Nachdem die Hörer des Deutschlandfunks am 19.3. schon Stefan Austs Meinung über den Schulz-Hype im Interview erklärt bekamen, folgte zwei Tage später ein Gespräch mit ihm über den Journalismus und den »Wahrheits«-Begriff.1 Aust, Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt und demzufolge immer noch an zentraler Stelle des deutschen Journalismus, bekennt, dass er ein Problem mit diesem Begriff habe. Dieser ist allerdings nicht philosophisch gemeint, sondern, so Aust, liegt darin begründet, dass man viele Informationen auf unterschiedliche Art interpretieren könne. Es sei immer im Auge des Betrachters, wie man etwas sehe. Demzufolge, so die Schlussfolgerung, kann es keine »Wahrheit« geben bzw. der Wahrheitsbegriff sei dehnbar.
Die Äußerung ist interessant, weil sie das Grunddilemma des Journalismus auf den Punkt bringt. Aust ist mit dieser Sicht nicht alleine. Auch ein Roland Tichy (der mit Aust außer seiner Profession nicht viel gemeinsam haben dürfte) vertritt diese These: Ein Journalist informiert sich über einen Sachverhalt und bewertet diesen. Diesen Extrakt publiziert er dann.
Ersetzt man den Begriff »Wahrheit« durch »Fakten«, so offenbart sich der Trugschluss – und das nicht erst nach Ausrufung des postfaktischen Zeitalters. Wer »Wahrheiten« oder »Fakten« nur als Interpretationsknetmasse von Sachverhalten begreift, kann auch irgendwann behaupten die Erde sei eine Scheibe oder bei ein Ereignis habe gar nicht bzw. nicht im tradierten Maße stattgefunden. Da es keine »Wahrheit« gibt, braucht er (sie) auch dafür keinerlei Belege anzubringen. Aust geht davon aus, dass Journalisten die ihnen bekannten Sachverhalte stets auch immer interpretieren, also mit einer Deutung und demzufolge auch Meinung versehen. Journalistische Pluralität zeichnet sich dadurch aus, dass es möglichst viele (divergierende) Interpretationen gibt.
Der Rezipient entscheidet demzufolge am Ende, welche (journalistische) Deutung er bevorzugt. Die Kriterien obliegen dabei vollständig bei ihm und sind selber wiederum höchst subjektiv. Vielleicht mag er den einen Journalisten lieber als die andere Journalistin. Oder die Bewertung von X passt besser in sein Weltbild als die von Y. Im Zweifel hat er kaum genügend Zeit, sich alle oder sehr viele unterschiedliche Deutungsangebote zu beschaffen.
Wie fatal ein solches Handeln ist, zeigt sich immer in Extremsituationen wie beispielsweise Kriegsberichterstattungen. Wer verübt sogenannte Kriegsverbrechen? Wer hat welche Kriegsgründe? Welches Videomaterial wird für die Deutung herangezogen? Die Frageliste ließe sich noch beliebig erweitern. Gerade solche Fragen sind von Journalisten in der Regel nie aus der jeweiligen Lage heraus zu beurteilen. Sie sind immer auch Deutungen. Wenn allerdings die Fakten nicht von den Deutungen expressis verbis unterschieden werden, wird der Rezipient am Ende auch manipuliert. Und er kann nicht mehr unterscheiden, was Meinung und was (halbwegs) gesichertes Faktum ist.
Journalisten sollen verbreiten »was ist und was man sieht«, so Aust. Dass dies ein Unterschied sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Glücklicherweise fällt ihm noch ein, dass der Schreiber »möglichst durchsichtig […] machen« müsse, »wie man zu diesen Informationen gekommen ist« aber »nicht die Messlatte allzu hoch setzen« solle. Also dann ist etwas vielleicht »ein bisschen« faktisch? Und was, wenn er nur schreiben kann, er habe es »gesehen«? Was bedeutet eigentlich »was man sieht«? Die Übertragung der Brutkastenlüge und die Berichterstattung hierüber war sicherlich nach den »Aust-Regeln« korrekt. Dennoch wurde eine Lüge verbreitet, die einen Krieg rechtfertigen sollte. Und wenn Journalisten zu Ortsterminen in Kriegsgebieten eingeladen werden, können sie sicher sein, dass das, was sie sehen sollen, entsprechend arrangiert ist. Aber es bedeutet nicht, dass es sich um Fakten handelt. In diesen Fällen können Journalisten nicht anders als »berichten«; jede Interpretation wäre Spekulation. Aber der Konjunktiv ist nun mal für beide Seiten – Journalisten und Rezipienten – auf Dauer unbefriedigend. Und dann gibt es ja noch den journalistischen Herdentrieb. Es ist kein Zufall, dass die Skepsis an den Medien immer dann am größten ist, wenn die Massenmedien einen homogenen Meinungsstrom erzeugen.
