Spre­chen Sie die mal an

Bei ei­ner Li­te­ra­tur-Ver­an­stal­tung in ei­ner Buch­hand­lung im Frie­de­nau­er Dich­ter­vier­tel sprach die Re­fe­ren­tin – ei­ne be­rühm­te Pro­fes­so­rin üb­ri­gens – so rhe­to­risch bril­lant wie un­ter­halt­sam über Tho­mas Mann und sei­ne Fa­mi­lie und er­wähn­te da­bei ei­nen Zi­geu­ner auf dem gel­ben Wa­gen. Das Pu­bli­kum be­stand ganz über­wie­gend aus jun­gen und we­ni­ger jun­gen Se­nio­rin­nen und Se­nio­ren be­sten, alt­ein­ge­ses­se­nen West­ber­li­ner Bildungsbürger­tums, so­wie Stu­die­ren­den der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaf­ten, und et­li­che schie­nen ein­an­der zu ken­nen. Man war ein­ge­la­den und auf­ge­for­dert, nach dem Vor­trag zu dis­ku­tie­ren und Fra­gen zu stel­len. Ich frag­te nach dem »Zi­geu­ner«, er­fuhr, dass es sich um ein Zi­tat von Tho­mas Mann hand­le und er­wi­der­te, dass es schön ge­we­sen wä­re, wenn sie das Zi­tat kennt­lich ge­macht hät­te, weil der Be­griff »Zi­geu­ner« pro­ble­ma­tisch sei, wor­auf die Pro­fes­so­rin sich so­fort der näch­sten Wort­mel­dung zu­wand­te, die ein an­de­res The­ma be­traf.

Hin­ter­her schenk­te der Buch­händ­ler Wein aus, und ei­ne je­ner bil­dungs­bür­ger­li­chen jun­gen Se­nio­rin­nen pro­ste­te mir zu mit den Wor­ten, sie sei froh, dass ich das Zi­geu­ner-Zi­tat an­ge­spro­chen hät­te, denn das Zi­tat sei falsch. In Wahr­heit sei der Wa­gen grün und nicht gelb! Das kön­ne man nach­le­sen, sie wis­se es be­stimmt. Wir nipp­ten am Wein, sie trank wei­ßen, ich ro­ten. Auch dies sei si­cher ein in­ter­es­san­ter Aspekt, gab ich zu, je­doch sei es mir um et­was an­de­res ge­gan­gen, näm­lich um den Be­griff »Zi­geu­ner«, der … und wur­de un­ter­bro­chen da­mit, dass der Wa­gen aber wirk­lich grün …

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Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (II)

