Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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Stef­fen Mau: Un­gleich ver­eint

Steffen Mau: Ungleich vereint
Stef­fen Mau:
Un­gleich ver­eint

Es ist ein gän­gi­ges Mu­ster: Kurz vor wich­ti­gen Wah­len wird »der Osten« po­li­tisch wie­der ent­deckt. Dies­mal sind es drei Land­tags­wah­len – Thü­rin­gen, Sach­sen und Bran­den­burg. Ent­wick­lun­gen, die sich über Jah­re an­ge­kün­digt ha­ben, wer­den plötz­lich von al­len Sei­ten im Ka­ta­stro­phen­mo­dus kom­men­tiert. Hin­zu kommt, dass mit der sek­ten­ar­ti­gen Neu­par­tei um Sahra Wa­gen­knecht ein zu­sätz­li­cher, nicht kal­ku­lier­ter Fak­tor auf­ge­taucht ist. Dach­te man an­fangs noch, dass hier­durch die AfD ge­schwächt wür­de, so muss man jetzt zur Kennt­nis neh­men, dass sich vor al­lem Nicht­wäh­ler und Lin­ke-An­hän­ger an­ge­spro­chen füh­len. In Thü­rin­gen sa­gen ak­tu­el­le Um­fra­gen vor­aus, dass AfD und BSW die Mehr­heit der Sit­ze im Land­tag er­rin­gen könn­ten.

Letz­te­res war bei Er­schei­nen von Stef­fen Maus Un­gleich ver­eint in die­ser Form noch nicht ab­seh­bar. Im Ge­gen­satz zu vie­len zum Teil hy­per­ven­ti­lie­ren­den Wort­mel­dun­gen und Wäh­ler­be­schimp­fun­gen ist es al­ler­dings zu­nächst ei­ne Wohl­tat, die­ses Buch zu le­sen, auch wenn man in ei­ni­gen Punk­ten nicht über­ein­stimmt. Mau möch­te »kü­chen­psy­cho­lo­gi­sche Er­klä­run­gen ver­mei­den« und stellt klar: »Wer in der Ost-West-De­bat­te mit Schuld­be­grif­fen ope­riert, ist schon auf dem Holz­weg.« Sei­ne The­se geht da­hin, dass es in Ost­deutsch­land un­ab­hän­gig lo­ka­ler Prä­gun­gen »ei­ne Ver­fe­sti­gung grund­le­gen­der kul­tu­rel­ler und so­zia­ler For­men« (Her­vor­he­bung Stef­fen Mau) gibt. Er spricht so­gar von ei­ner »Ein­heit­lich­keits­fik­ti­on«. Mau setzt be­wusst ei­ne »Ost-West-Bril­le« auf, um »kla­rer zu se­hen, wie Ge­schich­te in Struk­tu­ren und Iden­ti­tä­ten nach­wirkt.«

Mau weist auf die Krän­kun­gen zu Be­ginn der 1990er Jah­re hin, als »die Bun­des­re­pu­blik und ihr Spit­zen­per­so­nal die Rol­le der Kon­kurs­ver­wal­ter« über­nom­men hat­ten und die Ost­deut­schen zu »be­dürf­ti­gen Empfänger[n] von Hil­fe und Zu­wen­dung« mit »nur noch begrenzte[r] Ent­schei­dungs­macht« wur­den. Aus­gie­big wer­den die­se Brü­che und Ver­wer­fun­gen her­an­ge­zo­gen, die, so die The­se, in (Tei­len) der Be­völ­ke­rung heu­te noch nach­le­ben. Da­bei wird klar­ge­stellt, dass dies »we­der al­lein der DDR noch dem Ei­ni­gungs- und Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess zu­zu­schrei­ben« ist, son­dern sich »aus bei­den Pha­sen und der Ver­knüp­fung ih­rer Fol­gen« er­gibt. Es wer­den Zah­len prä­sen­tiert, die Rück­stän­de und Dif­fe­ren­zen zu West­deutsch­land auf­zei­gen, wie et­wa Ge­bur­ten­ra­te, Un­ter­neh­mens­struk­tu­ren (es gibt kaum Groß­un­ter­neh­men im Osten), Ta­rif­bin­dung, Or­ga­ni­sa­ti­ons­grad in po­li­ti­schen Par­tei­en, Ge­werk­schaf­ten oder Kir­chen oder auch An­teil mi­gran­ti­scher Be­völ­ke­rung. Ob die Tat­sa­che, dass sich un­ter­neh­me­ri­sche Selbst­stän­dig­keit in Ost­deutsch­land »auf den ge­werb­li­chen Be­reich recht klei­ner Be­triebs­ein­hei­ten« kon­zen­triert, ei­ne Schwä­che dar­stellt, müss­te man al­ler­dings erst ein­mal be­le­gen und sich gleich­zei­tig fra­gen, war­um die »Al­lein­un­ter­neh­mer« dort als »oft pre­kär« quan­ti­fi­ziert wer­den.

