Al­bert Ca­mus: Der Fall

Albert Camus: Der Fall

Al­bert Ca­mus: Der Fall

Er nennt sich Jean-Bap­ti­ste Cla­mence, lebt in Am­ster­dam und hat sich in der Ma­tro­sen­knei­pe Me­xi­co-Ci­ty im Am­ster­da­mer Stadt­teil Ze­edi­jk, na­he zum Rot­licht­vier­tel, ein­ge­rich­tet. Hier spricht er Tou­ri­sten an, ver­wickelt sie in sei­ne Le­bens­ge­schich­te, er­zeugt Neu­gier. Auf die­se Wei­se trifft sich fünf Ta­ge lang ein Rechts­an­walt aus Pa­ris mit Cla­mance; bei­de, wie es ein­mal heißt, »Kin­der des Jahr­hun­derts«. Die Treff­punk­te va­ri­ie­ren: das Me­xi­co-Ci­ty, beim Spa­zie­ren­ge­hen, auf ei­nem Schiff, ei­ner In­sel und schließ­lich bei sich zu Hau­se. Das ist das Set­ting für Der Fall, Al­bert Ca­mus’ 1956 erst­mals er­schie­ne­ner Ro­man, der nun in ei­ner neu­en Über­set­zung von Gre­te Oster­wald vor­liegt.

Da­bei ist schon die Gen­re­bezeich­nung schwie­rig, denn die knapp ein­hun­dert Sei­ten stel­len eher ei­ne Er­zäh­lung dar. Aber auch stimmt nur teil­wei­se, denn man liest nur den Mo­no­log von Cla­mence, der dem An­walt sei­ne Le­bens- und Mo­ral­ge­schich­te vor­trägt. Ge­le­gent­li­che Ein­wür­fe des Ge­gen­über er­fährt man nur da­durch, dass Cla­mence sie wie­der­holt und dann dar­auf ein­geht. Im Nach­wort ver­weist Iris Ra­disch auf ei­ne Ta­ge­buch­stel­le von Ca­mus, der die­ses li­te­ra­ri­sche Ver­fah­ren als »ei­ne Tech­nik des Thea­ters (den dra­ma­ti­schen Mo­no­log und den im­pli­zi­ten Dia­log), um ei­nen tra­gi­schen Ko­mö­di­an­ten zu be­schrei­ben« spe­zi­fi­ziert. Aber wor­in be­steht die­se Tra­gik?

Ra­disch ver­or­tet den Text als »ein Schar­nier zwi­schen dem Zy­klus der Re­vol­te und dem noch aus­ste­hen­den Zy­klus der Ne­me­sis«, den Ca­mus auf­grund des töd­li­chen Un­falls 1960 nicht mehr fer­tig­stel­len konn­te. Ur­sprüng­lich soll­te der Text Der gu­te Apo­stel oder Ein Held un­se­rer Zeit hei­ßen, wo­bei letz­te­rer Ti­tel durch ei­nen Ro­man von Mi­cha­el Ler­mon­tow be­reits be­setzt war. Da Der Fall als Ro­man ein­ge­stuft wird, kann man jetzt sa­gen, dass es der ein­zi­ge Ro­man von Ca­mus’ ist, der nicht am Mit­tel­meer an­ge­sie­delt ist.

Und doch schwingt na­tür­lich Ca­mus’ »Son­nen­den­ken«, die­se Flucht in ei­nen em­pha­ti­schen Mit­tel­meer­kult, als Kon­trast zum neb­li­gen, reg­ne­risch-kal­ten Nord­eu­ro­pa (hier: Am­ster­dam) stän­dig mit. Cla­mence war sel­ber An­walt in Pa­ris, spe­zia­li­siert auf die »ed­len Fäl­le« (die Kli­en­ten wa­ren Ober­schicht), be­seelt da­von »auf der rich­ti­gen Sei­te zu sein, und ei­ner in­stink­ti­ven Ver­ach­tung ge­gen­über Rich­tern im All­ge­mei­nen.« Da­bei in­ter­es­sier­te ihn nicht Ge­rech­tig­keit, son­dern nur das Spiel. Er er­zählt von sei­ner Be­liebt­heit, Groß­zü­gig­keit, Höf­lich­keit, kurz: er lobt sich in den höch­sten Tö­nen. Aber das war nur Fas­sa­de. Wenn er sich um an­de­re küm­mer­te, war dies in Wahr­heit nur Her­ab­las­sung. Er sah sich als »Über­mensch«, kann­te und lieb­te nur sich; auch Frau­en wa­ren nur Ob­jek­te für sei­ne Lust. Nichts be­frie­dig­te ihn auf Dau­er, »je­de Freu­de lö­ste das Ver­lan­gen nach der näch­sten aus«, das Le­ben war »im­mer er­füllt« aber »nie ge­sät­tigt«. Die­ser fast krank­haf­te Zwang nach stän­dig neu­en Rei­zen ist al­so nicht nur ein Phä­no­men der Ge­gen­wart.

