[Zum 100. Geburtstag von Robert Jungk]
TAGEBUCHEINTRÄGE, 10./11./12. MAI 1983
Dienstag, 10. Mai
Morgens Percoffedrinol gekauft. Im Hotel1, mit Pillenkraft im Leib, den Brief an den Vater geschrieben – bleibe in meinem Zimmer No. 7, dasselbe Zimmer wie damals – mehr als 13 Jahre sind vergangen. Mein Zimmer, in dem das Schreiben eigentlich wirklich begann, von ein paar Schreibversuchen im Hause der Anneliese Römer abgesehen. Mein kleines Zimmer! Ulrike L. lag oft auf diesem Bett, und ich entjungferte sie nicht. Das war meine Haschisch-Zeit, im Vollrausch kam ich nachts nach Hause – und Mutter unter die Augen. Das ist das Zimmer, in dem Mutter heimlich mein Tagebuch las – so viel ist damals passiert, innerhalb der 6 Monate, die wir hier zubrachten – ein Zuhause.
Esse eine Kleinigkeit im Zimmer, lese mir dann die erste Fassung des Briefs auf Tonband vor, bin recht zufrieden. Um 4h in die Stadt, muss ja noch Geschenke finden. Im neuen »Stern« tatsächlich ein Artikel zu Vaters Geburtstag. Laufe ins Papiergeschäft, kaufe ihm siebzig (70!) Kugelschreiber – Mutter meinte: nein, das sei keine gute Idee, und wenn, dann Bleistifte. Höre nicht auf sie, vertraue mir selbst.
Um 7h beginnt Sombarts2 Party, im Hotel – sein 60. Geburtstag. Seine Tochter Elisabeth spielt Klavier. Eigenartige Menschenmischung – ein »Baulöwe« als Tischnachbar. Putti und Paul Kruntorad3, Nike Wagner – die Darbietungen zwischen den Gängen alle schief und daneben. Dennoch: ein guter Zauberer. Die halbseidenen Mädchen, zum Teil auch nackt. Der Transvestit. Enthüllung eines scheußlichen Gemäldes: Sombart-Porträt. Nachtlokalatmosphäre. Und Sombart denkt nicht daran, um 0h Vaters Geburtstag zu erwähnen, keine Spur davon. Wolfi4 kommt, kurz vor Mitternacht – wir vier dann ins Elternzimmer, No. 10, feiern den 11. Mai. Unfassbar: Vater ist 70!
Unten, in der Halle, geht’s weiter bis in den frühen Morgen. Bin bis ca. halb 3h mit Wolfi zusammen, d.h. eigentlich mehr mit Nike. Wolfi versteht nicht, warum ich nicht mit ihr schlafen will. Wirbt selbst um sie. Auch ein anderer Mann tut das, bemüht sich sehr, mit ihr zu tanzen – setzt sich schließlich durch, und Nike kümmert sich nicht mehr um mich. Wildes Getanze, an dem ich nicht teilnehme. Als ich etwas beleidigt aufs Zimmer gehe, Nikes wegen, sehe ich sie aus dem Augenwinkel ganz nah an mir vorbeigehen; im 1. Stock, aber weder sie noch ich reagieren, vielleicht sah sie mich nicht? Im Zimmer ist der Lärm von unten ziemlich stark zu hören – gehe nochmals hinunter, will sehen, was Nike macht. Sage zu Putti und Wolfi, es sei so laut in meinem Zimmer. W. darauf, ganz streng: »Lügner!« Gehe wie ein Geprügelter nach oben. Sehe noch: Nike tanzt mit Paul.