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Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

Jenny Erpenbeck: Kairos
Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

An­fang des Jah­res konn­te man in ei­nem bri­ti­schen Ar­ti­kel ei­ni­ges über die Ur­sa­chen des Be­deu­tungs­ver­lusts der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur le­sen. Ein Ar­gu­ment war, dass es kaum noch zeit­ge­nös­si­sche deutsch(sprachig)e Au­toren ge­be, die über­setzt wür­den (ge­meint war na­tür­lich die Über­set­zung ins Eng­li­sche). Nach­träg­lich stellt sich her­aus, dass min­de­stens ei­ne deut­sche Au­torin über­se­hen wur­de, die seit Jah­ren flei­ßig über­setzt wird. Der eng­li­sche Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weist 22 Spra­chen aus, was höchst be­acht­lich ist. Na­he­zu al­le Pro­sa von und ih­re vier Thea­ter­stücke sind zeit­nah ins Eng­li­sche über­setzt wor­den.

Die Au­torin heißt Jen­ny Er­pen­beck, wur­de 1967 in Ost-Ber­lin ge­bo­ren und ge­wann vor ei­ni­gen Wo­chen für ih­ren 2021 er­schie­ne­nen Ro­man Kai­ros den In­ter­na­tio­nal Boo­ker-Pri­ze. Es ist nicht so, dass Er­pen­beck in Deutsch­land un­be­kannt wä­re – die Rei­he ih­rer Prei­se und Aus­zeich­nun­gen ist an­sehn­lich, dar­un­ter der Tho­mas-Mann- und der In­ter­na­tio­na­le Ste­fan-Heym-Preis. 2015 stand Er­pen­beck auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Ehr­li­cher­wei­se muss man aber zu­ge­ben, dass das Feuil­le­ton bis­her nicht un­be­dingt sehn­süch­tig ih­re neu­en Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen er­war­tet hat. Die Aus­nah­me ist Vol­ker Wei­der­mann, der seit min­de­stens vier Jah­ren re­gel­mä­ßig er­klärt, dass Er­pen­beck bald den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hal­ten wird. An­son­sten sind die Re­zen­sio­nen zu­meist wohl­wol­lend bis freund­lich; Ver­ris­se gab es sel­ten. Die auf­merk­sam­keits­för­dern­den und all­seits an­ge­se­he­nen deut­schen Li­te­ra­tur­prei­se hat Er­pen­beck al­ler­dings noch nicht be­kom­men.

Gilt al­so aber­mals, dass die Pro­phe­tin nichts im ei­ge­nen Land gilt? Und ist es ein deut­sches Spe­zi­fi­kum, dass ei­ne Au­torin, die in­ter­na­tio­nal Er­fol­ge vor­wei­sen kann, nicht ge­fei­ert, son­dern mit selbst­ge­fäl­li­ger Ar­ro­ganz, in der auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Neid mit­schwin­gen dürf­te, be­dacht wird? So ver­fass­te Il­ko-Sa­scha Ko­wal­c­zuk ei­nen dif­fus an­kla­gen­den, fast zor­ni­gen Text, der ver­mut­lich ent­stand, weil sich Er­pen­beck in In­ter­views über ih­re man­geln­de li­te­ra­ri­sche An­er­ken­nung in Deutsch­land be­klagt hat­te (den Bun­des­ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hielt sie im­mer­hin be­reits). Es wür­den, so soll sich Er­pen­beck ge­äu­ßert ha­ben, zu we­ni­ge ost­deut­sche Ju­ro­ren in den Ju­rys sit­zen. Ko­wal­c­zuk be­kennt mit gön­ner­haf­ter At­ti­tü­de, er le­se Er­pen­becks »Schrei­be« »nicht un­gern«, um dann sei­ne Vor­be­hal­te mit Er­pen­becks So­zia­li­sa­ti­on in der DDR zu be­grün­den. Et­li­che »ost­deut­sche« Preis­trä­ger wür­den zu­dem der The­se wi­der­spre­chen, dass es nicht an den Ju­ry-Be­set­zun­gen lie­gen wür­de und sug­ge­riert zwi­schen den Zei­len, dass die Zu­rück­hal­tung mit ei­ner ge­wis­sen »Ost­deutsch­tü­me­lei« in Er­pen­becks Li­te­ra­tur zu tun ha­ben könn­te, ei­ner »Sehn­sucht nach dem Ge­stern«. Dass auch an­de­re preis­ge­krön­te Au­toren aus der ehe­ma­li­gen DDR gibt, die ost­al­gisch schrei­ben, wird nicht the­ma­ti­siert.

