Hinein ins Untergeschoss »minus 1«. Rechts Bosch und Bruegel, links Rembrandt und Rubens. Natürlich nach rechts. Abgedunkelter Raum, Zeichnungen, die 500 Jahre alt sind. Hieronymus Bosch etwa: »Der Baummensch«. Oder »Die großen Fische fressen die Kleinen« von Pieter Bruegel. Man achte auf die Kleinigkeiten, die fliegenden Fische und den rechts laufenden Fischmenschen, der seinerseits einen Fisch im Maul hat. (Die Deutung als Kapitalismuskritik scheidet irgendwie aus.) Wenn man den Saal weitergeht, sind links die Zeichnungen Bruegels der sieben Todsünden zu sehen. Direkt gegenüber laufen dann sieben kleine Filmessays von Antoine Roegiers, die zeichentrickfilmartig die jeweiligen Sünden anhand der Bruegelschen Figuren fortschreiben, nein: fortzeichnen:
Nachdem ich zunächst die Videos im Stehen angeschaut hatte, mochte ich am Ende von dem schmalen Bänkchen gar nicht mehr aufstehen. Wichtig ist es, seine Sitzposition dem jeweiligen Video zuzuwenden. Und dann hockt man noch einmal davor um in einem Art Panorama alles gleichzeitig auf sich wirken zu lassen. (Den Schulklässlern, jenseits ihres Idioms, musikvideogestählt, vollziehen diesen Blick sehr viel schneller; sie verweilen nur die rund zwei Minuten, die diese Filme dauern.) Man muss natürlich Glück haben, dass niemand vor einem steht, aber die Geduld der Besucher war zumeist nicht sehr groß. Und man muss aufpassen, sich nicht vollständig diesen Videos hinzugeben, sondern immer mal wieder auch die Bruegelschen Originale anzuschauen.
Natürlich gab es hier nicht die großen Hieronymus-Bosch-Gemälde, wie das »Jüngste Gericht« (nur wenige km Luftlinie entfernt) oder den »Garten der Lüste« (Madrid). Aber auch hier verwendete Bosch Bilder aus Bestiarien, die er mit seiner Phantasie zu monströsen, alptraum- und endzeitmässigen Horror- und Fabelwesen montierte, die noch heute nicht nur beeindrucken sondern fast intuitiv jenseits ihrer intendierten Bedeutung, die Philologen mühsam glauben herausgefunden zu haben, irgendwie verstanden werden – und sei es darum, dass sie verblüffend protestantisch daherkommen (und das bevor der Calvinismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert ins Land kam), weil sie dem Betrachter, der nicht fromm genug lebt, Furcht vor Fegefeuerqualen einflössen sollen.
Aber die feinen Zeichnungen beeindrucken noch mehr, wenn man Stunden später im zweiten Stock die Max Ernst-Ausstellung anschaut. Der frohe Rheinländer Ernst und seine Freunde brauchten für ihren Surrealismus ein Manifest. Ähnliches ist von Bosch und dem vermutlich von ihm inspirierten Bruegel (der eigentlich der »Bauern-Bruegel« war) nicht überliefert. Die Inspirationen durch die mittelalterlichen Holländer zeigt sich nicht nur bei den Darstellungen der Versuchungen des Heiligen Antonius zwischen Boschs und Ernsts Bildern. Auch in anderen Werken der Surrealisten wirkt Boschs Bildersprache nach.
Obwohl am Eingang ein striktes Fotografierverbot ausgesprochen wird, weisen die freundlichen, kaum auffallenden Damen und Herren vom Sicherheitsdienst des Museums nur bei Blitzlichtern dem Fotografen mit einem standardisierten »no flash« in die Schranken. Bei Rucksäcken sieht es anders aus; die müssen am Eingang abgegeben werden, wie ein Amerikaner in längerem Disput erfuhr, während Schülerinnen ihre großformatigen Taschen mit riesigen Wasser- oder Eisteeflaschen über die Etagen schleppten. Am Eingang zur Lewis Baltz-Ausstellung gab es noch einmal einen Hinweis auf ein Fotografierverbot. Wenn, hätten mich nur die Fotografien von Stephen Shore interessiert. Aber ich wollte unbedingt im Café noch einen »Großen Braunen« trinken und blätterte im ausliegenden Max-Ernst-Katalog. Danach ging ich durch den Regen zur Österreichischen Nationalbibliothek. Von dort aus mit K. K. in den »Bräunerhof«. Man wirbt mit einer Textpassage aus »Wittgensteins Neffe« von Thomas Bernhard. Ich habe noch eine andere gefunden: Im Bräunerhof, über welchem mein Freund schon Jahrzehnte wohnte, bevor ich ihn kennenglernt hatte, stört mich heute noch die schlechte Luft und das wohl aus perversen Sparsamkeitsgründen andauernd auf ein Beleuchtungsminimum heruntergedrückte Licht….
Aber der Salat war gut.
»Die großen Fische fressen die kleinen« können wir heute lebenden Menschen doch durchaus als Kapitalismuskritik lesen, oder?
[500 Meter sind es ungefähr]
Naja, die Frage ist, ob man als heutiger Zuseher etwas seriös hineininterpretieren kann, was der Künstler damals nicht derart vor Augen haben konnte (= Kapitalismus). Oder ob es gerade dieser Aspekt ist, der das Werk noch schillernder macht? Dass es eine biblische oder sonstwo zirkulierende Allegorie war, steht natürlich außer Frage. (Etwas mehr zur Zeichnung hier.)
Man kann ein Werk anders lesen, als von seinem Schöpfer beabsichtigt oder bedacht, ich glaube das ist kein Ausnahmefall; das ist natürlich etwas anderes, als die Intention oder die Aussage, die der Künstler anstrebte, freizulegen. Aber der vorliegende Leitgedanke, dass die Großen, die Kleinen fressen, passt in viele Bereiche des menschlichen Daseins.
Ich habe mich neulich mal wieder mit dem »Gesang der Jünglinge« von Stockhausen beschäftigt – mit dem mich einige starke biografische Momente verbinden.
Die Komposition heißt ja komplett »Gesang der Jünglinge im Feuerofen«. Und nun – auch weil mir durch das Internet erst jetzt gewisse entlegene Kommentar-Quellen von damals zur Verfügung stehen – erfahre ich, dass sich Stockhausen bei der Komposition auf den Holocaust bezog. (Auch die biblischen Bezüge gingen mich damals nichts an – heute gehen mir daran die Augen auf [die Ohren].)
Auf die Musik gekommen war ich seinerseits durch meinen Vater, der sich früh für neue, elektronische Musik interessiert hatte. Er kann sich heute nicht mehr erinnern, ob ihm dieser Holocaust-Bezug bewusst war, aber die Attraktion war auch für ihn vor allem der fremde, der unerhörte Klang.
Der Gedanke also ist, dass meine Naivität mir gewissermaßen einen (und dann immer wichtiger und folgenreicher werdenden) Zugang ermöglichte, den ich bewusst, in Kenntnis der Absicht des Komponisten, vielleicht nie gesucht hätte. Und ich denke immer noch darüber nach, was ich davon halten soll.