Wel­ten und Zei­ten XXI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mu­sil hat ei­nen gro­ßen Denkauf­wand be­trie­ben, um die Form des Es­says in den Ro­man ein­zu­füh­ren. In Wirk­lich­keit hat­te der Es­say im­mer schon ein Hei­mat­recht in den Ge­fil­den des Ro­mans, denn je­de er­wei­ter­te Re­fle­xi­on ei­ner Fi­gur (z. B. über ihr Han­deln) oder des Au­tors (z. B. über den Text, über Pro­ble­me, die er auf­wirft, oder über ei­ne Fi­gur) nä­hert sich der Form des Es­says. Was sind die gro­ßen re­fle­xi­ven Pas­sa­gen in Tho­mas Manns Zau­ber­berg, des­sen Nie­der­schrift er et­wa gleich­zei­tig mit Mu­sils un­voll­ende­tem Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­gann und – an­ders als Mu­sil den sei­nen – in re­gel­mä­ßi­gem Ar­beits­tem­po mehr oder min­der plan­ge­mäß zu En­de brach­te, an­de­res als Es­says? Auch die Dia­lo­ge ten­die­ren bei Ge­sprächs­part­nern wie Naph­ta und Set­tem­b­ri­ni zum Es­say­is­mus, ein­fach des­halb, weil je­der der bei­den so viel zu sa­gen hat. Nur hat es Tho­mas Mann nie der Mü­he wert ge­fun­den, die es­say­isti­schen Merk­ma­le sei­ner Ro­ma­ne be­son­ders her­vor­zu­he­ben und mit theo­re­ti­schen Er­läu­te­run­gen zu ver­se­hen. Wo­zu auch, er hat­te ge­nug da­mit zu tun, Fi­gu­ren zu schaf­fen und re­den zu las­sen. Auch Mu­sil hat­te ge­nug da­mit zu tun, und viel­leicht wä­re es bes­ser ge­we­sen, er hät­te sich dar­auf be­schränkt. Viel­leicht, viel­leicht nicht. So ist er als Theo­re­ti­ker des Es­say­is­mus be­rühmt ge­wor­den.

Tho­mas Manns Ro­ma­ne sind als Lek­tü­re für alt ge­wor­de­ne Leu­te mit ei­ner lan­gen Le­ser­ge­schich­te be­stens ge­eig­net – vor­aus­ge­setzt, man will noch ein we­nig Le­bens­zeit da­für auf­wen­den. Sol­che Le­ser brau­chen nichts Auf- und An­re­gen­des mehr, wohl aber Bal­sam für ih­re ge­schun­de­nen Ner­ven. Zum Bei­spiel Lot­te in Wei­mar, die­ser es­say­isti­sche Plau­der­ro­man, wo mehr oder min­der un­ge­be­te­ne Be­su­cher ei­nem al­ten Weib­lein die Oh­ren mit ih­ren Pro­blem­chen und Pro­jek­ten, Ent­täu­schun­gen und Be­schwer­den voll­quat­schen – à pro­pos Es­say­is­mus, die gu­te Frau braucht kaum Fra­gen zu stel­len, schon ge­hen die Ser­mo­ne los, je­der und je­de hat sein oder ihr Scherf­lein zur Ge­schich­te vom gro­ßen Mann, sei­ner Ex­zel­lenz, dem Ge­hei­men Rat Goe­the bei­zu­tra­gen. Ein mehr­stim­mi­ger Es­say, ei­ne Ana­ly­se je­ner »Grö­ße«, die Tho­mas Mann so sehr be­gehr­te, de­ren Me­cha­nis­men er er­for­schen woll­te.

Da lob ich mir Kaf­ka, die­sen klein­sten al­ler Schrift­stel­ler, der am lieb­sten ei­nen Bau be­wohnt hät­te. Ei­nen un­ter­ir­di­schen, wohl­ge­merkt: Wir bau­en den Schacht von Ba­bel. Ist noch wer üb­rig von die­sem Wir? Kaf­ka schrieb kei­ne Es­says, das hat­te er nicht nö­tig. Sei­ne Fi­gu­ren plau­dern auch nicht so viel, und meist er­hal­ten sie kei­ne Ant­wort.