Er­pen­beck sei in ei­ne kom­mu­ni­sti­sche Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wor­den, El­tern und Groß­el­tern hät­ten für DDR-Ver­hält­nis­se in ei­ner »Par­al­lel­welt« Pri­vi­le­gi­en ge­habt, so Ko­wal­c­zuk, der auch noch gleich ei­ge­ne Er­leb­nis­se ein­bringt, die ei­nen gro­ßen Kon­trast zu de­nen der Er­pen­becks dar­stel­len. Weil Er­pen­becks DDR-Bild nicht dem (wohl be­gründ­ba­ren) Ver­dam­mungs­ur­teil ent­spricht und sich die Au­torin ent­ge­gen den Usan­cen des Li­te­ra­tur­be­triebs über man­geln­de Wert­schät­zung be­klagt hat, sieht sich ein se­riö­ser Au­tor ge­nö­tigt, ei­ne Schrift­stel­le­rin – ja, was?, zu maß­re­geln? Es geht al­so nicht um Li­te­ra­tur, son­dern um ei­ne ab­stru­se Form von Sip­pen­haft. Grund ge­nug für mich, der au­ßer Er­pen­becks Text vom Bach­mann­preis 2001 noch nie et­was von ihr ge­le­sen hat­te, jetzt Kai­ros, das aus­ge­zeich­ne­te Buch, zu le­sen.

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Uwe Tell­kamp: Der Schlaf in den Uh­ren

Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren
Uwe Tell­kamp: Der Schlaf in den Uh­ren

Für ei­nen kur­zen Mo­ment schien die Welt der deut­schen Li­te­ra­tur in Ord­nung. Es war ein Ok­to­ber­tag im Jahr 2008 und Uwe Tell­kamp war mit dem da­mals noch recht neu kon­zi­pier­ten »Deut­schen Buch­preis« für sei­nen Ro­man »Der Turm« aus­ge­zeich­net wor­den. Die Lo­be über­schlu­gen sich und vie­le Kri­ti­ker wa­ren sich si­cher, end­lich DEN Wen­de­ro­man vor sich zu ha­ben. Auch die eher seich­te Ver­fil­mung vier Jah­re spä­ter, die ei­ni­ge Zeit lang zu den ent­spre­chen­den Ge­denk­da­ten im öf­fent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen wie­der­holt wur­de, konn­te den Ruf des Ro­mans nicht we­sent­lich er­schüt­tern.

Am Schluss des Ro­mans war ein Dop­pel­punkt – der Au­gen­blick, als Uh­ren schlu­gen, der 9. No­vem­ber, und Chri­sti­an Hoff­mann, Sohn des Arz­tes Ri­chard Hoff­mann, zur Zeit der Wen­de Wehr­dienst­pflich­ti­ger, nä­her­te sich mit mul­mi­gen Ge­fühl den De­mon­stran­ten. Kommt der Be­fehl, auf sei­ne Lands­leu­te zu schie­ßen? Wie geht es wei­ter? Was ge­schieht mit den Hoff­manns, der Ober­schicht in der DDR?

Die Un­ge­duld wuchs; An­kün­di­gun­gen kün­dig­ten Ver­schie­bun­gen und neue An­kün­di­gun­gen an. 2015 war das Land mit der so­ge­nann­ten Flücht­lings­kri­se be­schäf­tigt. Uwe Tell­kamp war mit der Po­li­tik der Kanz­le­rin nicht ein­ver­stan­den. Er sag­te dies auch. Im Ge­spräch mit Durs Grün­bein im Jahr 2018. Der Suhr­kamp-Ver­lag di­stan­zier­te sich per Tweet von sei­nem Au­tor, was ein merk­wür­di­ges Ver­ständ­nis zeigt.

