Der Wald und die Bäu­me (II)

Strö­me von Schei­ße

Ein Bei­spiel für die um sich grei­fen­de Ver­blö­dung durch Such­ma­schi­nen sind die Pä­do­­phi­lie-Vor­wür­fe, die ge­gen Da­ni­el Cohn-Ben­dit um 2012/13 mas­siv er­ho­ben wur­den. Mas­siv, das heißt im di­gi­ta­len Zeit­al­ter: durch das In­ter­net in Win­des­ei­le un­kon­trol­lier­bar ver­viel­facht, ver­mil­lio­nen­facht. Man mag zu der hi­sto­ri­schen Fi­gur Cohn-Ben­dit ste­hen, wie man will; be­strei­ten wird man nicht kön­nen, daß er ein klu­ger Kopf mit ei­ner hoch­interessanten Le­bens­ge­schich­te ist, der durch sei­ne öf­fent­li­chen, oft un­kon­ven­tio­nel­len Stel­lung­nah­men zum Den­ken an­regt. Das Den­ken ist als ge­sell­schaft­li­ches Phä­no­men frei­lich ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­ten, wäh­rend der heu­te ver­brei­te­te Po­li­ti­ker­ty­pus rhe­to­ri­sche Flos­keln ab­son­dert, die nichts zu den­ken ge­ben, son­dern Rei­ze be­die­nen. Noch im Jahr 2014, als Cohn-Ben­dit ei­ner öster­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tung in­ter­viewt wur­de, äu­ßert sich die »Com­mu­ni­ty« der »Po­ster« zum al­ler­größ­ten Teil nach dem Reiz-Re­ak­ti­ons­sche­ma, das durch Goog­le vor­ge­ge­ben ist: Cohn-Ben­dit ist am mei­sten – am mas­siv­sten – mit dem Be­griff Kin­der­schän­der (vul­go »Pä­do­phi­ler«) ver­knüpft, und nach sol­chen Ver­knüp­fun­gen funk­tio­nie­ren mitt­ler­wei­le die Ge­hir­ne. Im er­wähn­ten In­ter­view blickt der sieb­zig­jäh­ri­ge Cohn-Ben­dit auf sein Le­ben, das Le­ben sei­ner Fa­mi­lie und die Ent­wick­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te zu­rück. Die Kom­men­ta­re der mei­sten »Nut­zer« (vul­go »User«) zei­gen ein völ­li­ges Des­in­ter­es­se an die­sen In­hal­ten; ver­mut­lich wer­den län­ge­re Ar­ti­kel der In­ter­net­aus­ga­be der Zei­tung nur über­flo­gen oder auf Reiz­wörter ab­ge­ta­stet, viel­leicht mit­hil­fe ei­ner Such­ma­schi­ne. Die Wir­kung der allgegen­wärtigen Such­ma­schi­nen geht da­hin, daß de­ren Nut­zer sich kei­ner­lei Sor­gen um den Wahr­heits­ge­halt von Da­ten, die Be­rech­ti­gung von Vor­wür­fen, die Trif­tig­keit von Ur­tei­len mehr ma­chen. Was auf die­se Wei­se ver­lo­ren­geht, ist der Sinn für die An­nä­he­rung an Wahr­heit, für die Kom­ple­xi­tät von Er­kennt­nis­pro­zes­sen, ist die ge­bo­te­ne Vor­sicht beim Ur­tei­len. Un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen ist es kein Wun­der, daß im In­ter­net, und das heißt: in den Köp­fen der Men­schen, Pa­ra­noia und Verschwörungs­theorien so stark wu­chern wie noch nie. Die­sen ex­trem ver­kür­zen­den Er­klä­rungs­mo­del­len (die den Na­men »Er­klä­rung« nicht mehr ver­die­nen) ent­spricht als Em­pö­rungs­re­ak­ti­on das, was seit ei­ni­gen Jah­ren als shits­torm be­zeich­net wird. Dort, wo man frü­her »Kri­tik« ge­übt hät­te, gießt man Jau­che über die Ge­gen­stän­de der Ab­nei­gung. Es liegt auf der Hand, daß sol­che Ver­hältnisse das Hoch­kom­men von au­to­ri­tä­ren Po­li­ti­kern so­wie von Po­pu­li­sten jeg­li­cher Cou­leur be­gün­stigt; Per­so­nen, die ab­wä­gen, Ge­dan­ken­gän­ge er­läu­tern, Auf­fas­sun­gen von Geg­nern mit­be­den­ken und ei­ge­ne Irr­tü­mer ein­ge­ste­hen, ha­ben da­ge­gen we­nig Chan­cen. Auf deutsch klingt der Be­fund im­mer noch deut­li­cher als im Glo­ba­li­sie­rungs­eng­lisch: an der Stel­le von Dis­kur­sen und Dia­lo­gen fließt ver­ba­le Schei­ße. Es wä­re ge­nau­er, von »Strö­men« zu re­den, nicht von luf­ti­gen Stür­men. Scheiß­flüs­se ha­ben die Ten­denz, sich in Main­streams zu ver­wan­deln. Auch dies ein Me­cha­nis­mus des In­ter­nets, sei­ner Such‑, Ver­knüp­fungs- und As­so­zi­ie­rungs­ma­schi­nen.

