Wenn man einige Tage nach der Verhandung des Bundesverfassungsgerichts die Berichterstattung Revue passieren und alle mehr oder weniger gewichtigen Aussagen zur Kenntnis genommen hat, so bleibt bei mir – vielleicht zum ersten Mal im Leben – das Gefühl einer unbestimmbaren Furcht vor der Zukunft dessen, was man – technokratisch kühl – Gemeinwesen nennt. Schier unversöhnlich haben sich wohl die Prozessgegner in Karlsruhe gegenüber gestanden. Hier die Politik – im parteienübergreifenden Konsens ihrer Alpha-Protagonisten agierend (außer die Linkspartei). Sie erklären den vorgeschlagenen Weg für »alternativlos« und malen in seltener und seltsamer Eintracht das Scheitern Europas in dicken Strichen auf ihre Fahnen. Aber warum maßregelt mich dieses Katastrophenszenario nicht? Warum verfalle ich nicht deswegen in Schockstarre und Unbehagen, sondern vor allem ob der scheinbar unausweichlichen Alternativlosigkeit, die sich da aufzutun scheint?
Der inzwischen inflationäre Gebrauch von Katastrophenszenarien behagt mir nicht und macht mich noch skeptischer als würde man die vorgeschlagenen Maßnahmen nüchtern als Notwendigkeit postulieren und mit ihnen argumentieren. Aber das findet gar nicht statt. In Wahrheit vermag niemand zu erklären, warum dieser dritte (oder vierte?), im Prinzip vermutlich unendlich große »Rettungsschirm« nebst entsprechendem Vertragswerk in Kombination mit einer Souveränitätsabgabe an eine noch nicht einmal in Skizzenstrichen entworfenen europäischen Institution den Euro und/oder Europa – und damit die Welt! – retten soll. Die Erklärungen der Befürworter bleiben blass und vage. Einige lassen sich dieses Zögern auch noch als besondere Authentizität bescheinigen. Die Kanzlerin sagte, sie fahre »auf Sicht« – und genau das gilt als »ehrlich«. Gleichzeitig weiß sie aber, dass Europa ansonsten zu scheitern droht. Aber wie kann jemand im Nebel fahren und das Land am Horizont trotzdem sehen?
Die Gegner haben an zwei Fronten zu kämpfen: Zum einen müssen sie erklären, warum sie dagegen sind. Gleichzeitig werden von Ihnen Prognosen verlangt. Das ist erstaunlich, weil die sogenannten Befürworter kaum mit Prognoseabgaben konfrontiert werden. Man setzt voraus, dass sie glauben, dass ihre Maßnahmen zu einem Ergebnis führen, den Euro, wie es längst pathetisch gesagt wird, zu »retten«. So brauchen die Befürworter keinerlei Rechenschaft abzugeben: ihr Handeln liegt vor; es wird vorausgesetzt, dass sie es bedacht haben und das es »gut« ausgeht. Ohne dass hinreichend definiert ist, was das bedeutet. Der zweite Punkt mit dem die Gegner zu kämpfen haben ist die inzwischen offen geäußerte Unterstellung des Anti-Europäismus. Volker Beck von den Grünen nennt sie verächtlich »Souveränitisten« und twittert aus dem Verfassungsgericht: »Hier in Karlsruhe gibt es einen Graben zwischen Europäern und deutschen Souveränitisten, der Rest wirkt wie Beiwerk«. Abgesehen davon, dass diese Aussage Becks Demokratieverständnis hinreichend illustriert, vergisst er auch, dass er es selber ist, der diesen Graben aushebt. Darauf angesprochen, dass nicht jeder, der gegen ESM und Fiskalpakt ist, automatisch gegen Europa sei, kommt die perfid-logische, aber unverschämte Antwort: »war in Karlsruhe anders«.
Hierin liegt der Keim des Problems, dass der deutschen Politik (aber nicht nur ihr) in Bezug auf Europa noch um die Ohren fliegen dürfte. Spätestens seit den Maastricht-Verträgen begnügte sie sich das Projekt »Europa« als unhinterfragbar zu zementieren und eventuelle Einwände mit der Denunziation von Andersdenkenden zu beantworten. Abschreckende Beispiele von anti-europäischen Parteien, die auch (fast) immer rassistische Anklänge hatten, gab es im Ausland genug.