Von nun an wur­de die Ver­zö­ge­rung des neu­en Ro­mans von Ge­rüch­ten be­glei­tet. Ge­nießt Tell­kamp noch die Un­ter­stüt­zung des Ver­lags? Es er­schie­nen Aus­schnit­te aus sei­nem Ro­man; Ar­beits­text »La­va«. Tell­kamp galt jetzt als »rechts« – weit­ge­hend be­grün­det auf ei­ner Aus­sa­ge aus der Grün­bein-Dis­kus­si­on und sei­ner Freund­schaft zur Buch­händ­le­rin Su­san­ne Da­gen, die seit ih­rer Pu­bli­ka­ti­ons­rei­he »Exil« und di­ver­sen Ver­an­stal­tun­gen mit dem Ti­tel »Mit Rech­ten le­sen« zur Pa­ria des Dresd­ner Kul­tur­be­triebs – und dar­über hin­aus – wur­de.

2020 riss der Ge­dulds­fa­den des Feuil­le­tons. Man be­frag­te so­ge­nann­te In­tel­lek­tu­el­le, was sie von Tell­kamps neu­em Ro­man hiel­ten. Wohl ge­merkt, der Ro­man exi­stier­te nur in der Werk­statt des Au­tors, viel­leicht teil­wei­se be­reits im Lek­to­rat des Ver­lags. Nie­mand wuss­te Ge­nau­es. Aber das hielt ei­ni­ge nicht da­von ab, fer­ti­ge Ur­tei­le zu prä­sen­tie­ren. Alei­da Ass­mann et­wa, die fest­zu­stel­len glaub­te, dass aus dem einst »Auf­rech­ten« ein »Rech­ter« ge­wor­den sei. Bar je­der Kennt­nis des Ma­nu­skrip­tes gab sie Rat­schlä­ge an den de­si­gnier­ten Ver­lag: »Wenn er [Tell­kamp] tut, was der Ti­tel des neu­en Ro­mans ver­spricht, näm­lich glü­hen­de La­va über das Land zu gie­ßen, dann wird man ihn dar­an nicht hin­dern kön­nen. An­ders als in der DDR herrscht kei­ne Zen­sur mehr, Kunst- und Mei­nungs­frei­heit sind in der De­mo­kra­tie ein Bür­ger­recht. Man muss sich al­ler­dings fra­gen, durch wel­chen Vul­kan, sprich Ver­lag, die­se La­va sich er­gie­ßen soll.« Ihr Fu­ror stei­ger­te sich: »Zu ei­nem Zeit­punkt, wo sich in der Ge­sell­schaft Hass, An­ti­se­mi­tis­mus und Ge­walt mit der Ge­schwin­dig­keit des Co­ro­na­vi­rus aus­brei­ten, muss der Suhr­kamp-Ver­lag kei­nen Brand­be­schleu­ni­ger auf den Markt wer­fen.« Wie kann man sich noch mehr de­mon­tie­ren?

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Deutsch-deut­sche Pflicht­lek­tü­re

Ein Streif­zug durch die Ste­­fan-Heym-Wer­k­aus­­ga­­be Wer kennt ihn noch, Ste­fan Heym? Ein Mann mit ei­nem gro­ßen Kopf, bu­schi­gen wei­ßen Haa­ren an den Sei­ten, tie­fer Stim­me, fast ein Bass, bis­wei­len mit Bas­ken­müt­ze oder in ei­nem opu­len­ten Ses­sel sit­zend und ziem­lich lang­sam, fast su­chend, spre­chend. Da­mals, in den 1970er Jah­ren, kam er häu­fig in den Kul­tur­sen­dun­gen im ...

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Lá­szló Kra­szn­ahor­kai: Herscht 07769

