Das R‑Wort

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 7

Ich ste­he am Reichs­tag, es ist heiß, ich bin auf der Schat­ten­sei­te un­ter den Bäu­men, und ne­ben mir ist ein ganz fri­scher Kol­le­ge, ein Lehr­amtstu­dent mit ei­nem ent­setz­li­chen Re­de­be­dürf­nis. Es ist sein fünf­ter Ar­beits­tag, er hat das be­rühm­te An­fän­ger­glück und ist der Poe­sie die­ses drecki­gen Jobs rest­los ver­fal­len. Aus dem Reichs­tag her­aus wälzt sich die Ram­pe her­un­ter ei­ne Bus­la­dung but­ter­fah­ren­der Se­nio­rin­nen und Se­nio­ren in beige und pa­stell, über­quert un­ter Le­bens­ge­fahr die Schei­de­mann­stra­ße zu uns her­über und mar­schiert wei­ter in Rich­tung Tor. Die müs­sen zum Bus. Als die Grup­pe vor­über ist und der Kol­le­ge mit mir be­spricht, was eben ge­schah, kommt ein Paar her­an.

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Ster­ne be­trach­ten

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 6

Ich muss hier weg. Mein Fahr­zeug schlägt Wur­zeln. In mir macht sich ei­ne Star­re breit. Al­les be­wegt sich, nur ich nicht. Leu­te auf den Frei­trep­pen von Dom und Al­tem Mu­se­um, Leu­te im Lust­gar­ten, Rad­fah­rer, Fuß­gän­ger, Au­tos. Die Am­pel, ein Stun­den­glas. Hal­ten-War­ten-Wei­ter­fah­ren, ge­hen, stol­pern, Bag­gi schie­ben, Tü­ten schlep­pen, Stadt­plan le­sen, Fo­tos ma­chen, al­les be­wegt sich, bloß ich nicht. Ob es mir heu­te so ge­hen wird wie der Kol­le­gin, die neu­lich ins­ge­samt fünf Stun­den an zwei Stand­plät­zen ge­stan­den hat, oh­ne dass ir­gend­wer hät­te ein­stei­gen wol­len, die dar­auf­hin rein­ge­fah­ren und zehn Me­ter vor der Ga­ra­ge von zwei char­man­ten Da­men an­ge­hal­ten wor­den ist und dann mit de­nen drei Stun­den spa­zie­ren fuhr und hin­ter­her zum Es­sen ein­ge­la­den wur­de? Man darf so et­was nicht er­war­ten, so et­was tritt grund­sätz­lich nur un­er­war­tet ein. Ich muss al­so an et­was an­de­res den­ken. Zum Glück sind heu­te die Pan­flö­ten­ter­ro­ri­sten nicht da. Mir fällt, ob ich es will oder nicht, die schwä­bi­sche Fa­mi­lie von vor­hin wie­der ein.

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Das Ge­stern im Heu­te

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 5

Es war En­de Sep­tem­ber 2003 und nass­kal­tes Wet­ter, als mich am Dom ein al­ter, vor­neh­mer Herr an­sprach. Der al­te Herr war groß, hielt sich auf­recht und hat­te ei­nen jun­gen Herrn bei sich, näm­lich sei­nen En­kel­sohn. Beim Ein­stei­gen tat er sich furcht­bar schwer, dul­de­te aber kei­ner­lei Hil­fe­stel­lung, son­dern be­zwang sei­ne Kno­chen mit ei­ser­nem Wil­len. Er sei sehr lan­ge nicht in Ber­lin ge­we­sen, sag­te er, und wol­le nun die Or­te von da­mals auf­su­chen, und ich frag­te: »Wann wa­ren Sie denn zum letz­ten Mal hier?« Be­vor er ant­wor­te­te, ließ er sei­ne Au­gen über Schloß­brücke, Kom­man­dan­tur und Zeug­haus glei­ten wie über Ei­gen­tum: »58 Jah­re ist es her, auf den Tag vor 58 Jah­ren und zwei Mo­na­ten bin ich nach Ar­gen­ti­ni­en emi­griert und seit dem nicht mehr in Deutsch­land ge­we­sen.« Ich sah die­sen al­ten Her­ren vor mei­nem in­ne­ren Au­ge als ei­nen jun­gen im Lie­ge­stuhl auf dem Deck ei­nes Schiffs, hin­ter sich Eu­ro­pa in Trüm­mern, wo in Deutsch­land die Vor­be­rei­tun­gen für die Nürn­ber­ger Pro­zes­se auf Hoch­tou­ren lie­fen, vor sich Ar­gen­ti­ni­en, wo ihn sehr gu­te Kon­tak­te er­war­te­ten, in den Ta­schen ein­wand­freie, von der ka­tho­li­schen Kir­che und dem Ro­ten Kreuz aus­ge­stell­te Pa­pie­re, woll­te es aber nicht glau­ben und fuhr wie ge­hei­ßen zu­nächst zum Wer­der­schen Markt hin­über und dann ei­nen süd­lich aus­ho­len­den Bo­gen zum Pots­da­mer Platz.