Aust entkommt dem Dilemma auch nicht dadurch, dass er mehr Selbstbewusstsein für die Branche einfordert und postuliert, man solle sich von »Lügenpresse«-Vorwürfen nicht einschüchtern lassen. Mein Eindruck ist, dass das Selbstbewusstsein immer noch sehr stabil vorhanden ist. Anders sind die permanenten Selbstdeklarationen als »Qualitätsmedien« nicht zu erklären. Und unlängst feierte sich die Branche selber und es gab Goldene Kameras für Nachrichtensendungen.
Der Rest ist das übliche Bashing auf das Internet, so als gebe es die »Sau-durchs-Dorf-Treiber« nur bei den anderen. Immerhin: Am Ende rekurriert er dann doch wieder auf den Fakten-Journalismus. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass man schon einmal weiter war.
Bis 27.9.2017 im Netz verfügbar. ↩
Aust hat schon recht, wenn er den Wahrheits-Begriff zur Disposition stellt, schließlich sind alle epistemischen Verwirrungen der letzten tausend Jahre damit konnotiert. Auf diese Diskussion will man sich ja schließlich nicht einlassen.
Aber eine Eigenart der Kommunikation besteht darin, dass man »der anderen Seite« einen großen Spielraum für Annahmen, Setzungen, Implizitheiten einräumen muss, und daher lässt sich der psychologische Kommunikations-Begriff so schlecht auf Medien oder »Pressesprecher« anwenden.
Sprich: Kommunikation ist ein Spaß für Jung und Alt, aber wehe es geht um etwas, wie z.Bsp. Geld, Ansehen, oder Macht. Da sieht es dann gleich ziemlich düster aus.
Alternative Fakten sind nichts anderes als eine Konfrontation mit einer anderen Meinung, das ist keine völlig neue Erfindung. Allein die Formulierung ist wunderbar ironisch.
Der Spagat, den der politische Journalismus leistet, ist eindeutig zu groß: man möchte sprachlich klar und vertrauenswürdig rüberkommen, wie zuhause am Küchentisch, aber man »kommuniziert« ständig heiße Ware, eben Geld, Ansehen und Macht. Beides ist unvereinbar, es bleibt ein Spannungsverhältnis übrig, und das resultiert nicht von der Möglichkeit der Unwahrheit. Das resultiert von den Konsequenzen des Irrtums. Schließlich ist Macht auf der Dichotomie von Vertrauen und Misstrauen errichtet. Da kann ein Irrtum gewaltige Folgen haben. Am Küchentisch hat er das in der Regel nicht.
Dass der Point of View ebenso so gefährlich ist, wie eine Falschmeldung, hatte der Guardian schon 1986 in seiner berühmt gewordenen Werbung gezeigt. Von TAZ, FAZ, Zeit oder Welt auch nur ansatzweise The whole picture zu erwarten, erscheint mir völlig absurd. Einer Quelle traue ich schon lange nicht mehr, erst viele Puzzlesteine ergeben ein Bild. Gerade bei »homogenem Meinungsstrom« findet man manchmal abseitig Anstöße, um weiter zu recherchieren. Ich bin mir da auch nicht zu schade z.B. RT oder PI zu konsultieren. Selbst so kann man zu dem ein oder anderen Ah-Erlebnis kommen. Das vorher Gesagte konterkarierend, finde ich es manchmal geradezu irritierend, wenn auf SPON mehrere sich widersprechende Artikel gleichzeitig online gehen. Der Wahrheit nahe zu kommen, ist harte Arbeit.