László Krasznahorkai: Herscht 07769
Lá­szló Kra­szn­ahor­kai: Herscht 07769

Rasch kom­men sie, die Ana­lo­gien. Da ist der fu­rio­se Ro­man »Zo­ne« von Mat­thi­as Énard, der 2010 ins Deut­sche über­setzt wur­de. Der Text ent­steht im Kopf ei­nes ehe­ma­li­gen Söld­ners wäh­rend ei­ner Zug­fahrt von Mai­land nach Rom; ein ein­zi­ger in­ne­rer Mo­no­log ei­ner zwie­lich­ti­gen Fi­gur (viel­leicht ein Kriegs­ver­bre­cher?) mit wil­den As­so­zia­tio­nen, hi­sto­rio­gra­phi­schen Ein­schü­ben, Ge­dan­ken­ket­ten, (Liebes-)Beichten, Göt­ter­be­schwö­run­gen, Schimpf‑, Hass‑, Ekel- und Schmäh­ti­ra­den, ei­ne Blei­wü­ste auf 600 Sei­ten aus nur we­ni­gen Sät­zen, viel­leicht drei oder vier, ei­ner Re­vue der Bar­ba­ren, die am und um das Mit­tel­meer in den letz­ten tau­send Jah­ren ge­haust, ge­herrscht, ge­vö­gelt und vor al­lem ge­mor­det ha­ben, ei­ne un­end­li­che Ge­schichts­stun­de, die man so schnell nicht ver­ges­sen wird und die man nicht auf­hö­ren kann zu le­sen.

Dar­an denkt man so­fort wenn man »Herscht 07769« zu le­sen be­ginnt, die­sen Mo­nu­men­tal­ro­man des 1954 ge­bo­re­nen Lá­szló Kra­szn­ahor­kai. Lei­der wur­de man in­zwi­schen vor­ge­warnt, dass die­se rund 400 Sei­ten tat­säch­lich nur aus ei­nem Satz be­stehen. Ein Apo­ka­lyp­ti­ker sei der Au­tor, so le­se ich, der noch nie et­was von ihm ge­le­sen hat­te, so als sei dies in die­sen hy­ste­ri­schen Zei­ten, die in­zwi­schen in na­he­zu je­der Nach­rich­ten­sen­dung klei­ne­re und gro­ße Apo­ka­lyp­sen in Aus­sicht stellt, noch et­was Be­son­de­res. Aber dies hier sei ein deut­scher Ro­man sagt ei­ner der­je­ni­gen, des­sen li­te­ra­ri­sche Ur­tei­le ich schät­ze, und es geht tat­säch­lich um Deutsch­land, ge­nau­er um Thü­rin­gen, den Ort Ka­na mit der Post­leit­zahl 07769, den es na­tür­lich nicht gibt, es ist ein fik­ti­ver, ein ver­wun­sche­ner Ort im Osten, den ir­gend­wie al­le ken­nen, ob­wohl kaum je­mand dort war, ein Syn­onym für Ost­deutsch­land, wie man es sich vor­stellt, denn »Ka­na mach­te nachts nicht den Ein­druck ei­nes Or­tes, an dem die Men­schen schön ru­hig schlie­fen, son­dern den ei­nes, aus dem man schon weg­ge­zo­gen war«. Spä­ter wird man mer­ken, dass der Na­me nicht nur ein Wort­spiel zum re­al exi­stie­ren­den Ort Kahla ist (Post­leit­zahl 07766), son­dern na­tür­lich auch an das Land Ka­na­an er­in­nert, in dem wahl­wei­se Milch und Ho­nig flie­ßen oder (und) Je­sus Was­ser in Wein ver­wan­del­te. Die­se As­so­zia­ti­on wird ein biss­chen ein­ge­hegt, denn die gan­ze To­po­gra­phie Thü­rin­gens in die­sem Buch kommt mit »Klar­na­men« vor, al­so ist das Drum­her­um erst ein­mal au­then­tisch (wie es die Kri­tik liebt).

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Kar­sten Kram­pitz: 1976 – Die DDR in der Kri­se

Karsten Krampitz: 1976
Kar­sten Kram­pitz: 1976

»1976« lau­tet der Ti­tel. Dar­un­ter »Die DDR in der Kri­se«. Da schüt­telt man sich erst ein­mal als in West­deutsch­land so­zia­li­sier­ter Mensch. 1976? Nicht et­was 1989? Gut, die Bier­mann-Aus­bür­ge­rung ist noch prä­sent. Und mit ein we­nig Nach­den­ken auch noch der Ar­rest für Ro­bert Ha­ve­mann. Schon schwie­ri­ger wird es mit der Er­in­ne­rung an die Selbst­ver­bren­nung des Pfar­rers Os­kar Brü­se­witz. Ver­ges­sen (falls je­mals ge­wusst) die Kon­fe­renz der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei­en in Ost-Ber­lin. Noch exo­ti­scher: der IX. Par­tei­tag der SED. Und das Hon­ecker von Stoph das Amt des Staats­rats­vor­sit­zen­den über­nahm und da­mit die voll­kom­me­ne Macht­fül­le bei­der Äm­ter (General­sekretär der SED und fak­ti­sches Staats­ober­haupt) auf sich ver­ei­nig­te, hat­te man da­mals nicht mit­be­kom­men – zu deut­lich war die Au­ßen­wahr­neh­mung auf Hon­ecker ge­rich­tet.

