem Blick über die Mauer bzgl. der Alternative. Beide Gewissheiten sind jetzt weg. Es ist die Frage, wie es jetzt weitergeht. Es könnte tatsächlich so sein, dass die Funktionsfähigkeit des westlichen Gesellschaftsmodells der Demokratie auf der Garantie des wachsenden Wohlstandsniveaus beruht und anderenfalls seine Attraktivität verliert. Es ist aber nicht klar, was Ursache und was Wirkung ist. Also ob z.B. eine politische Diktatur zu wirtschaftlicher Stagnation führt oder Stagnation eine Diktatur hervorbringt oder sich beides wechselseitig bestärkt.
Ja, ich muss gestehen, dass ich die »Bipolarität«, also den »Systemvergleich« als konstituierend für die Bundesrepublik bisher unterschätzt hatte, was wohl eigener Naivität geschuldet ist/war, denn ich hätte mir eine Zeitlang durchaus (in ziemlicher Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse) auch vorstellen können, in der DDR zu leben.
Wenn die Akzeptanz der Demokratie tatsächlich so stark an (wirtschaftlichen) Wohlstand gekoppelt ist und in (vermeindlichen) Krisenzeiten so schnell verschwindet, dann wäre dies fatal. Zumal inzwischen eine Generation als (politische aber auch wirtschaftliche) Entscheidungsträger agiert, die die Vorteile einer pluralistischen Gesellschaft als selbstverständlich voraussetzt.
Deine Frage bzgl. der Diktatur vs. Stagnation stellt sich m. E. nicht. In China gibt es strenge politische Dikatatur, die voll auf die Karte des Kapitalismus gesetzt hat. Sie droht sogar ihre Legitimation in der Bevölkerung zu verlieren, wenn der »Fortschrittskreislauf« nicht aufrecht erhalten werden kann.
In Zeiten der Krise ist/war immer die Gefahr politischer Instabilität gegeben; der Wunsch, einer solle doch bitte alles wieder so schön wie früher machen, ist vermutlich ein in uns tief wesendes Gefühl. In diese Richtung geht auch der Obama-Kult in den USA, vor allem aber in Europa. Eine Sehnsucht nach einem »guten Diktator« – eigentlich ein Widerspruch in sich.
Du kannst Recht haben, dass das Modell Diktatur/Demokratie – Wirtschaftswachstum etwas zu einfach ist. Aber vielleicht muss man nur den Faktor »Nachhaltigkeit« noch hinzu nehmen. Wenn man abzieht, was China jetzt an seiner Zukunft verfrühstückt (Stichworte Umweltverschmutzung und Demografie), dann bleibt vielleicht überhaupt kein echtes Wirtschaftswachstum mehr übrig!?
Und man könnte die These auch so formulieren, dass sie nur in einer Richtung gilt: Wirtschaftswachstum ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Existenz von (westlicher) Demokratie. Dann sieht es für deren Fortexistenz noch trüber aus.
Was häufig auch vernachlässigt wird, ist die (anthropologische) Tendenz des Menschen, in stabilen Hirarchien zu leben und sein Sicherheitsbedürfnis erfüllt zu wissen. Ob Demokratie diese Bedürfnisse auf Dauer besser befriedigen kann als andere Modelle, kann man wahrscheinlich nicht theoretisch beweisen.
Das westliche Modell ist nur 200 Jahre alt und nur auf geschätzt einem Drittel der modernen Welt erfolgreich. Im gesamten Rest der Geschichte und der Welt dominieren Strukturen, wo sich die Anführer ihre Privilegien mit Gewalt erobert haben und verteidigen. Diese Strukturen sind hinreichend stabil, wenn sich die Anführer gut genug um die Bedürfnisse ihrer Untertanen kümmern und ihre Privilegien nicht über Gebühr missbrauchen.
D’accord
Ich glaube ja, dass neben dem »Wohlstand« auch das Sicherheitsdenken den Leuten die Demokratie in Deutschland schmackhaft gemacht hat. Das wird viel zu sehr unterschätzt bzw. miteinander vermengt. Die Hierarchie nahm man an (in Kauf), so lange das Versprechen lautete: immer ein bisschen besser – und der Staat ist zur Not immer noch da.