Ich erinnere mich an meine Jugendzeit. Ich war fasziniert vom Kurzwellenhören, weil man dort praktisch den Sound der Welt empfangen konnte (auch wenn die Empfangsqualität oft lausig genug war – was aber den Effekt des Besonderen noch verstärkte). Ein interessanter Aspekt war, dass die Auslandsdienste sehr vieler Kurzwellenstationen unter anderem deutschsprachige Programme ausstrahlte. Das variierte sehr stark – manchmal war es nur eine halbe Stunde am Tag. Oder eben drei, vier Stunden. Alles zu festgesetzten Zeiten und Frequenzen. Damals, in den 1970ern, war ja Kalter Krieg, der auch ein Propagandakrieg war. Also waren alle osteuropäischen (vulgo: kommunistischen) Länder dabei: Polen, Tschechoslowakei, Radio Moskau, aber auch Hardcore-Sender wie Radio Tirana. Weiter im Osten natürlich Radio Peking. Schrieb man diese Sender an, bekam man neben den begehrten Empfangsbestätigungen auch jede Menge »Informationsmaterial« (Propaganda). Ich war daran damals teilweise sehr interessiert, las Artikel der »Peking-Rundschau« und benutzte die deutschsprachigen Nachrichten von Radio Moskau als Gegengewicht zur Kalten-Krieg-Propaganda der nationalkonservativen Kommentatoren in Deutschland, die sich an Brandt abarbeiteten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, hier von »Fake-News« zu sprechen. Propaganda wurde natürlich auch vom Westen in Richtung Osten getrieben. Vor allem gab es die US-gesteuerten Sender »Radio Liberty« und »Radio Free Europe«, die nach Osteuropa dissidente Programme sendeten. Da kamen dann die sogenannten Störsender zum Einsatz, die nur ein Brummen auf die Frequenz legten; der eigentliche Sender war nicht mehr zu hören.
Ich muß an dieses Setting immer häufiger denken, wenn ich von den Fake-News-Beobachtern höre, die zu unser aller Wohl das Falsche vom Richtigen trennen wollen. Ich halte diesen Anspruch für totalitär.
Journalistische Arbeit ist etwas anderes als am Küchentisch Mutmaßungen anzustellen. Vielleicht ist »Wahrheit« manches Mal ein zu großes Wort, aber es gibt nun einmal Fakten. Wenn diese sich in der jeweiligen Lage des Journalisten nicht einwandfrei herausarbeiten lassen, dann muss dies entsprechend erklärt werden. Tatsächlich wird aber häufig mit dem Brustton der Überzeugung (bzw. des Faktenwissens) die Interpretation als Realität »verkauft«. Vor allem wenn sie ins Weltbild passt. Das ist in den meisten Fällen gewollt und nicht dem Spagat des journalistischen Arbeitens geschuldet. Viele Schreiber und Kommentatoren halten sich für die großen Weltpropheten und »Checker«. Die Entzauberung ist aber nicht mehr aufzuhalten; die Fehler der Vergangenheit sind zu zahlreich als das man sie als Einzelfälle abtun könnte.
RT konsultiere ich nicht (das wäre wohl wie damals Radio Moskau); PI lehne ich ab, weil es mit Journalismus rein gar nichts zu tun hat (manchmal kann ich gerade noch dem ein oder anderen Artikel von Tichys Webseite etwas abgewinnen). Ich glaube allerdings nicht, dass die reine Ansammlung unterschiedlichster Interpretationen und Meinungen ein irgendwie klares Bild ergibt. Ich begebe mich daher sukzessive immer mehr auf eine strenge Nachrichtendiät.
Interessanter Einblick. Enver Hoxhas Radio Tirana galt für uns damals als so eine Art Real-Comedy. Immer für einen Lacher gut, bis es dann fad wurde.
Der Nachrichtenwert von RT und vor allem PI ist natürlich gering, aber für einen Anstoß doch manchmal zu gebrauchen. Die korrespondierende Nachricht findet man bei der Qualitätspresse dann auf Seite 37 links unten. Man kann sagen, man hätte ja berichtet (so wie manche Gegendarstellung), aber lesen tut es kaum einer.
Ein besonderes Beispiel ist ein Blog, den ich hier nicht verlinken möchte. Der Betreiber ist ein windiger Schwätzer aus der Truther-Szene, der heute von Moskau bezahlt wird. Die üblichen Beiträge erkennt man an der schlechten Grammatik und Orthographie. Bei manchen Posts ist die Sprache auf deutlich höherem Niveau. Dann werden Nachrichten zeitnah und detailliert durchgestochen, die sich häufig als Startpunkt für weitere Recherche lohnen (z.B. Flugzeugabsturz bei Smolensk, Gaddafis Handy). Das sind dann wohl keine »Fakten« mehr, die man falsch oder richtig berichten kann, wie die Temperatur in Hamburg heute morgen um 10:00.
Um in dem voherigen Bild zu bleiben, kann vielleicht nicht jeder aus ein paar Puzzlesteinen das ganze Bild erkennen, was sich aber durch ein paar deutende Hinweise ändern lässt. Es sei denn es handelt sich um Vexierbilder.