All das ge­schah 1976. Und Kar­sten Kram­pitz fin­det noch wei­te­re in­ter­es­san­te Be­ge­ben­hei­ten aus die­sem Jahr wie den Tod von Mi­cha­el Gar­ten­schlä­ger, ei­nem DDR-Flücht­ling, der vom We­sten aus wie­der in das DDR-Grenz­ge­biet ein­drang und Selbst­schuss­an­la­gen de­mon­tier­te und ver­äu­ßer­te. Er wur­de bei ei­ner sol­chen Ak­ti­on er­schos­sen. Da wa­ren die Olym­pi­schen Som­mer­spie­le 1976 in Mont­re­al, bei de­nen der DDR mit Platz 2 im Me­dail­len­spie­gel hin­ter der So­wjet­uni­on end­gül­tig der Durch­bruch als Sport­welt­macht ge­lang; nie mehr – auch bei den Boy­kott-Spie­len 1980 – er­reich­te man so vie­le Gold­me­dail­len. Au­ßen­po­li­tisch pein­lich wur­de der Tod ei­nes ita­lie­ni­schen LKW-Fah­rers an der deutsch-deut­schen Gren­ze, der sich le­dig­lich im Grenz­ge­biet ver­irrt hat­te – und auch noch Kom­mu­nist war. Span­nend Kram­pitz’ Fund­stück ei­nes Gedächtnis­protokolls des da­mals 35jährigen Pfar­rers Lo­thar Vos­berg, der den Be­such zwei­er MfS-Män­ner re­ka­pi­tu­lier­te und an sei­ne Vor­ge­setz­ten mel­de­te.

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Die Mit­te Deutsch­lands im Wech­sel der Zei­ten

Ge­schich­te kennt kein letz­tes Wort. (Wil­ly Brandt)

 

Ein Riss ging durch deut­sche Lan­de – von Tra­ve­mün­de bis zum ein­sti­gen Drei­län­der­eck bei Hof. Über vier­zig Jah­re. Die­se po­li­ti­sche wie geo­gra­phi­sche Tei­lung trenn­te Men­schen und Re­gio­nen. Ent­stan­den war aber auch ein (fast) un­be­kann­ter Land­schafts-Längs­schnitt in bei­den Deutsch­lands.

Grenzübergänge - Info Tafel in Mödlareuth (Foto © R. Lüdde)
Grenz­über­gän­ge – In­fo Ta­fel in Möd­lareuth (Fo­to © R. Lüd­de)
Aus al­ten Kul­tur­land­schaf­ten wa­ren Grenz­ge­bie­te ge­wor­den und nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung 1990 aus dem ein­sti­gen To­des­strei­fen ein Le­bens­band: Ein über 1393 Ki­lo­me­ter lan­ges mit 17 Na­tur­räu­men ver­bundenes »Grü­nes Band« zieht sich in­zwi­schen durch die Mit­te Deutsch­lands: ge­schütz­te Land­stri­che, un­mit­tel­bar am ehe­ma­li­gen Grenz­ver­lauf.

Das Na­tur­schutz­pro­jekt »Grü­nes Band« be­wahrt ei­nen Grün­gür­tel, ei­nen Kor­ri­dor durch stark zer­stückelte Land­schaft. Da­bei han­delt es sich um den so ge­nann­ten Ko­lon­nen­weg auf der ehe­ma­li­gen »De­mar­ka­ti­ons­li­nie« in ei­ner Brei­te zwi­schen 50 und 200 Me­tern. Über Jahr­zehn­te hat­te hier nur die Na­tur »Be­we­gungs­frei­heit«. Es ent­stand ei­ne Art Wild­nis in ei­ner sonst so in­ten­siv ge­nutz­ten land­schaftlichen Um­ge­bung: Brach­flä­chen wech­seln sich mit ver­busch­ten Ab­schnit­ten ab, Altgras­fluren mit Wald, Flüs­se mit Feucht­ge­bie­ten und Moo­ren.

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