hier steht Teil I

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Mehr­fach hat Nietz­sche sei­ne ei­ge­ne Ent­wick­lung rück­blickend zu­sam­men­ge­faßt und ei­ne Zu­kunft für sei­ne Per­son oder ei­nes sei­ner Al­ter Egos skiz­ziert. Oft han­delt es sich da­bei um ei­nen Drei­schritt, wo­bei der drit­te Schritt im­mer erst zu set­zen bleibt. So zum Bei­spiel in Za­ra­thu­stras Re­de von den drei Ver­wand­lun­gen, die fik­tio­na­len und al­le­go­ri­schen Charak­ter hat, aber ein­deu­tig Par­al­le­len zu Nietz­sches gei­sti­ger Bio­gra­phie er­ken­nen läßt. Da ist zu­nächst der Wahr­heits­su­cher, der sei­nen Er­kennt­nis­durst stillt, da­bei aber see­lisch Scha­den lei­det und sich nur sol­che Freun­de macht, die ihn nicht ver­ste­hen kön­nen. Da­nach ver­wan­delt sich der Den­ker zu ei­nem Wol­len­den, der sich »tau­send­jäh­ri­ge Wert­he« an­eignet und un­ter ih­ren Im­pe­ra­ti­ven lei­det, weil die über­lie­fer­ten Sy­ste­me ihm kei­ne schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit er­lau­ben. Auf ei­ner drit­ten Stu­fe fin­det die Fi­gur »zum Spie­le des Schaf­fens« und wird zum un­schul­di­gen Kind, das al­les neu be­ginnt, als gä­be es noch gar nichts, nur ei­ne ta­bu­la ra­sa. (Za 29–31) Das­sel­be Ide­al hat­te Nietz­sche schon in der Fröh­li­chen Wis­sen­schaft for­mu­liert; die Za­ra­thu­stra-Re­de legt den Ak­zent auf Schöp­fung und Spiel, wo­durch die kom­men­de (oder wer­den­de) Ge­stalt ei­ner­seits als gött­li­cher Wel­ten­schöp­fer er­scheint, als de­us fa­ber und crea­tor ex ni­hi­lo, an­de­rer­seits als Künst­ler, der sich je­ne Fik­tio­nen er­zeugt, de­ren er be­darf. Der kind­li­che Künst­ler-Gott um­gibt sich mit sei­nen Ge­spin­sten: Frag­lich, ob er auf die­se Wei­se die Ein­sam­keit des Ka­mels, der er­sten Stu­fe des gei­sti­gen Wer­dens, zu lö­sen ver­mag. Im Be­reich der Phan­ta­sie mag dies ge­lin­gen, et­wa so, wie Ge­net – oder An­dré Rey­baz in Un chant d’amour – sie in der Ge­fäng­nis­zel­le lö­ste. Das rhe­to­ri­sche Häm­mern von Nietz­sches Spät­werk und sein wach­sen­der Hang zur Pa­ra­noia las­sen sich viel­leicht da­durch er­klä­ren, daß die drit­te Stu­fe, der er­sehn­te Neu­be­ginn, nicht Wirk­lich­keit wer­den konn­te, son­dern Fik­ti­on blieb in Schrif­ten, die nie­mand le­sen woll­te. Ei­gent­lich hät­te Nietz­sche künst­le­ri­sche Wer­ke – Mu­sik­stücke, Tän­ze – schaf­fen sol­len, oder apol­li­ni­sche, traum­haf­te Fil­me, die dio­ny­si­sche Ge­stal­ten her­bei­zau­bern. Licht­ge­stal­ten für Licht­spie­le... Es blieb bei phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, die mit der Poe­sie lieb­äu­gel­ten.

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Wol­lust des Un­ter­gangs – 100 Jah­re Tho­mas Manns »Der Tod in Ve­ne­dig« (Hg. v. Hol­ger Pils und Ker­stin Klein)

Wollust des Untergangs - 100 Jahre Thomas Manns "Der Tod in Venedig"
Wol­lust des Un­ter­gangs – 100 Jah­re Tho­mas Manns »Der Tod in Ve­ne­dig«

1912, vor ein­hun­dert Jah­ren, er­schien Tho­mas Manns No­vel­le »Tod in Ve­ne­dig«. An­lass für ei­ne Sonderaus­stellung des Hein­rich-und-Tho­mas-Mann-Zen­trums (bis 28.5. im Bud­den­brook­haus in Lü­beck; ab Herbst dann in Mün­chen) mit dem et­was knal­li­gen Ti­tel »Wol­lust des Un­ter­gangs«. Wer die Aus­stel­lung nicht be­su­chen kann, soll­te sich den opu­len­ten, gleich­na­mi­gen Band des Wall­stein-Ver­lags zu­le­gen, der nicht nur als Ka­ta­log zur Aus­stel­lung fun­giert son­dern auch wie ein sol­cher duf­tet. Ne­ben sechs Auf­sät­zen, die, wie die In­itia­to­ren Ker­stin Klein und Hol­ger Pils her­vor­he­ben, »ei­gens für die­sen Band ver­fasst« wur­den, gibt es vier Es­says von Schrift­stel­ler­kol­le­gen (Wolf­gang Koep­pen, Ma­rio Var­gas Llosa, Da­ni­el Kehl­mann und Her­bert Ro­sen­dor­fer), wo­von nur Ro­sen­dor­fers kur­zer Bei­trag neu ist. Da­nach wer­den auf über 60 Sei­ten (»Ga­le­rie«) in präch­ti­ger Qua­li­tät di­ver­se Zeich­nun­gen, Aqua­rel­le, Col­la­gen und Bil­der von 21 Künst­lern ge­zeigt in de­nen der Au­tor, Ve­ne­dig und Sze­nen aus der No­vel­le the­ma­ti­siert wer­den.

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