Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Heinz Strunk: Zau­ber­berg 2

Heinz Strunk: Zauberberg 2
Heinz Strunk:
Zau­ber­berg 2

Je­de Zeit kre­iert ih­re Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne, die ent­we­der zu Klas­si­kern wer­den, in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten oder ir­gend­wann mit Em­pha­se vom Klas­si­ker­thron ge­sto­ßen wer­den. Und wenn die zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur wie­der ein­mal droht, in ei­ne Gleich­för­mig­keit zu ver­sin­ken, blü­hen die Re­vi­vals, Va­ria­tio­nen von alt­be­kann­ten, einst be­reits als un­zeit­ge­mäß de­nun­zier­te Ro­ma­ne und de­ren Mo­ti­ve, trans­for­miert in die Ge­gen­wart. Ei­ner der Ro­ma­ne der Zeit scheint Der Zau­ber­berg von Tho­mas Mann zu sein, fast ge­nau vor ein­hun­dert Jah­ren er­schie­nen. Der Pu­bli­zist Jens Nord­alm er­klär­te kürz­lich in ei­nem ful­mi­nan­ten Text, war­um man ge­ra­de heu­te den Zau­ber­berg le­sen muss. In­mit­ten all der Auf­ge­regt­hei­ten ent­decken Li­te­ra­ten plötz­lich den Es­ka­pis­mus als letz­ten Aus­weg. Es ist der Wunsch nach Ab­ge­schie­den­heit von der zu­neh­mend als kom­pli­ziert wahr­ge­nom­me­nen, über­for­dern­den Welt mit der Mög­lich­keit der Über­win­dung von Le­bens- und/oder Lie­bes­kri­sen. Ol­ga Tok­ar­c­zuk ver­la­ger­te 2023 ihr Zau­ber­berg-Set­ting nach Nie­der­schle­si­en, Ti­mon Karl Ka­ley­ta schick­te sei­nen letz­ten Ro­man­hel­den in ein Sa­na­to­ri­um, Mo­ni­ka Zei­ner ließ in Hans-Cas­torp-Ma­nier das schwar­ze Schaf ei­ner In­du­stri­el­len­fa­mi­lie am Ort sei­ner Kind­heit sei­ne Ju­gend­er­in­ne­run­gen auf­fri­schen und Nor­man Oh­ler ver­fass­te ei­nen Kli­ma­wan­del-Ro­man mit Zau­ber­berg-Ele­men­ten (da­mit je­der dar­auf kommt, ist er im Ti­tel schon er­wähnt).

Und jetzt auch noch Heinz Strunk, der vor ei­ni­gen Jah­ren be­reits aus Tho­mas Manns Tod in Ve­ne­dig ei­nen Som­mer in Nien­dorf hä­kel­te. Sein neue­stes Buch heißt Zau­ber­berg 2. Der Held heißt Jo­nas Heid­brink, ist 1986 ge­bo­ren. Er fährt mit 36 Jah­ren und rund 180 kg Ge­päck in ei­ne bis zum Schluss na­men­los blei­ben­de Kli­nik, 4 Stun­den 52 Mi­nu­ten Fahr­zeit ent­fernt in der Nä­he ei­nes Sumpf­ge­biets in Meck­len­burg-Vor­pom­mern (wo­mög­lich in der Nä­he von Bo­tho Strauß’ Wohn­sitz – Strunk ist Strauß-Afi­ci­o­na­do). Heid­brinks Kon­trakt läuft auf drei­ßig Ta­ge, der Auf­ent­halt ist mit 823 Eu­ro am Tag nicht ge­ra­de bil­lig, aber er kann es sich lei­sten, weil sein Start-up wur­de vor ei­ni­ger Zeit auf­ge­kauft wur­de. Zwar be­deu­tet dies nach La­ge der Din­ge, das er aus­ge­sorgt hat, aber die de­pres­si­ven Zu­stän­de, be­reits vor der Start-up-Grün­dung vor­han­den, wäh­rend der Zeit in die­ser Fir­ma je­doch ruh­ten, tra­ten jetzt wie­der her­vor: Schlaf­lo­sig­keit, Lust­lo­sig­keit ge­paart mit Angst- und Pa­nik­zu­stän­den.

Das 25 m²-Zim­mer ist zu­nächst ein biss­chen kalt, an­son­sten obe­rer Stan­dard. Die Mahl­zei­ten (»Deut­sches Soul­food«) wer­den in ei­nem Spei­se­saal ein­ge­nom­men, der Tisch, an dem man sitzt, wird zu­ge­teilt. Es gibt Auf­nah­me­un­ter­su­chun­gen – zu­nächst die psy­cho­lo­gi­sche, dann die me­di­zi­ni­sche. Zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung wer­den ein Nie­ren­tu­mor und ein Me­la­nom fest­ge­stellt. Letz­te­res wird noch am glei­chen Tag der Ent­deckung ent­fernt. Am En­de wird für bei­de Fäl­le Ent­war­nung ge­ge­ben.