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Sport­un­ter­richt

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 4

Ich hat­te da­mals vom li­ba­ne­si­schen Kol­le­gen ge­lernt, dass es hilf­reich und gut ist, die Er­war­tun­gen der Kun­den zu be­stä­ti­gen, denn wer recht hat fühlt sich wohl. Die­se Er­kennt­nis nutz­te ich für ei­ne je­ner Fra­gen, die uns sehr oft ge­stellt wer­den, und die uns nicht amü­sie­ren, näm­lich für die Fra­ge, was man denn sonst noch so tä­te. Da die mei­sten glau­ben, wir al­le tä­ten sonst noch so stu­die­ren, und da vie­le ein schlech­tes Ge­wis­sen we­gen un­se­rer kör­per­li­chen An­stren­gung ha­ben, ent­schied ich kur­zer­hand, mich zum Woh­le der Kund­schaft als Sport­stu­den­tin aus­zu­ge­ben. Und dann stie­gen ei­nen Tag vor dem Ma­ra­thon ei­ne jun­ge Frau En­de Zwan­zig und ihr On­kel bei mir ein. Wir fuh­ren Rich­tung Reichs­tag auf dem Gro­ßen Weg durch den Tier­gar­ten. Wir kreuz­ten die Gro­ße Stern­al­lee, je­ne im Som­mer von aus­la­den­den Bäu­men zu­ge­wach­se­ne Sicht­ach­se auf die Sie­ges­säu­le, als der On­kel frag­te:

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Bür­ger­krieg

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 3

In der Sai­son 2002 hat­ten wir ei­nen ara­bi­schen Kol­le­gen, der aus dem Li­ba­non kam. Da­mals war die Li­ste der At­ten­tä­ter vom 11. Sep­tem­ber noch ganz frisch in den Köp­fen: al­les Ara­ber, ei­ner da­von aus dem Li­ba­non. Aber das war ver­mut­lich nicht das Pro­blem, als wir an ei­nem Sams­tag­mit­tag vorm Ein­gang des Ka­De­We stan­den, wo die Mensch­heit zum Ein­kau­fen wu­sel­te. Der Kol­le­ge saß auf dem halb knie­ho­hen Tritt­brett sei­nes Fahr­zeugs und las Zei­tung, (er war der Letz­te in der Rei­he), und ich sah ein et­was äl­te­res Ehe­paar her­an­kom­men, das mich an Rei­se­ka­ta­lo­ge der Fünf­zi­ger Jah­re er­in­ner­te. Ich sah, wie das Ehe­paar auf ihn zu ging und vor ihm ste­hen blieb. Der Kol­le­ge fal­te­te so­fort die Zei­tung zu­sam­men. Das Ehe­paar re­de­te ihn an mit der Fra­ge: »Wo­her kommst Du?« und zeig­te da­bei mit dem Kinn auf ihn.