Die em­pör­ten Kin­der­schüt­zer, die gar nicht mer­ken, daß sie in ei­ner Welt le­ben, in der Kin­der tag­täg­lich und mil­lio­nen­fach vom Kon­sum­ka­pi­ta­lis­mus miß­braucht wer­den, »be­zie­hen« sich im Fall der Reiz­per­son Cohn-Ben­dit auf Sät­ze, die er 1975 in ei­nem Buch ver­öf­fent­lich­te, von dem er sich vier­zig Jah­re da­nach di­stan­ziert. Es spricht nichts für die An­nah­me, Cohn-Ben­dit sei ein Pä­do­phi­ler, al­so ein Men­schen mit ei­ner sehr spe­zi­fi­schen, zum Glück sel­te­nen se­xu­el­len Aus­rich­tung. Doch selbst wenn ir­gend et­was von den Vor­würfen zu­trifft: Die Em­pör­ten ver­ges­sen mit der größ­ten Selbst­ver­ständ­lich­keit den ge­waltigen Zeit­ab­stand, der zwi­schen den (ver­mut­lich nur ima­gi­nier­ten) Fak­ten und der Ge­gen­wart liegt. Im In­ter­net ist al­les eins. Der an­ony­me di­gi­ta­le Da­ten­spei­cher hat kein Ge­schichts­be­wußt­sein, und er för­dert es bei sei­nen Nut­zern nicht, im Ge­gen­teil, er ent­la­stet da­von und zer­stört es lang­fri­stig. Wann Cohn-Ben­dit »es« ge­tan hat, falls er et­was ge­tan hat, spielt kei­ne Rol­le – Haupt­sa­che, ich kann mich em­pö­ren. In der Welt for­dert ein »User« U‑Haft für Cohn-Ben­dit. Hier und heu­te! In Echt­zeit! So­fort!

© Leo­pold Fe­der­mair

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3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ei­ne Hym­ne an die rei­ni­gen­de Kraft des Ana­len. Das The­ma ist schon biss­chen äl­ter. Die Such­ma­schi­nen-Ver­knüp­fung »Bet­ti­na Wulf Ho­stess« ge­hört eben­falls in das Su­jet. Dass sich die Vor­gän­ge mit dem Be­griff »Den­ken« deckeln las­sen, ist ge­wagt. War­um Cohn-Ben­dit ret­ten und die Wulfs ab­ser­vie­ren?! Hat Cohn-Ben­dit mehr für das Den­ken ge­tan?!
    Ki­cher. Das müss­te man sich mal ge­nau­er an­schau­en.
    Den­noch: die Strö­me sol­len hoch­le­ben! Drei­mal hoch!
    Und: es le­ben De­leu­ze und Guat­ta­ri, Gott hab’ sie se­lig. Schluchz.

  2. Ich nei­ge da­zu den Such­ma­schi­nen, den di­gi­ta­len Bo­ten, kei­ne Schuld zu ge­ben. Sie ori­en­tie­ren sich an den Ge­rüch­ten ih­rer Kun­den. War­um sie be­stra­fen und die hy­per­mo­ra­li­sie­ren­den Ge­rüch­te­koch nicht?

    Die »Strö­me von Schei­ße« lie­gen in den Zei­ten des In­ter­net frei. Es ist ei­ne Ka­na­li­sa­ti­on, die nicht län­ger ver­bor­gen ist in Roh­ren und be­to­niert un­ter der Er­de liegt. Es ist ein Fluss­bett und al­le müs­sen dar­an vor­bei, wenn sie zum Bei­spiel Bröt­chen ho­len ge­hen. Hier schafft das In­ter­net sei­ne größt­mög­li­che Trans­pa­renz: Wo man vor­her nur ahn­te, was un­ter der Er­de so bro­del­te, da liegt es jetzt of­fen.

  3. Sie be­die­nen Rei­ze? Sie stel­len doch eher Rei­ze dar und be­die­nen Vor­ur­tei­le, ru­fen Af­fek­te ab, usw. — Das »Reiz-Re­ak­ti­ons­sche­ma« be­deu­tet nicht un­be­dingt ei­ne ein­fa­che Kau­sal­be­zie­hung, ge­ra­de bei Men­schen (man muss sich nur ein­mal ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass der emo­tio­na­le und phy­sio­lo­gi­sche Zu­stand bei je­dem [Le­ser] an­ders ist, von an­de­rem ein­mal ab­ge­se­hen).

    Das be­schrie­be­ne Phä­no­men ist wahr­schein­lich nur ein Teil­aspekt und könn­te mit »big da­ta« zu­sam­men­hän­gen, wie in die­sem In­ter­view ar­gu­men­tiert wird. Das Haupt­pro­blem ist, dass Kor­re­la­tio­nen nicht für das ge­hal­ten wer­den, was sie sind, son­dern für Kau­sa­li­tät oder Ge­set­ze. — Je­de Ein- und Aus­ga­be in ei­ner Such­ma­schi­ne ist zu­nächst nichts an­de­res als das Auf­tre­ten von Wör­tern in ei­nem wie auch im­mer de­fi­nier­ten Kon­text (über den Sinn­zu­sam­men­hang wur­de da noch kei­ne Aus­sa­ge ge­macht).

    Gibt es ei­gent­lich für die­se Be­haup­tung ei­nen Be­leg?: »Un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen ist es kein Wun­der, daß im In­ter­net, und das heißt: in den Köp­fen der Men­schen, Pa­ra­noia und Verschwörungs­theorien so stark wu­chern wie noch nie.« Es könn­te sich näm­lich auch nur um ei­ne ört­li­che (und ge­wis­sem Sinn auch zeit­li­che) Kor­re­la­ti­on han­deln (dem Of­fen­lie­gen der Ka­na­li­sa­ti­on).