Insofern waren die Positionen in der BRD und der DDR nicht sehr weit auseinander (auch unter CDU-Regierungen!). Ich glaube, dass das, was viele Demonstranten in der DDR 1989 mit »Freiheit« subsummierten, teilweise wenigstens ein fundamentales Missverständnis war. Die »Freiheit« gibt es erst seit verstärkt seit Ende der 90er Jahre: Beispielsweise die Quasi-Kommerzialisierung des Gesundheitswesens (anderes [Grundversorgung] wollte man von politischer Seite den Leuten nicht zumuten) oder die Implementierung der »Hartz«-Reformen. Nur diese Form von Freiheit wollten sie natürlich nicht.
Dieses Abrücken des »Rundum-Sorglos-Staates« hatten die Skandinavier da schon hinter sich – merkwürdigerweise ohne die Systemfrage zu stellen.
Ich glaube nicht, dass wir auf Dauer eine Demokratie, wie wir sie heute verstehen, erhalten können, wenn wir nicht über Standards auch im politischen Leben diskutieren. Diese Diskussionen sind (ähnlich wie über die EU) merkwürdigerweise tabuisiert, weil man Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft vermeiden will. Mit einer Kanzlerin Merkel (aber auch – hypothetisch – Steinmeier) wird es solche Diskussionen nicht geben. Beide sind schwache Politiker, die ihre Politik nach (virtuellen) Umfragen organisieren. Merkel hat das im letzten Wahlkampf (mit dem »Heidelberger Professor«) anders versucht – und wäre fast gescheitert. Der Schock sitzt ihr heute noch in den Gliedern. Steinmeier ist (zusammen mit Steinbrück) der letzte Mohikaner der Schröder-SPD; da ist auch nichts Programmatisches zu erwarten.
Der politischen Klasse in Deutschland fehlt es an Zukunftsperspektiven, die über das normale Mass an Legislaturdenken hinaus gehen. Und ihnen fehlt es Köpfen.
Richard von Weizsäcker formulierte 1992 im Interview mit den Journalisten Werner A. Perger und Gunter Hofmann eine »Art von Vorteilsaufteilung zwischen Politik und Gesellschaft. In der Gesellschaft steht die Erhaltung materieller Vorteile im Vordergrund. Im politischen System dominiert die Kunst des Parteienkampfs untereinander. Es geht…um Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung.« Von einem »stillen Konsens zwischen Öffentlichkeit und Parteien« mochte von Weizsäcker zwar nicht sprechen. Die Gefahr sei jedoch, so der damalige Bundespräsident, dass »beide Seiten der ständigen Versuchung [erliegen] auf Kosten der Zukunft zu leben, um sich die Gegenwart zu erleichtern«.
Ich verstehe das Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung nicht. Wieso gegen?
Bezieht sich von Lucke irgendwo auf empirische Daten, die für Demokratieverfall sprechen (könnten)?
Die Gefahr der Ausrichtung der Politik an eine momentan demoskopisch (scheinbar) mehrheitsfähige Stimmungslage, die dann fälschlich mit Volksnähe verwechselt wird, unterhöhlt langfristig das Wesen unserer politischen Kultur.
Wurde das »dem Volk aufs Maul schauen« jemals nicht praktiziert? Ist das nicht bis zu einem gewissen Grad demokratieimmanent (ich glaube wir haben das schon einmal diskutiert)?
Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung
»Gegen« im Sinne eines Deals: Ware »gegen« Geld...
Natürlich ist es immanent, dem »Volks aufs Maul« zu schauen, wobei definiert gehört, was das bedeutet. Es kann – meines Erachtens – nicht bedeuten, per se alle Strömungen und Affekte aufzunehmen und in sein politisches Profil zu integrieren. Wir hätten dann unter gewissen Umständen ganz schnell so etwas wie die Todesstrafe wieder oder den Austritt aus der EU (beides zugegebenermassen extreme Beispiele).
Wir hatten die Diskussion schon einmal (beim Möllers): Eine Politik, die sich ausschliesslich auf populistische Strömungen konzentriert, verliert auf lange Sicht Glaubwürdigkeit. Sie muss natürlich eine Synthese bzw. einen Kompromiss finden, sie darf den Kompromiss aber nicht bereits in ihrer Programmatik einbauen.
Abschreckend wirkt dabei der deutsche Bundestagswahlkampf 2005. Als der »Professor aus Heidelberg« (Kirchhof) sein Steuermodell vorschlug und damit in Merkels Wahlkampfteam eintrat, wurde ihr dies mit einem extrem schlechten Ergebnis vergolten: Die Leute wurden von dem wirtschafts-liberalen Programm abgeschreckt; alle Wahlprognosen (die teilweise von 40% und mehr sprachen) waren falsch (es gab 35,2%).