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Der 20. Ju­li

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 2

Wir ha­ben 28 Grad, ei­ne hauch­fei­ne Bri­se und ein paar Zier­wölk­chen im Him­mel. Ich ha­be zwei Da­men die Lin­den her­auf­ge­bracht, fah­re durchs Bran­den­bur­ger Tor hin­durch und fin­de den Platz auf der an­de­ren Sei­te, na­ment­lich: den »Platz des 18. März«, (an dem die »Stra­ße des 17. Ju­ni« be­ginnt), ab­ge­sperrt mit rot­wei­ßen Git­tern, hin­ter de­nen al­le fünf Me­ter Po­li­zi­sten und Po­li­zi­stin­nen in schuss­si­che­ren We­sten ste­hen, um die Ab­sper­rung zu si­chern. Un­ter den Bäu­men auf der nord­west­li­chen Sei­te Ein­satz­fahr­zeu­ge der Po­li­zei, eins ne­ben dem an­de­ren, ei­ne Wa­gen­burg ums Ge­löb­nis her­um. Öf­fent­li­ches Ge­löb­nis der Re­kru­ten un­ter Aus­schluss der Öf­fent­lich­keit. Weit­räu­mi­ge Ab­sper­run­gen, Si­cher­heits­zo­nen, Zu­fahr­ten. Von der Ecke Behrenstraße/Ebertstraße, über die nörd­li­che Tier­gar­ten­hälf­te bis zum Bahnof rauf: Al­les dicht.

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Ich ha­be Gün­ter Grass ge­se­hen

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 1

Letz­tes Jahr ha­be ich Gün­ter Grass ge­se­hen, als ich am Pa­ri­ser Platz mit der Rik­scha auf Kund­schaft war­te­te. In Cord­samt ge­klei­det und Pfei­fe rau­chend kam Grass aus der Aka­de­mie der Kün­ste, ging in Rich­tung Un­ter den Lin­den und war da­bei mit ei­nem an­de­ren Herrn tief in ein Ge­spräch in­vol­viert. Grass ging sehr lang­sam, die gei­sti­ge An­stren­gung zwang ihn, hin und wie­der ste­hen zu blei­ben. Wäh­rend sein Ge­sprächs­part­ner an sei­nen Lip­pen hing, hin­gen Grass’ Schul­tern nach un­ten her­ab. Ich er­wog, Grass an­zu­spre­chen: »Herr Grass, darf ich Sie bit­ten, ge­wäh­ren Sie mir die Eh­re, Sie ein Stück des Wegs mit der Rik­scha zu fah­ren?« Grass hät­te dann in ei­ner sol­chen Rik­scha ge­ses­sen, wie sie in der Ver­fil­mung sei­ner Er­zäh­lung »Un­ken­ru­fe« zum Ein­satz ge­kom­men ist, und ich hät­te al­le mei­ne Kol­le­gen in un­se­rem in­ter­nen Pro­mi-Fahr­gast-Wett­be­werb haus­hoch aus­ge­sto­chen. Al­ler­dings wä­ren kon­tro­ver­se Dis­kus­sio­nen mög­lich ge­we­sen an­ge­sichts solch pro­mi­nen­ter Fahr­gä­ste wie ... und ge­ra­de, als ich dies dach­te, blieb Grass, der nun ge­nau auf mei­ner Hö­he war, aber­mals ste­hen.

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Kai­ser­quar­tett

Als Hel­mut Kohl ans Ru­der ge­wählt wur­de, wir wa­ren da­mals so et­wa 17 Jah­re alt, stieg der Trom­pe­ter un­se­rer Schü­ler­band auf das Dach sei­nes Hau­ses und spiel­te das Kai­ser­quar­tett in Moll. Un­se­re Schü­ler­band war die cool­ste Schü­ler­band al­ler Zei­ten, und das Kai­ser­quar­tett in Moll wur­de ein recht­schaf­fe­ner Kat­zen­jam­mer.

Die El­tern des Trom­pe­ters wa­ren bei der ört­li­chen SPD-Ver­an­stal­tung, und wir al­le hat­ten uns des­halb bei ihm ge­trof­fen. Nach der Be­kannt­ga­be des Wahl­er­geb­nis­ses im Fern­se­hen war er ein­fach oh­ne was zu sa­gen in sein Zim­mer rü­ber ge­gan­gen, hat­te die Trom­pe­te ge­nom­men und war aufs Dach ge­stie­gen. Na­tür­lich dach­ten wir zu­erst, dass er aufs Klo oder noch Chips aus der Kü­che ho­len wol­le, aber dann hör­ten wir ihn auf der Trep­pe. Sei­ne klei­ne Schwe­ster schrie so­fort: »Wo gehstn du hin?!!!«.

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