Heid­brink fin­det schwer Kon­takt, was auch dar­an liegt, dass er meist al­lei­ne an sei­nem Sech­ser­tisch sitzt und die Mahl­zei­ten ser­viert be­kommt. Der Tag ist mit den Mahl­zei­ten, Un­ter­su­chun­gen und The­ra­pie- und Grup­pen­ter­mi­nen gut struk­tu­riert. Ab und an gibt es ei­nen »Kul­tur­abend«. Ei­ne Spie­le­run­de der »Pa­ti­en­ten« (die be­vor­zug­te Be­zeich­nung der Be­woh­ner) gibt es auch, aber Heid­brink kann kein Dop­pel­kopf spie­len.

Der Ro­man plät­schert. Im­mer­hin: In der Be­schrei­bung der Heid­brink be­geg­nen­den Ärz­te, Kli­nik­an­ge­stell­ten und Pa­ti­en­ten läuft Heinz Strunk zu gro­ßer Form auf. Mal ist je­mand »so ma­ger, dass sie wie ihr ei­ge­nes Rönt­gen­fo­to aus­sieht«, oder, ei­ne an­de­re Teil­neh­me­rin, fällt durch ih­re »spar­gel­i­ge, fried­lich-freund­lich-ve­gan/­ve­ga­ta­ri­sche« Er­schei­nung auf. Uwe aus Dor­ma­gen ist dick und »trief­äu­gig«, sein Kör­per hat »Ähn­lich­keit mit ei­ner Kir­chen­glocke«, Si­mons Stirn »ist von ei­nem Spi­ral­ne­bel ent­zünd­li­cher Pu­steln über­sät«. Weib­li­che Wan­gen ha­ben die Durch­sich­tig­keit in »Su­shi-Qua­li­tät«, ein an­de­res Ge­sicht sieht aus wie ein »Trocken­pilz«, ein »lie­gen­des Fünf­eck« oder es »glänzt wie ei­ne kal­te Brat­kar­tof­fel«. Do­reen hat Trä­nen­säcke »wie ge­schmol­ze­nes Ker­zen­wachs«. Gro­ße Phan­ta­sie braucht man bei der Vor­stel­lung ei­nes Kör­per­ge­ruchs, »als hät­te man Blei­stift­spä­ne de­stil­liert«.

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Mo­ni­ka Zei­ner: Vil­la Stern­bald oder
Die Un­schär­fe der Jah­re

Früh­jahr 2014, leich­ter Schnee­fall. Der 42jährige freie Dreh­buch­au­tor Ni­ko­las Fin­ck reist mit dem Zug von Ber­lin über Nürn­berg in den fik­ti­ven frän­ki­schen Ort Gründ­lach. Über dem An­we­sen der Schrift­zug »STERNBALD«, der Ort sei­ner Kind­heit, in­zwi­schen et­was her­un­ter­ge­kom­men, ver­mut­lich dem Un­der­state­ment der El­tern ge­schul­det. An­lass des Be­su­ches ist der 103. Ge­burts­tag des Groß­va­ters Hein­rich Chri­sti­an Theo­bald, ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑5/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Thomas Stangl in Wien, Altottakring, Café Ritter © Leopold Federmair
Tho­mas Stangl in Wien, Al­tot­ta­kring, Ca­fé Rit­ter © Leo­pold Fe­der­mair