Dann ge­scha­hen Er­eig­nis­se, die ihn all­mäh­lich aus der Bahn war­fen. So hör­te er ei­nes Ta­ges ein La­chen, wel­ches er nicht zu­ord­nen kann. Lacht man über ihn? Ist es nur ein Echo? Droht er viel­leicht wahn­sin­nig zu wer­den? Spä­ter ent­deck­te er auf ei­ner Brücke ei­ne Frau, die sich hin­un­ter­stürz­te. Er holt kei­ne Hil­fe. Lan­ge­wei­le und Ver­un­si­che­rung ver­än­der­ten ihn. Er war nicht mehr hilfs­be­reit, im Ge­gen­teil, und woll­te »die schö­ne Kunstfigur…aufbrechen.« Wie ein Schul­jun­ge spiel­te er von da an Strei­che auf Ko­sten an­de­rer; die Leu­te, die kon­di­tio­niert wa­ren auf sei­ne bis­he­ri­gen Ver­hal­tens­wei­sen, sa­hen lan­ge dar­über hin­weg.

Im­mer tie­fer dringt man in Cla­man­ces Den­ken ein. Ir­gend­wann gab er sein An­walts­bü­ro auf, ver­ließ Pa­ris. In die Ré­si­stance – es ist die deut­sche Be­sat­zungs­zeit – ging er nicht, sie kam ihm »ein biss­chen ver­rückt und, of­fen ge­stan­den, ro­man­tisch« vor, da­für nach Afri­ka, ge­riet in deut­sche Ge­fan­gen­schaft, wur­de zum »Grup­pen­füh­rer oder Zel­len­se­kre­tär« ge­wählt (be­reits hier be­nutz­te er für sich die Be­zeich­nung »Papst«) und trank schließ­lich in Not ei­nem Tod­ge­weih­ten das Was­ser weg. Im Am­ster­dam nann­te sich Cla­mance dann »Buß­rich­ter« und wech­sel­te end­gül­tig vom Über­men­schen zum Papst: »Ich bin das En­de und der An­fang, ich ver­kün­de das Ge­setz«; »hun­der­te Mil­lio­nen Men­schen« sei­en sei­ne »Un­ter­ta­nen«. Zur Be­kräf­ti­gung zeig­te er sei­nem Gast die aus ei­nem Raub von 1934 ent­wen­de­te Ta­fel des be­rühm­ten Van-Eyck-Al­tars Die An­be­tung des my­sti­schen Lam­mes aus der St.-Bavo-Kathedrale in Gent mit dem für ihn mehr­deu­ti­gen Ti­tel Die Ge­rech­ten Rich­ter. (Tat­säch­lich wur­de das Ori­gi­nal ge­stoh­len und blieb bis heu­te ver­schwun­den.)

Für Cla­mance ist je­der Mensch al­lei­ne schon durch sei­ne Exi­stenz ein Schul­di­ger. Er un­ter­stützt dies mit der Ab­wen­dung vom Be­griff der Frei­heit hin zur Un­ter­wer­fung, zum Prei­sen der »Knecht­schaft«, die dem In­di­vi­du­um je­de Ver­ant­wor­tung ab­nimmt. Ist es die kru­de Re­li­gio­si­tät von Cla­mance, die man als »Fall« be­zeich­nen kann und der Er­zäh­lung den Ti­tel gab? Iris Ra­disch weist dar­auf hin, dass man den Ori­gi­nal-Ti­tel La chu­te mit »Sün­den­fall« über­set­zen kann. Oder ist eher der ge­sell­schaft­li­che oder mo­ra­li­sche »Ab­sturz« des Hel­den ge­meint?