Die Akzeptanz in der Bevölkerung für dieses im Kern demokratisch höchst defizitäre Europa funktionierte solange, bis die ökonomische Situation für die breite Masse einigermaßen stabil war. EWG, EG und EU waren in Wahrheit immer im Kern ökonomische Organisationen. Hierüber hinausgehende politische Annäherungen verpufften zumeist an den nationalen Egoismen. Dass nun ausgerechnet die Währungs- und Haushaltspolitik von Nationalstaaten vergemeinschaftet werden soll, entbehrt in einer Union, die sich noch nicht einmal auf den Begriff des »EU-Außenministers« einigen konnte, sehr befremdlich.
Erste ernsthafte, systemrelevante Brüche in der ökonomisch stabilen (nicht »heilen«) Welt gab es 2008 als sich in einem heute als heroisch geltenden, in Wahrheit jedoch eher dümmlichen Akt die Bundeskanzlerin und der Finanzminister vor die Presse stellten und die Sparguthaben als »sicher« erklärten. Die Maßnahme funktionierte, obwohl eigentlich doch erst durch diese Aussage klar wurde, dass das Gegenteil möglich gewesen war. Man stelle sich vor, ein Arzt sagte seinem mit Magenschmerzen vor ihm stehenden Patienten, er habe keinen Krebs.
Neulich sah ich eine Dokumentation, in der die rhetorischen Mittel US-amerikanischer Präsidenten seit den 1940er Jahren in Bezug auf Krieg und Frieden analysiert wurden. Es war verblüffend, wie sich die Begründungen für den Eintritt, den Noch-nicht-Abzug, über Sieg und Niederlage, über die Notwendigkeit des Waffengangs, gleichen. Ob die Präsidenten nun Johnson, Kennedy, Reagan, Clinton oder Bush hießen: Stets wurde die moralische Unausweichlichkeit und das große, hehre Ziel herausgestellt. Krieg erschien irgendwann wie eine humanitäre Maßnahme; leider unausweichlich.
Es ist natürlich gewagt, diese Analyse der Kriegsrhetorik in Bezug auf die Euro- oder Europa-Krise anzuwenden. Aber auch hier gilt: Der eigentlich sachliche Austausch von Argumenten für eine bestimmte Handlungsweise wird durch zwei Umstände bewusst verunmöglicht. Zum einen wird eine moralische Verpflichtung heraufbeschworen, die jenseits der eigentlichen Entscheidung liegt. Im vorliegenden Fall werden die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts als Rechtfertigung für das vorliegende Aktionsprogramm herangezogen. Der vielzitierte Satz »Scheitert der Euro, scheitert Europa« zielt ebenfalls in diese Richtung. Ich halte diese Konnotationen für extrem gefährlich und unhistorisch. Mit ihnen sollen schwankende Entscheidungsträger in scheinmoralische Dilemmata verwickelt werden.
Hieraus folgt unmittelbar die Simulation von Eile. Ständig ist jemandem vorzukommen. Ständig droht etwas; es herrscht praktisch permanenter Ausnahmezustand. Im Krieg droht der »Feind«. In der Eurokrise drohen »die Märkte« (eigentlich ist es nur einer, aber mit dem Plural wird die drohende Gefahr verstärkt). Setzt man sich unter Zeitdruck, verlässt man die Position des Agierenden und reagiert nur noch. Setzt man andere unter dem gleichen Zeitdruck, gibt man den oktroyierten Zeitdruck auf den Anderen ab. Genau dies geschieht, wenn die Politik in Karlsruhe von notwendiger Eile spricht. Übrigens setzen nicht nur die Befürworter das Gericht unter Druck, sondern auch die Kläger. Ausgerechnet ein Jurist wie Gregor Gysi schlägt ernsthaft vor, wenn das Gericht schon länger für die Eilentscheidung brauche, könne es doch gleich das endgültige Urteil fällen. Da fühlt man sich an windige Gebrauchtwagenhändler erinnert, die en passant von »noch anderen Interessenten« reden und damit einen Zeitdruck aufbauen, der die Entscheidung beschleunigen und die kritische Auseinandersetzung mit dem Vorliegenden verhindern soll. Mir sind solches Zeitdruck-Szenarien bekannt. Gelegentlich habe ich sie beruflich selber angewandt. Erfolg stellte sich dabei zumeist nur bei eher schwächeren Persönlichkeiten ein bzw. wenn man selber in einer besseren Position war. Oftmals ging es den Anderen so wie mir: Wenn man mich unter Zeitdruck setzt, überlege ich noch mehr, weil dieser Zeitdruck ja selten tatsächlich mit einer realen Notlage zu tun hat.