Der Va­ter Do­ra Bru­ders, auch er in Ausch­witz er­mor­det, ist 1899 in Wien ge­bo­ren. Mo­dia­no si­chert auch sei­ne Spu­ren, we­ni­ge, viel war nicht her­aus­zu­brin­gen. Wahr­schein­lich hat­te er in der Leo­pold­stadt ge­lebt, dem Ju­den­vier­tel von Wien. So et­wa, durch­aus wirk­lich­keits­ge­recht, skiz­ziert Mo­dia­no den von der Do­nau, den Pra­ter­au­en und den Ge­lei­sen der Nord­bahn um­grenz­ten Be­zirk. Bei ei­nem Se­mi­nar mit dem Wie­ner Schrift­stel­ler Tho­mas Stangl ha­be ich des­sen Bü­cher, oder ei­ni­ge da­von, als »Do­nau­ro­ma­ne« be­zeich­net, der Aus­druck war mir beim Re­den ein­ge­fal­len. In Ih­re Mu­sik und in Was kommt ist ei­ne Woh­nung am Kar­me­li­ter­markt, der auch bei Mo­dia­no er­wähnt wird, der – ziem­lich stil­le – Mit­tel­punkt, das Kraft- und auch Schwä­che­zen­trum der Er­zäh­lun­gen. Ei­ne Ebe­ne der Hand­lung von Was kommt ist zeit­lich-hi­sto­risch ge­nau be­stimmt, 1937, die Prot­ago­ni­sten sind jun­ge Leu­te im Al­ter Do­ra Bru­ders, als sie im Win­ter 41/42 vom In­ter­nat oder von Zu­hau­se aus­reißt; ein jun­ges Lie­bes­paar bei Stangl, er Ju­de, sie nicht – ein Un­ter­schied, der an­fangs für sie gar kei­ne Rol­le spielt. Auch Stangls Er­zäh­lun­gen ent­fal­ten ei­ne Au­ra des Un­ge­sag­ten, doch ih­re Poe­tik ist der von Mo­dia­no fast trans­ver­sal ent­ge­gen­ge­setzt. Wäh­rend Mo­dia­no Raum läßt, die Sze­nen und Bil­der locker ne­ben­ein­an­der­setzt (wie Fri­do Lam­pe, der 1945 in Ber­lin er­schos­se­ne deut­sche Au­tor, den Mo­dia­no als »Freund, den ich nicht ken­nen­ler­nen durf­te«, in sein Buch auf­nimmt), schafft Stangl durch im­mer wei­ter ge­hen­de Dif­fe­ren­zie­rung der Aspek­te, Per­spek­ti­ven, Vor­stel­lun­gen und Ver­mu­tun­gen Er­zähl­ge­we­be oder –mo­sai­ke (oder bei­des: stoff­li­che Mi­ne­ral­struk­tu­ren, mi­ne­ra­li­sche Stoff­mu­ster) von äu­ßer­ster, schwer zu durch­drin­gen­der Dich­te, in wel­chen der Sinn, die Be­zie­hun­gen, die Iden­ti­tä­ten un­si­cher sind oder wer­den. Ein fran­zö­si­scher Au­tor, der ei­ne ähn­li­che Poe­tik ent­wickelt hat, ist Pierre Mi­chon: Ge­spen­ster, un­greif­ba­re Iden­ti­tä­ten, be­völ­kern sei­ne Bü­cher. Mo­dia­no steht, wenn man sich ei­ne wacke­li­ge Hän­ge­brücke vor­stel­len mag, am an­de­ren En­de, auf der an­de­ren Sei­te. In der Mit­te, über dem rei­ßen­den Fluß, das Ge­spenst. Die Au­toren nä­hern sich von ver­schie­de­nen Sei­ten, aber da ist ei­ne Ge­mein­sam­keit im Schöp­fe­ri­schen, das Nach­zeich­nen oder Er­zeu­gen, das nach­zeich­nen­de Er­zeu­gen und er­zeu­gen­de Nach­zeich­nen von un­si­che­ren Iden­ti­tä­ten. Si­chern oder ver­un­si­chern? Oder bei­des? Den Ab­sturz ris­kie­ren; ver­mei­den.