Mittwoch, 11. Mai
Wirklichkeit: Vaters 70. Geburtstag5. Muss um 7h aufstehen, um den Brief an den Vater in die Reinschrift zu bringen. Um halb neun das Aufstehen der Eltern – bin müde, aber guter Dinge. Vaters guter Zustand. Das schöne Frühstück – Anrufe, Telegramme. Keine Geschenke, morgens, wir müssen ins Congreßzentrum ICC – dort um 11h Pressekonferenz, Erhard Eppler, Gert Bastian, man feiert Vater, mit Torte und Blumen und großem Applaus. Auch Petra Kelly, die Blasse, Überanstrengte. (…) Im ICC geblieben, dort auch zu Mittag gegessen, die grüne Führungsspitze in unserer Nähe, Vater geht zu ihnen, aber ich will nicht als Sohn vorgestellt werden und halte mich fern. So ähnlich auch morgens, als mich Mutter Erhard Eppler vorstellen wollte – plötzlich war ich verschwunden. Sie sagte noch: »Wo ist denn mein Sohn?! Wo ist er denn? Er war doch gerade noch da?« (…) Nachmittags Bücher-Signieren des Vaters, mit Eppler zusammen; seine Ausdauer! (…) Nachmittagsschlaf im Hotel, um 18h fahren wir zur Clara6, Vater wird dort telephonisch interviewt, auch im österreichischen Mittagsjournal war er zu hören, alles spricht von Jungk, heute. Die Gäste, ca. 50 an der Zahl – Claus Koch7 und Frau, Sombart ohne Nike, Dietger Pforte mit Sohn, der auf Naturkost allergisch ist! Dietger versucht, mir das Werfelprojekt8 auszureden, ewig sei dann mein Name mit Franz Werfel verschweißt – mit einem Autor, den er für nicht allzu interessant hält, obendrein. Norbert Müller, das Ehepaar Flechtheim9, Galtungs10, dessen kleine Tochter sich immer wieder auf mich stürzt und schreit: »Pappi! Pappi!«, ihre japanische Mutter macht das ganz verlegen. »Stars« des Abends sind Thyra und Ellsberg11. Thyra, die ja auch in Vaters Buch ‘Menschenbeben’ vorkommt und zum Islam übergetreten ist, in jüngster Vergangenheit. Unternahm drei Selbstmordversuche. Und jetzt durchlebt sie alle Stufen des Orthodoxwerdens, ah!, wie ich das kenne!12 Bis hin zum Ausspucken des Geburtstagstorte-Bissens, als ihr klar wird: »da is’ ja Alkohol drin!« Und Ellsberg ist hinter Thyra her, die beiden waren einmal ein Intensiv-Paar, jetzt will Thyra nichts mehr von ihm wissen, er verhält sich BETTELND, ihr gegenüber, läuft hinter ihr her, versucht dauernd, sie zu berühren, oder wenigstens zu photographieren, aber ganz ohne Erfolg. Islam verbietet ja auch, die Frau zu berühren. Aber wie untertänig er sich verhält! Und wie glücklich er ist, als ich ihm die wenigen Sätze übersetze, die in ‘Menschenbeben’ Thyra behandeln! Ein Besessener, durch und durch.
Auf dem Balkon, kurz vor Mitternacht: Umarmung zwischen Thyra, Bob13, Mutter, Thyras Freundin und mir, wir halten uns aneinander fest und hören aus einem Recorder Stevie Wonder’s »Happy Birthday...!«
Bis ca. halb 2h das Party-Treiben – viele Bilder, Momente, Stationen...Thyra immer bloßfüßig, auch auf der regennassen, kalten Straße!
Gehrhus, Telegramme, Abschied.
Donnerstag, 12. Mai
Heute erst die Geschenke – Vaters RÜHRUNG (auch ich muß beim Lesen weinen!) ad Brief zum 70. Sein vielfacher Dank für dieses Geschenk.
Besuche Anouschka Deutsch14 – herrliche Begegnung – zarte, edle Frau, 87 Jahre alt. Ich nehme sie heimlich auf Tonband auf.
Eltern noch kurz vor der Abreise im Gehrhus besucht – Aufregung wegen Petra Kellys kurzer Ostberlin-Verhaftung.
Meine Schlafwagenreise nach München, werde in München nicht geweckt, schlafe noch, als der Zug längst steht...
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© Peter Stephan Jungk
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Schlosshotel Gehrhus, im Grunewald, West-Berlin ↩
Österreichischer Schriftsteller & Kulturkritiker, 1935 - 2006 ↩
Österreichischer Schriftsteller & Kulturkritiker, 1935 – 2006 ↩
Wolfgang Sebastian Baur, Schauspieler, Übersetzer ↩
Robert Jungk wurde am 11. Mai 1913 in Berlin geboren. Er starb am 14. Juli 1994. ↩
Gemeint ist die langjährige Familienfreundin und Leiterin des Basis Filmverleihs Clara Burckner. ↩
Deutscher Schriftsteller und Journalist, 1929 – 2010 ↩
Ich begann im Frühjahr 1983 die Lebensgeschichte Franz Werfels zu recherchieren, das Buch erschien 1987 im S. Fischer Verlag: "Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte". ↩
Ossip K. Flechtheim, 1909 – 1998, prägte den Begriff »Futurologie«. ↩
Der Friedensforscher Johan Galtung hat sich mittlerweile als virulenter Antisemit und Verschwörungstheoretiker einen traurigen Namen gemacht. ↩
Thyra Quensel, Ex-Vorsitzende der Grünen in Berlin, und Daniel Ellsberg, amerikanischer Friedensaktivist, der die Pentagon Papers an die Öffentlichkeit brachte. ↩
In jener Zeit liebäugelte ich mit dem orthodoxen Judentum… ↩
Freunde und Familie nannten meinen Vater Bob. ↩
Ich interviewte die Witwe des Schauspielers Ernst Deutsch (1890 – 1969) im Rahmen meiner Recherchen zur Biografie Franz Werfel. Deutsch war ein Jugendfreund Werfels. ↩