Je größer der Zeitdruck und je wortgewaltiger und dröhnender die Katastrophen-Rhetorik intoniert wird, desto skeptischer werde ich aber. Je härter der Ton gegenüber den sogenannten »Abweichlern« in den klassischen Parteien wird, desto größer wächst bei mir das Gefühl, man traut den eigenen Argumenten nicht. Dabei kann ich mich den Eindrucks nicht erwehren, dass beide Parteien – Kläger und Beklagte – auf je ihre Art und Weise das Bundesverfassungsgericht instrumentalisieren. Es dient als Bestätigungsorgan. Entweder der Gesetzgeber hat Recht gehabt und die Kläger trösten sich mit ihrem Versuch (und dem Eingang in die Geschichtsbücher). Oder es gibt mehr oder weniger strenge Auflagen – beispielsweise nach Artikel 146 GG. Das wird dann in den politischen Prozessen derart gesiebt, dass die vermeintliche Volksabstimmung am Ende abermals wieder zur »Krieg oder Frieden«-Frage heruntergebrochen wird (falls es sie überhaupt geben wird und nicht »Verfassunsgrechtler« andere Wege finden). Mehr ist nicht zu erwarten. Die Nöte des Gerichts mit ihrem heimlichen Präsidenten interessieren nicht. Aber wo sind die anderen Politikentwürfe? Wo gibt es Alternativen im parlamentarischen Wettstreit? Welche Konzepte hat die deutsche Bundesregierung zur Regulierung von Banken und dem Finanzmarkt vorgelegt? Wird eine winzige »Finanztransaktionssteuer« nicht nur puren Symbolhandlung des Finanzmarktes verkommen? Wie sieht die institutionelle Kontrolle nach dem ESM-Vertrag aus?
Ein Bild am Schluss, dass mich immer wieder abstößt: Bei der Abstimmung im Bundestag zeigen die Abgeordneten in demonstrativer Kindlichkeit das Kärtchen, mit dem sie abstimmen werden. Ihre Wahl ist sofort ersichtlich. Man erfährt unmittelbar, wer mit den Wölfen heult und wer nicht. Wäre es nicht besser, solche grundsätzlichen Dinge in geheimer Abstimmung vorzunehmen? Dann müssten endlich auch die Gegner einmal damit rechnen, dass sie obsiegen und sich nicht nur in ihrer Rolle als eigentlich nicht relevanter Opposition sonnen.
„….so bleibt bei mir – vielleicht zum ersten Mal im Leben – das Gefühl einer unbestimmbaren Furcht vor der Zukunft dessen, was man – technokratisch kühl – Gemeinwesen nennt.“ Ich weiß jetzt nicht, ob ich froh sein soll, dass es Dir genauso geht, dass nicht nur ich ziemlich verunsichert bin. Nur ein Gefühl, sicher, aber ein sehr unangenehmes, denn da ja nichts wirklich erklärt wird, da „Wissenschaftler“ und „Experten“ diametral entgegengesetzte Meinungen vertreten, ist diese Verunsicherung ja kein Wunder.
Die parlamentarische Einheitsfront, das Fehlen einer relevanten Opposition, verstärkt das ungute Gefühl, dass die Politik in den letzten 20 Jahren eine tatsächlich ausweglose Situation angerichtet hat. Auch dies wieder nur Gefühl, denn trotz aller Bemühungen der letzten Jahre, wenigstens rudimentären wirtschaftlichen oder finanztechnischen Sachverstand zu erwerben, kann ich mir keine fundierte Meinung zu den diversen Rettungsmaßnahmen erlauben. Wem soll ich glauben, wenn ich bei der politischen Klasse ähnliche Ahnungslosigkeit vermute und alle milliardenschweren Entscheidungen wohl nur auf die Einflüsterungen interessierter Lobbyisten zurückzuführen sind? Da kann einem wohl zu recht Angst und Bange werden.
Das Bundesverfassungsgericht übernimmt in Deutschland immer wieder Aufgaben, die eigentlich die Demokratie übernehmen müsste, die Direkte Demokratie besser und nachhaltiger übernehmen könnte. Nur sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es gar nicht mehr so wichtig erscheint, wie genau die Entscheidungen aussehen, da es bei ihnen so oder so nur noch darum geht, ob man den Crash noch länger hinauszögert oder ob man den Tatsachen endlich ins Auge sieht und sofort anfängt mit den Restrukturierungen des Staats, der Staaten.
Mich irritiert es, wenn Gegner der EU-Bürokratie oder Leute, die in den Rettungsmassnahmen wohl zurecht ein Loch ohne Boden sehen, als Gegner oder als Feinde von anderen Landsleuten oder Ethnien gesehen werden. Leider scheint mir die Stimmung in Deutschland durchaus manchmal so zu sein.