Brücke: als Me­ta­pher ab­ge­grif­fen, und doch. Das Ge­mein­sa­me, die Mit­te zwi­schen den En­den: Neu­gier für Men­schen, Sor­ge um sie; Ein­füh­lung und Zu­rück­hal­tung; Nä­he und Di­stanz. Die Brücken span­nen sich in uns selbst (im Au­tor, im Le­ser). Vor ei­ni­gen Jah­ren ist mir ein Be­griff zu­ge­flo­gen, Trans­ver­sa­li­tät, ich ha­be dar­aus den Roh­bau ei­ner trans­ver­sa­len Äs­the­tik ge­schaf­fen und hat­te da­bei das Auf­ein­an­der-Be­zie­hen von un­ter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Ele­men­ten im Au­ge, das sprach­li­che Hin und Her, auch Über­set­zen ge­nannt, zwi­schen Ufer und Ufer (ei­gent­lich ein Brücken­schla­gen und Her­über­ho­len, oder im Kahn trans­por­tie­ren), ein Kreu­zen von Spra­chen, über­ra­schen­de Be­geg­nung, viel­leicht nur ein An­strei­fen, flüch­ti­ges Be­rüh­ren von Wer­ken, Au­toren, von Or­ten auf dem Glo­bus, von Er­fah­run­gen und auch: von Zei­ten. Für die­se Hal­tung, die­sen Knäu­el von An­sät­zen und Aus­sich­ten ha­be ich den Be­griff usur­piert, ein un­voll­end­ba­res Bau­werk, wie ge­sagt, work in pro­gress: trans­ver­sa­le Äs­the­tik, im wei­te­ren Sinn, schrä­ge Wahr­neh­mungs­kun­de1. Da­bei hat­te ich zu­nächst Leu­te im Au­ge, Au­toren und Künst­ler, Fla­neu­re, Be­trach­ter, ak­tiv Wahr­neh­men­de, ob sie nun ein Werk schaf­fen oder nicht; Leu­te, die die Kul­tur­krei­se wech­seln, ver­bin­den, schnei­den, »hy­bri­di­sie­ren«, um ein Mo­de­wort zu ge­brau­chen, das lang­sam aus der Mo­de zu kom­men scheint. Die mei­sten Men­schen ma­chen heu­te sol­che Er­fah­run­gen, oft un­be­wußt oder pas­siv, je­der ist stän­dig Ein­flüs­sen, Rei­zen, Da­ten aus al­len Rich­tun­gen aus­ge­setzt und muß aus­wäh­len kreu­zen hy­bri­di­sie­ren, so­fern er die Aus­wahl, das Ar­ran­ge­ment etc. nicht ei­ner Ma­schi­ne (ei­nem »Al­go­rith­mus«) über­läßt, und das tun lei­der die mei­sten.

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  1. Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich 

No­tiz- statt Ta­ge­bü­cher

Vor ei­ni­gen Jah­ren ent­deck­te ich in mir ei­ne Sym­pa­thie, die Ta­ge­bü­cher von Tho­mas Mann zu le­sen. Frei­lich war ich ge­warnt ob der aus­gie­bi­gen Be­schrei­bun­gen zum Teil in­tim­ster De­tails, aber die so viel­fach ge­lob­te Edi­tie­rung ließ mich hof­fen, nicht nur in Idio­syn­kra­si­en und Hy­po­chon­dri­en des Au­tors zu ver­sin­ken. So be­such­te ich re­gel­mä­ssig die Bü­cher­märk­te in Düs­sel­dorf und tat­säch­lich fand ich ei­nes Ta­ges die Ta­ge­bü­cher in ei­ner Ta­schen­buch­aus­ga­be. Der Preis war sehr gün­stig (ir­gend et­was mit 60 Eu­ro), der Zu­stand der di­ver­sen Bän­de zu­frie­den­stel­lend bis gut. Das Vo­lu­men al­ler­dings – ab­schreckend (vom Ge­wicht nicht zu re­den, aber das war lös­bar). Was al­so tun? Der Nei­gung nach­ge­ben und prak­tisch ein Jahr nur mit Tho­mas Mann ver­brin­gen – von dem ich noch nicht ein­mal al­les ge­le­sen hat­te? Oder der manch­mal ret­ten­de »Mut zur Lücke«?

Ich be­schloss ei­ne Art Auf­nah­me­prü­fung vor­zu­neh­men. Ich schlug wahl­los in den Bän­den Stel­len auf und woll­te le­sen, was Mann dort ge­schrie­ben hat­te und wie dies auf mich wirk­te. Um mich nicht all­zu lan­ge dem skep­ti­schen Blick des An­ti­quars aus­zu­set­zen re­gle­men­tier­te ich mei­ne will­kür­li­che Aus­wahl auf sechs Stel­len. Al­so be­gann ich. Die er­ste Stel­le be­han­del­te aus­gie­big Manns schlech­ten Schlaf nebst Früh­stück und der Kon­si­stenz des Eis. Okay. Ein an­de­rer Band: Mann be­rich­te­te von sei­nem Stuhl­gang bzw. ei­nem (ge­glück­ten) Ein­lauf. Wei­ter zu ei­ner an­de­ren Stel­le: Aber­mals die Be­schrei­bung ei­ner Krank­heit (wel­che es war, ha­be ich ver­ges­sen). Das reich­te. Das (Vor-)Urteil hat­te sich be­stä­tigt: Ent­ge­gen der Be­teue­run­gen von Mann-Adep­ten wie Fritz J. Rad­datz: Für mich war das nichts. Der­ar­ti­ge In­ti­mi­tä­ten ei­nes Dich­ters in­ter­es­sie­ren mich nicht. Schan­de über mich. Aber die Bü­cher blie­ben dort, wo sie wa­ren.