Mir schwirrt schon seit langem die Idee im Kopf herum, ob man nicht manche Fragen von einer übergeordneten Instanz auf Wahrheitsgehalt prüfen lassen und zertifiziern lassen kann, sodass im Wahlkampf keiner mehr hinter diese Fakten zurück fallen darf. Praktisch würde das ganze wohl nur in Scholastik enden. Politische Fakten sind Schemen in der Nacht.
Politische Fakten sind Schemen in der Nacht.
Schöner Satz.
Noch eine Erinnerung: Obwohl mein Elternhaus streng sozial-libera war, schauten wir damals das »ZDF-Magazin« mit Gerhard Löwenthal. Das war zwar furchtbar, aber irgendwie hat man sich das doch angetan (und war es auch nur, um weiter seiner Linie treu zu bleiben). Irgendwann gab es dort einen Bericht über das Massaker von Katyn, das wohl ursprünglich den Deutschen zugeschrieben wurde. Löwenthals Magazin »enthüllte« nun, dass es sich um ein stalinistisches Verbrechen handelte, was viele damals als Revisionismus ablehnten und anzweifelten. Kurz gesagt: Weil es Löwenthal gesagt hatte, konnte es nicht stimmen.
Aber es stimmte eben doch. Aus Furcht vor einer Instrumentalisierung durch rechte Kreise wollte man das damals in der publizistischen Öffentlichkeit nicht wahr haben. Ähnliche Tabus hat man heute m. E. en masse. Die Furcht, sofort in eine bestimmte Ecke gestellt und/oder Applaus von der »falschen Seite« zu erhalten, ist relativ gross. Hierin sehe ich einen wesentlichen Punkt für die oftmals uniforme Berichterstattung – die sich erst nach Jahren ändert (falls überhaupt).
(Danke fürs Nicht-Verlinken.)
Vom „St. Pauli-Nachrichten“- und „Konkret“-Schreiber zum „Welt“-Herausgeber und Herrenreiter, eine deutsche 68-er – Karriere! Kein Einzelfall und selbstverständlich darf man bei Leuten wie Schröder, Fischer, Schily oder eben Aust die Wahrheitsmesslatte nicht zu hoch hängen.
„Wer mit 20 nicht links ist hat kein Herz, wer mit 40 immer noch links ist, hat keinen Verstand!« Ich weiß jetzt nicht, wem dieser oft zitierte Satz zuzuschreiben ist, aber so sehr ich mich auch anstrenge, es will mir nicht gelingen, für diese opportunistischen Karrieristen Verständnis zu entwickeln. Naja, höchstwahrscheinlich mangels Verstandes.
Wolfgang Niedecken, Gründer der Kölsch-Rock-Band BAP, und mittlerweile auch der Gruppe o.a. Wetterfähnchen zuzuordnen, hat mal einen Song über die Heuchelei der sogenanten Eliten geschrieben, dessen Titel er nun auch auf sich selbst anwenden kann: „Ihr sed widderlich!“
Naja, der »Marsch durch die Institutionen« ist eben auch ein Ankommen im Bürgerlichen. Und das hat sich auch geändert; angepasst. Die Frage ist dann immer wer sich mehr angepasst hat. Und ob man deswegen automatisch »widerlich« ist, müsste man von Fall zu Fall klären. Fest steht, dass Anpassung bestimmte Positionen verbiegen kann. Dass ein ehemaliger »Spiegel«-Chefredakteur nun Herausgeber eines »Springer«-Blattes ist kann man einerseits als erfrischende Auflösung von politischen Schützengräben bewerten oder eben als Abfall ins Opportunistische. Im Zweifel würde ich Aust an seine Texte bemessen (von denen er übrigens als »Spiegel«-Mann verhältnismäßig wenig verfasst hat) bzw. an das, was er in »seinem« Blatt anstellt.
Auf einem anderen Blatt steht, ob es nicht eine Art Verfallsdatum für Journalisten, Publizisten und Kritiker geben sollte, nach dem sie tunlichst nichts mehr aktiv im Medienzirkus tun sollten. Überall gibt es Pensionsgrenzen – nur in der Publizistik (und in der Politik!) nicht. Nichts gegen den ein oder anderen Einwurf zu gegebener Zeit, aber dass jemand mit 70 noch einmal im Tagesgeschäft einer Zeitung den Ton angibt, das muss eigentlich nicht sein.
Ein Kaffeeplausch über den Wahrheitsbegriff, anders kann man das nicht bezeichnen, so munter wie das bei Aust durcheinander geht. — Ist das schon Absicht oder noch Unachtsamkeit?
Ich vermute, es ist der Alltag eines Herausgebers, der damit alles auf leichte Konsumierbarkeit eindampft.