Erstaunlich sind auch die Reaktionen der Bürger auf die Lage. Es wird schon so lange panisch »die Krise« vermeldet, dass das Ankommen der tatsächlichen Krise mit realen Auswirkungen auf die Bürger gar nicht mehr richtig registriert werden wird. Die Leute sind krisenmüde, ehe die Krise überhaupt begonnen hat (hierzulande).
@blackconti
Es ist bei mir mehr als nur ein Verunsicherungsgefühl. Es geht – gewissermaßen – an die Substanz des Zusammenlebens, wobei es keinen geordneten Übergang gibt, sondern eher das Gegenteil. Die Untersuchen der Gewaltforschung zeigen, wo so etwas hinführen kann. Polemisch gesagt: Einem Krieg kann man ausweichen – notfalls durch Desertion. Dieser Auslieferung entweder an politische Beamte oder ökonomische Blindschleichen hat etwas kafkaeskes.
@Ronnie Grob
Der Aufbau des »Feindbildes« des »Euro(pa)-Gegners« ist womöglich die letzte Möglichkeit, Moral einzufordern. Als Anfang der Woche in der FAZ ein kurzer Artikel, eher eine Meldung, über die finnische Finanzministern zu lesen war, die einen Austritt Finnlands aus dem Euro nicht ganz ausschloß, gab es über 80 Kommentare binnen 24 Stunden dazu. Man merkte den meisten Schreibern an wie erleichtert sie waren, dass ihre Sicht auch einmal von einer anderen Regierung geteilt wurde und nicht sofort als Nationalismus diffamiert werden konnte.
Die Beobachtung, dass die Bürger schon vor dem eigentlichen Ausbruch der Krise ermüdet seien, ist interessant. Ich halte das durchaus für zutreffend, wobei man sich fragen muss, ob durch die ständige Hyperventilation in den Medien dies nicht durchaus beabsichtigt ist. Denke immer an den Kierkegaard-Spruch von der Person, die im Kino dauernd Feueralarm ausruft. Als es dann wirklich brennt, hört niemand mehr auf ihn.
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Es ist angesichts der drängenden Probleme eigenartig und doch längst Gewohnheit geworden, dass europäische Themen von politischer Seite derart argumentfrei »verhandelt« werden. Ich vermag Deiner Analyse, der ich zustimme, kaum etwas hinzuzufügen.
Mich lässt das gleichmütig und abweisend gegenüber Europa – dem, was hier als solches bezeichnet wird – und seiner Krise (welche eigentlich?) werden; ich wende mich anderem zu. Eigentlich schade, ich wäre der Angelegenheit grundsätzlich gar nicht abgeneigt, aber wenn ich zurückblicke, muss ich das feststellen.
Sinn-lose Symbolismen wie »Scheitert der Euro, scheitert Europa« widerlegt man vielleicht am einfachsten, indem man hartnäckig nachfragt: Was ist der Euro? Was ist mit Europa gemeint? Welche Vor- und Nachteile habe ich, wenn Griechenland jetzt mehr oder weniger Geld unter diesen oder jenen Auflagen erhält? Usw. Dann wird wahrscheinlich sehr schnell ersichtlich, dass die verantwortlichen Politiker das selbst nicht wissen. Oder aber es kommen die nächsten Allgemeinplätzchen, wie »das ist schlecht für’s Wirtschaftswachstum«. Aber wahrscheinlich kommt sehr schnell das Killerargument per se: »Das gefährdet Arbeitsplätze.»Da kann man dann eigentlich aufhören, denn auf Fragen wie »Und der Besitz eines Arbeitsplatzes, völlig unabhängig von den Umständen wie den Arbeitsbedingungen, der Bezahlung, der persönlichen Zufriedenheit, ist ein unter allen Bedingungen anzustrebender Zustand?« wird man dann erst recht keine vernünftige Antwort mehr erhalten.
»Europa«, »Arbeitsplätze«, »Wachstum« – die beschwörende Worthülsen nehmen ja in Krisenzeiten geradezu inflationär zu. Das alles sind typische Zeichen für die Konzeptionslosigkeit der handelnden Akteure. Dabei wird natürlich stillschweigend eine bestimmte Konnotation vorausgesetzt. Die genannten Begriffe gelten per se als die Lösung der Probleme, ohne dass man sie auch nur im entferntesten einmal diskutiert hat. Der Streit geht eigentlich nur darum, was darunter zu verstehen ist. Da aber fast jeder »Mitspieler« gewisse Interessen vertritt (auch die angeblich so neutralen angelsächsischen Ökonomen), müsste man diese von der jeweiligen Aussage extrahieren. Hierfür wären Medien eigentlich zuständig.