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Blick ins No­bel-Ar­chiv

Die teil­wei­se hef­ti­gen Dis­kus­sio­nen um die jüng­ste Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­prei­ses an Bob Dy­lan zei­gen, dass der Preis im­mer noch ei­ne ge­wis­se Strahl­kraft hat. An­son­sten wür­den sich die Emo­tio­nen nicht der­art hoch­schau­keln. We­nig Be­ach­tung fin­det da­bei, dass die Schwe­dische Aka­de­mie je­des Jahr ein klei­nes biss­chen ihr Ar­chiv öff­net. Mit dem je nach Tem­pe­ra­ment wohl­tu­en­den oder ob­so­let-hin­hal­ten­den Ab­stand von 50 Jah­ren wer­den die No­mi­nie­run­gen zu den No­bel­prei­sen ver­öf­fent­licht. Das Fin­den auf der Web­sei­te ist et­was kom­pli­ziert. Hat man sich aber erst ein­mal ein­ge­groovt, wird man mit in­ter­es­san­ten Er­kennt­nis­sen be­lohnt.

Der­zeit gibt es Zu­griff auf die No­mi­nie­rungs­li­sten zu den No­bel­prei­sen von 1901 bis 1965. Die Su­che kann leicht so­wohl über den Na­men als auch über das Ver­ga­be­jahr durch­geführt wer­den. Ins­ge­samt wa­ren bis da­hin 3005 No­mi­nie­run­gen für den Literaturnobel­preis ein­ge­gan­gen. 1901 la­gen 37 No­mi­nie­run­gen vor, 1965 wa­ren es be­reits 90. (Die Zahl ist in­zwi­schen deut­lich hö­her.) Ein Blick auf die Li­sten zeigt, dass ne­ben Ein­zel­vor­schlä­gen auch Sam­mel­no­mi­nie­run­gen meh­re­rer Per­sön­lich­kei­ten für ei­nen Kan­di­da­ten gab, die al­ler­dings nur ein­mal ge­zählt wur­den. Stu­diert man die Li­sten ge­nau, so gab es kei­ne Ga­ran­tie für den »Un­ter­le­ge­nen« bei ei­ner der näch­sten Preis­ver­ga­ben be­rück­sich­tigt zu wer­den.

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Spre­chen Sie die mal an

Bei ei­ner Li­te­ra­tur-Ver­an­stal­tung in ei­ner Buch­hand­lung im Frie­de­nau­er Dich­ter­vier­tel sprach die Re­fe­ren­tin – ei­ne be­rühm­te Pro­fes­so­rin üb­ri­gens – so rhe­to­risch bril­lant wie un­ter­halt­sam über Tho­mas Mann und sei­ne Fa­mi­lie und er­wähn­te da­bei ei­nen Zi­geu­ner auf dem gel­ben Wa­gen. Das Pu­bli­kum be­stand ganz über­wie­gend aus jun­gen und we­ni­ger jun­gen Se­nio­rin­nen und Se­nio­ren be­sten, alt­ein­ge­ses­se­nen West­ber­li­ner Bildungsbürger­tums, so­wie Stu­die­ren­den der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaf­ten, und et­li­che schie­nen ein­an­der zu ken­nen. Man war ein­ge­la­den und auf­ge­for­dert, nach dem Vor­trag zu dis­ku­tie­ren und Fra­gen zu stel­len. Ich frag­te nach dem »Zi­geu­ner«, er­fuhr, dass es sich um ein Zi­tat von Tho­mas Mann hand­le und er­wi­der­te, dass es schön ge­we­sen wä­re, wenn sie das Zi­tat kennt­lich ge­macht hät­te, weil der Be­griff »Zi­geu­ner« pro­ble­ma­tisch sei, wor­auf die Pro­fes­so­rin sich so­fort der näch­sten Wort­mel­dung zu­wand­te, die ein an­de­res The­ma be­traf.

Hin­ter­her schenk­te der Buch­händ­ler Wein aus, und ei­ne je­ner bil­dungs­bür­ger­li­chen jun­gen Se­nio­rin­nen pro­ste­te mir zu mit den Wor­ten, sie sei froh, dass ich das Zi­geu­ner-Zi­tat an­ge­spro­chen hät­te, denn das Zi­tat sei falsch. In Wahr­heit sei der Wa­gen grün und nicht gelb! Das kön­ne man nach­le­sen, sie wis­se es be­stimmt. Wir nipp­ten am Wein, sie trank wei­ßen, ich ro­ten. Auch dies sei si­cher ein in­ter­es­san­ter Aspekt, gab ich zu, je­doch sei es mir um et­was an­de­res ge­gan­gen, näm­lich um den Be­griff »Zi­geu­ner«, der … und wur­de un­ter­bro­chen da­mit, dass der Wa­gen aber wirk­lich grün …

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