
Ungleich vereint
Es ist ein gängiges Muster: Kurz vor wichtigen Wahlen wird »der Osten« politisch wieder entdeckt. Diesmal sind es drei Landtagswahlen – Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Entwicklungen, die sich über Jahre angekündigt haben, werden plötzlich von allen Seiten im Katastrophenmodus kommentiert. Hinzu kommt, dass mit der sektenartigen Neupartei um Sahra Wagenknecht ein zusätzlicher, nicht kalkulierter Faktor aufgetaucht ist. Dachte man anfangs noch, dass hierdurch die AfD geschwächt würde, so muss man jetzt zur Kenntnis nehmen, dass sich vor allem Nichtwähler und Linke-Anhänger angesprochen fühlen. In Thüringen sagen aktuelle Umfragen voraus, dass AfD und BSW die Mehrheit der Sitze im Landtag erringen könnten.
Letzteres war bei Erscheinen von Steffen Maus Ungleich vereint in dieser Form noch nicht absehbar. Im Gegensatz zu vielen zum Teil hyperventilierenden Wortmeldungen und Wählerbeschimpfungen ist es allerdings zunächst eine Wohltat, dieses Buch zu lesen, auch wenn man in einigen Punkten nicht übereinstimmt. Mau möchte »küchenpsychologische Erklärungen vermeiden« und stellt klar: »Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.« Seine These geht dahin, dass es in Ostdeutschland unabhängig lokaler Prägungen »eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Formen« (Hervorhebung Steffen Mau) gibt. Er spricht sogar von einer »Einheitlichkeitsfiktion«. Mau setzt bewusst eine »Ost-West-Brille« auf, um »klarer zu sehen, wie Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt.«
Mau weist auf die Kränkungen zu Beginn der 1990er Jahre hin, als »die Bundesrepublik und ihr Spitzenpersonal die Rolle der Konkursverwalter« übernommen hatten und die Ostdeutschen zu »bedürftigen Empfänger[n] von Hilfe und Zuwendung« mit »nur noch begrenzte[r] Entscheidungsmacht« wurden. Ausgiebig werden diese Brüche und Verwerfungen herangezogen, die, so die These, in (Teilen) der Bevölkerung heute noch nachleben. Dabei wird klargestellt, dass dies »weder allein der DDR noch dem Einigungs- und Transformationsprozess zuzuschreiben« ist, sondern sich »aus beiden Phasen und der Verknüpfung ihrer Folgen« ergibt. Es werden Zahlen präsentiert, die Rückstände und Differenzen zu Westdeutschland aufzeigen, wie etwa Geburtenrate, Unternehmensstrukturen (es gibt kaum Großunternehmen im Osten), Tarifbindung, Organisationsgrad in politischen Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen oder auch Anteil migrantischer Bevölkerung. Ob die Tatsache, dass sich unternehmerische Selbstständigkeit in Ostdeutschland »auf den gewerblichen Bereich recht kleiner Betriebseinheiten« konzentriert, eine Schwäche darstellt, müsste man allerdings erst einmal belegen und sich gleichzeitig fragen, warum die »Alleinunternehmer« dort als »oft prekär« quantifiziert werden.