»…schöpfe Kraft aus seinem Leiden, und lass das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.«
(Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werther«)
William T. Vollmann. Europe CentralUnd wieder so ein Versuch. »Europe Central« prangt auf dem Cover – in Fraktur, Druckschrift und kyrillisch. Zu einem deutschen Titel hat es nach all der Arbeit scheinbar nicht mehr gereicht. Robin Detje, der (Chef-)Übersetzer, erwähnt in einer kleinen Notiz man habe den Originaltitel behalten wollen (er sagt nicht warum) und spricht von »Schaltzentrale Europa«, wie das Buch in Deutsch hätte heißen können. Aber »Schaltzentrale Europa« kommt nach dem ersten Kapitel, welches mit Seite 22 endet, erst wieder auf Seite 611 vor (oder ich habe es vorher überlesen?) und steht wohl für das Scharnier zwischen West- (Berlin) und Osteuropa (Moskau) von 1917 bis zum Ende des Romans 1975 – und damit wohl für Berlin (obwohl es einmal, auf Seite 757, auch als Metapher für Dresden verwandt wird). »Europe Central« wäre demnach – nebenbei – auch noch so etwas wie der große, neue, wieauchimmer Berlin-Roman des 21. Jahrhunderts (mindestens; wenn nicht des Jahrtausends). Wobei der Begriff »Schaltzentrale« mit der (gescheiterten) literarischen Metapher Vollmanns verknüpft ist, dem Buch als Telefonabhörtext einen besonders originellen Überbau zu verschaffen.
Der weihevolle Ton und die 785 Fuß- bzw. Endnoten
Wie immer, wenn es sich um ein literarisches Erzeugnis um den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs handelt, in dem mehr oder weniger geschickt in einem postmodernen Varieté-Theater fiktive Figuren mit historischen interagieren, überschlägt sich die deutsche Literaturkritik mit Lob. »Überwältigend«, »literarisches Highlight des Jahres« und natürlich auch wieder die obligatorische Zuschreibung »Meisterwerk« – so lauten die Hymnen auf diesen Roman und ich frage mich unwillkürlich, wie viele dieser Preissänger wohl das Buch (inklusive der Anmerkungen; hierzu s. u.) überhaupt zur Gänze gelesen haben, aber dafür gibt es schließlich die vom Lektoratsvolontariat verfertigten Waschzettel und Pressetexte.
Mathias Énard: Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten
Immer noch wirkt Mathias Énards fabelhaftes historisches Mittelmeer-Epos »Zone« nach. Zum Beispiel wenn ich eine Karte des Mittelmeeres sehe oder Berichte über diese Region höre. Die Ereignisse des Jahres 2011 in den arabischen Ländern würden neuen Stoff für Bellizist, Geheimagent und Faschist Francis Servain Mirković liefern, der auf sechs Stunden Zugfahrt von Mailand nach Rom die Geschichte des Mittelmeers mit ihren politischen Ver- und Entwicklungen, Kriegen und falschen Helden auffächert. Und so hört diese Polyphonie des Grauens niemals auf, sondern erhält ständig neue Nahrung. Unmöglich, dieses erzählerische Verfahren (angelehnt an Homers Illias) beizubehalten. Énard hat das erst gar nicht versucht (solche Form des Selbstplagiats wäre auch des Guten zuviel), sondern legt mit »Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten« ein gänzlich anderes Buch vor; fast nur ein Büchlein mit seinen 170 großzügig gefüllten Seiten. Aber bei aller Differenz – es gibt durchaus ein gut verborgenes Band zum in Duktus und Form so gänzlich anderen Buch.
Ein Buch mit einem geradezu kathedralen Überbau: »Reading-Room« der FAZ (ein hässlicher Anglizismus – dennoch: hörenswert das Lesen von Christian Berkel), Marginalienband mit Interviews, Graphiken und textinterpretatorischem Rüstzeug, eigene Webseite (noch ausführlichere Dokumente als im Marginalienband), und fast jedes Feuilleton äussert sich. Und wenn man das Buch mit seinen fast 1.400 Seiten vor sich liegen hat und in den Händen wiegt, dann fragt man sich, ob die Erwartungen ob dieses Monumentalismus überhaupt eingelöst werden können. Oder ob da nicht ein Autor Opfer seiner eigenen Hybris wird.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
»Die Wohlgesinnten« sind die fiktiven Memoiren von Dr. Maximillian Aue, Jahrgang 1913, deutsch-französischer Herkunft, promovierter Jurist und am Ende, 1945, SS-Obersturmbannführer. Aue ist Ich-Erzähler, was als »neu« in Bezug auf die »Täterperspektive« hingestellt wird. Das stimmt in dieser Absolutheit natürlich nicht und wird nicht besser, in dem man es dauernd wiederholt. Jeder zweite Krimi schiebt heutzutage den Täter und dessen Motivation in den Vordergrund – meist als Brechung zum Alltag des Kommissars. Hinsichtlich der Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die »Sprache der Täter« zu erfinden. Es gibt sie längst – sowohl im Original, als auch in zahlreichen Fiktionen, die längst in die Weltliteratur und ‑dramatik eingeflossen sind.