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Von Lucke gibt keine empirischen Daten; er ist Nostalgiger, da »zählt« das »Gefühl«.
Demokratie kann bedeuten, dass das getan wird, was die Mehrheit befindet, besser: vorschlägt (also in die Richtung deiner beiden Beispiele). Oder, dass die Allgemeinheit über Vorschläge von Politikern befindet (abstimmt). In unseren Demokratien gibt es ein Mittelding: Politiker machen Vorschläge, wenn die nicht gut ankommen, gibt es neue, oder veränderte (wie im Wahlkampf 2005, den Du ansprichst).
Der Vorteil über Vorschläge von Spezialisten (Politikern usw.) abzustimmen, liegt darin (kann darin liegen), dass sie mehr Zeit und Wissen in diese Vorschläge stecken können, als der Bürger, dem dann die Aufgabe zufällt, die Vorschläge nachzuvollziehen und zu bewerten. Zu letzteren benötigt man aber wieder Wissen und Zeit, wahrscheinlich aber weniger, als zur Entwicklung der Vorschläge. Ein Problem ist, dass unter Umständen und aus bestimmten Gründen, manche Vorschläge gar nicht gemacht werden.
Dass wir über Vorschläge (= Programmatik) einzelner Politikfelder abstimmen, ist selten (gibt es in Volksentscheiddemokratien wie der Schweiz vielleicht). Meist bekommen wir einen Cocktail vorgesetzt, der dann entweder zu akzeptieren oder abzulehnen ist.
Schlimm wird es dann, wenn Partei X mit der Programmatik X1, X2 und X3 und Partei Y mit Y1, Y2, Y3 eine »grosse Koalition« eingehen und statt X1 oder Y1 oder XY1 dann Z beschliessen. Sie stellen die Koalitionsstruktur über ihre Programmatik, denn vielleicht hätte sich mit Partei A und B ja X1 oder Y1 mit geringen Variationen durchsetzen lassen.
Österreich ist da m. E. ein abschreckendes Beispiel; ich fände es fatal, wenn nach der Wahl im September in Deutschland wieder nur die »grosse Koalition« (mit vielleicht nur 58–60%) möglich wäre. Zumal die FDP über die Ländervertretung Bundesrat und zahlreichen Koalitionen mit der CDU auch noch »im Boot« sässe. Man könnte zu dem Gedanken kommen, dass eine CDU/CSU/FDP-Koalition im Bund unabhängig ob man in der Programmatik der Parteien zustimmt, besser wäre als der status quo.
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Interessant ist es, warum bestimmte Vorschläge politisch nicht artikuliert werden. Meines Erachtens gibt es dafür zwei Gründe:
1. Der Vorschlag ist zwar sachlich richtig, aber unpopulär, kostet Stimmen und somit die Macht.
2. Man befragt den Bürger nicht, weil man das Urteil fürchtet (beispielsweise EU) und zieht das lieber ohne grosse Diskussion »durch«.
Beides zeugt von tiefer Skepsis dem gegenüber, was man Demokratie nennt. Das Verhalten zu 1 ist opportunistisch, zu 2 paternalistisch. Beides entbindet die Politik von dem, was man Diskurs nennt.
Naja, Nationalrats-/Bundestagswahlen sind schon mit Vorschlägen gekoppelt, aber diese eben gebündelt (wohl das was Du mit Cocktail bezeichnest). Das Allerübelste an großen Koalitionen ist, dass alles, und zwar wirklich alles, untereinander und unter dem Gesichtspunkt von Macht bzw. Einfluss geteilt wird.
ad 1: Wozu man natürlich den Widerstand aus den eigenen Reihen hinzuzählen muss.
ad 2: Hier müssten Medien und Journalisten korrigierend eingreifen und das Thema diskutieren und damit ins öffentliche Bewusstsein rücken – mit Schweigen täte man sich dann schon viel schwerer. Passiert ist es im Hinblick auf die EU aber nicht.
Journalisten
Hier müssten Medien und Journalisten korrigierend eingreifen und das Thema diskutieren und damit ins öffentliche Bewusstsein rücken
Wie wahr. Alleine: Meine Wahrnehmung sagt, dass dieses thematische Aufgreifen zunehmend in den Hintergrund gerät und immer mehr innerfraktionelle bzw. innerkoalitionäre Streitigkeiten, die an Personen festmachbar sind und sich somit wunderbar journalistisch aufbereiten lassen in den Vordergrund rücken.
Eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema findet immer weniger statt. Das hat auch darin den Grund, dass Journalisten der Komplexität der Ereignisse bzw. des Themas oft genug nicht mehr gewachsen sind (was sie mit den Politikern oft verbindet) und dann lieber auf die Meta-Ebene ausweichen. Das gilt natürlich insbesondere für die Thematik um die EU. Aber auch umweltpolitische oder ökonomische Themen werden auf ziemlich niedrigem Niveau diskutiert. Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die Medien die Politik fast zwingt immer mehr in schlagwortartigen Parolen auszuweichen. Das wird dann wieder als meinungsbildende Transparenz verkauft. Eine Spätfolge von »Bild«-(bzw. »Kronen«-)Zeitung. Dem potentiellen Wähler wird damit häufig ein Kenntnisstand suggeriert, der gar nicht existiert. Aber er darf dann bei Online-Umfragen (seriöser) Medienportale abstimmen, ob der Chef der Deutschen Bahn nun gehen soll oder nicht.
Selbstkritischer könnte man anmerken, dass das auch Sache der Blogger ist (zusätzlich, nicht statt der Journalisten/Medien).
Der europäische Verfassungsvertrag ist verflixt kompliziert, und vieles andere auch ... das könnte Medien begünstigen, die sich Zeit nehmen (können) und nicht täglich erscheinen (müssen), also z.B. Wochen- oder Monatszeitungen. Zumindest entspräche das meinen Lesegewohnheiten: Die alltäglichen Informationen (also was passiert) bekommt man ohnehin aus dem Netz (oder alternativen Quellen wie Radio oder Fernsehen), und auf Papier das was man in Ruhe lesen will, wofür man sich Zeit nimmt, und das auch entsprechend gestaltet ist (sehr lange Artikel lese ich nach wie vor nicht gerne auf dem Bildschirm).
Man konnte das was Du beschreibst bei uns unlängst in der Diskussion um den Grünen Spitzenkandidaten Voggenhuber (EU-Wahl) sehen.
@Metepsilonema
Die Voggenhuber-Sache habe ich nur am Rande verfolgt; ich glaube, da spielen auch die Machtkämpfe innerhalb der österreichischen Grünen mit hinein. In Deutschland sind die Grünen ja auch nach aussen enorm »basisdemokratisch«, in Wirklichkeit jedoch durchaus auch ein Intrigen- und Machtverein (menschlich halt). Bei der deutschen Linkspartei wurden auch die kritischen, aber pro-europäischen Kandidaten für das Europaparlament ausgebremst bzw. gar nicht mehr aufgestellt.
Natürlich ist der Lissabon-Vertrag kompliziert, aber – und da stimme ich Dir zu – hierin könnte ja auch eine Herausforderung für die Medien liegen. Oft genug ist das Gegenteil der Fall.
Dein emphatisches Urteil den Bloggern gegenüber vermag ich so nicht zu teilen. Meine Erfahrung (gerade mit den gängigen Themen wie EU- bzw. Lissabon-Problematik oder auch bei den immer wieder aufflammenden Nahost-Kriegen): Sehr sehr viel Stammtischgenöle, welches mit Pseudoargumenten unterfüttert wird (ich könnte einige Beispiele zum Irland-Nein anbringen, lasse das aber). Viele Blogger suchen so lange im Netz, bis sie ihre Meinung einigermassen wiedergegeben sehen und beziehen sich dann darauf, wobei sie – und das werfe ich ihnen vor – keinerlei Gegenargument zulassen und/oder dies sofort denunzieren. Sie reduzieren häufig genug die Welt auf schwarz oder weiss, und verwechseln eine Position zu haben mit Ideologie.
Natürlich war das ein Machtkampf, und selbstverständlich soll das Platz in den Medien haben, allerdings glaube ich kaum, dass es ein EU-relevantes Thema gibt, dem dieselbe Aufmerksamkeit zu teil wird.
Was die Blogger angeht, sind diese doch Staatsbürger wie Nichtblogger, und damit – wenn nicht verpflichtet‑, so doch durchaus in der Lage auch selbst auf Informationssuche zu gehen, und Diskussion anzustoßen. Es ist wohlfeil nur Medien und Journalisten zu kritisieren (das geht natürlich nicht an Dich), man muss die Forderung auch (in einem gewissen Maß) an sich selbst wenden.