Der Text ent­stand nach­weis­lich in ei­ner exi­sten­ti­el­len Kri­se von Ca­mus, die durch die zum Teil bo­den­lo­se, hä­mi­sche Kri­tik zu sei­nem Es­say Der Mensch in der Re­vol­te her­vor­ge­ru­fen wur­de. Ra­disch wählt hier den Be­griff der »öf­fent­li­chen Hin­rich­tung«. Wort­füh­rer war hier – wie soll­te es an­ders ge­we­sen sein – Jean-Paul Sart­re. Ca­mus ließ Cla­mance nun Kri­tik an die »pro­fes­sio­nel­len Hu­ma­ni­sten« üben, die in den Pa­ri­ser Ca­fé­häu­sern be­reits durch die »bei­läu­fi­ge« Ver­wen­dung des Wor­tes »Gott« (et­wa als Aus­ruf) in Em­pö­rung ver­fie­len: »Sie wis­sen ja, was für schüch­ter­ne Kom­mu­ni­kan­ten un­se­re Bi­stro-Athe­isten sind. Ein Mo­ment der Be­stür­zung folg­te dem Aus­spruch die­ser Un­ge­heu­er­lich­keit, ver­dutzt blick­ten sie ein­an­der an, dann brach der Tu­mult los…«

Die Fi­gur bleibt in ih­rer chan­gie­ren­den Am­bi­va­lenz zwi­schen Sa­lon­lö­we, Peer Gynt, Ras­kol­ni­kov und Sek­ten­pre­di­ger schwer fass­bar. Bei der ein oder an­de­ren Sen­tenz er­tappt man sich zu­stim­mend, dann wie­der­um wen­det man sich mit Grau­sen ab, et­wa bei der zu Be­ginn grau­en­haf­ten Be­mer­kung über die »Hit­ler­brü­der«, die einst im Am­ster­da­mer Ju­den­vier­tel »Platz ge­schaf­fen« hät­ten. Na­tür­lich liegt die In­ter­pre­ta­ti­on von Ra­disch na­he, dass es sich hier um ei­ne »Kla­ge über den mo­ra­li­schen Nie­der­gang Nord­eu­ro­pas« han­de­le. Spinnt man den Fa­den wei­ter, er­kennt man ei­ne deut­li­che Kri­tik am aka­de­misch-in­tel­lek­tu­el­len Mi­lieu mit Cla­mance als Statt­hal­ter, der nur ein Kon­ti­nu­um in sei­nem Den­ken und Han­deln kennt: sei­ne Selbst­lie­be, der er al­les un­ter­ord­net und der er ge­schickt ei­nen me­ta­phy­si­schen (oder auch mo­ra­li­schen) Über­bau ver­passt. Aber wor­in un­ter­schei­det er sich dann von de­nen, die er so hef­tig kri­ti­siert?

Die Ein­gän­gig­keit der be­kann­ten Ca­mus-Ro­ma­ne (Der Frem­de, Die Pest) oder die be­tö­ren­de Schön­heit der Al­ge­ri­en-Er­zäh­lun­gen liegt hier nicht vor; im Ge­gen­teil: Cla­man­ces Mo­no­lo­ge sind for­dern­de Lek­tü­re, mit Vol­ten und Wi­der­ha­ken. Ste­tig fragt man sich wie­viel von der Fi­gur Iro­nie oder, bis­wei­len, pu­rer Zy­nis­mus ist, was In­sze­nie­rung und was wirk­lich ernst ge­meint ist. Die Span­nung ent­steht da­durch, dass er im­mer wie­der auf sei­ne zahl­rei­chen Wand­lun­gen (oder sind es Ver­wand­lun­gen?) mit­tels Cliff­han­ger auf den näch­sten Tag hin­weist, ei­ne end­gül­ti­ge Klä­rung je­doch nie statt­fin­det. Der Le­ser soll­te bei der Lek­tü­re der ein­zel­nen Ka­pi­tel eben­falls Ab­stän­de set­zen.

Über­ein­stim­mend liest man, dass die neue Über­set­zung von Gre­te Oster­wald nä­her am Ori­gi­nal von Ca­mus lie­gen wür­de. Iris Ra­dischs Nach­wort ist in­struk­tiv und lädt zu Re­cher­chen und Über­le­gun­gen ein. Ver­blüf­fend ist dann al­ler­dings der letz­te Satz: »Das Nach­wort wur­de für die­se Aus­ga­be ge­kürzt«, steht da. Und man fragt sich: War­um?

An­mer­kung: Frau Ra­disch kom­men­tier­te die Kür­zung ih­res Nach­wor­tes auf Face­book wie folgt: »Mein Nach­wort war in der 1. Auf­la­ge um ein Drit­tel län­ger. Die Kür­zun­gen hat die Toch­ter von Al­bert Ca­mus ver­langt.«