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Wel­ten und Zei­ten XX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Wie­so sagt man im Deut­schen ei­gent­lich »Ro­man«, wenn man »Ro­man« meint? War­um nicht »No­vel­le«, no­vel, no­ve­la wie im Eng­li­schen oder Spa­ni­schen? Ei­gent­lich ist es egal, die Spra­che bzw. die Be­deu­tun­gen, mit de­nen in ihr jon­gliert wird, sind so­wie­so ge­prägt durch ih­ren Ge­brauch. Der Ro­man ist in der (ro­ma­ni­schen) Volks­spra­che ge­schrie­ben, und die No­vel­le stellt ei­ne Neu­ig­keit dar. Aber dann be­ginnt erst die Ge­schich­te, und der Ro­man wird das, was er eben ge­wor­den ist und heu­te noch ist. Im Ja­pa­ni­schen ur­sprüng­lich mo­no­ga­ta­ri, in den bei­den Schrift­zei­chen 物語 ver­bin­den sich die Din­ge und das Re­den, al­so ei­gent­lich ist es nur ein Ge­plau­der über dies und das. Die­se De­fi­ni­ti­on trifft recht gut auf das Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri zu, das manch­mal als er­ster Ro­man der Li­te­ra­tur­ge­schich­te be­zeich­net wird (man hat schon so man­chen Ro­man zum »er­sten« er­ko­ren). Heu­te sagt man in Ja­pan eher shou­setsu, 小説, das heißt: klei­ne Er­klä­rung, oder auch klei­ne Er­zäh­lung, Er­klä­run­gen sind ja im­mer auch Er­zäh­lun­gen; je­den­falls steht vor­ne das Zei­chen für »klein« wie bei Kind, 小人, klei­ner Mensch. In al­len die­sen ur­sprüng­li­chen Be­zeich­nun­gen wird der Text­gat­tung Ernst­haf­tig­keit ab­ge­spro­chen, sie ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht er­wach­sen, nicht La­tei­nisch, nicht son­der­lich ge­lehrt. Ei­ne locke­re Form, dient auf je­den Fall der Un­ter­hal­tung. Ich glau­be, das trifft im­mer noch zu. Ei­ne freie Form, man kann, wie ich hier schon mehr­mals sag­te, al­les mög­li­che in sie hin­ein­stop­fen (auch wenn viel­leicht hin­zu­zu­fü­gen ist, daß man da nicht über­trei­ben soll­te: Zu viel ist zu viel, wir brau­chen auch Lücken).

Als ich vor un­ge­fähr zehn Jah­ren Kenzabu­ro Oe be­such­te, nann­te er al­le sei­ne Wer­ke »shou­setsu«, egal ob sie groß oder klein, lang oder kurz, mehr oder we­ni­ger un­ter­halt­sam wa­ren. An­to­nio Ta­buc­chi, ein an­de­rer Mei­ster des Ro­mans, will zwi­schen Er­zäh­lung und Ro­man gar nicht un­ter­schei­den, ob­wohl er dann wie­der be­tont, die Er­zäh­lung be­fol­ge stren­ge Re­geln, für den Ro­man gel­te das nicht. Trotz­dem, er glaubt nicht an die »rei­nen Gen­res«, son­dern an die Ver­mi­schung der Gen­res: Cre­do nella mes­co­lan­za dei ge­ne­ri. Ei­nem um­fang­rei­chen, durch das qua­si ari­sto­te­li­sche 24-Stun­den-Kor­sett müh­sam im Zaum ge­hal­te­nen Ro­man wie dem Ulysses zieht er die Er­zähl­samm­lung Dub­li­ner vor.

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Mit Ernst Jün­ger aus der Kom­fort­zo­ne

Die vor­nehm­li­che Hal­tung des ak­tu­el­len Le­sers der Bü­cher von Ernst Jün­ger in der mo­ral­ge­tränk­ten (li­te­ra­ri­schen) Öf­fent­lich­keit ist ge­beugt, die Lek­tü­re er­folgt vor­zugs­wei­se ver­steckt, das Re­den dar­über flü­sternd, in ste­ti­ger Ab­gren­zung so­wohl ge­gen Be­schimp­fun­gen wie auch un­will­kom­me­nen Um­ar­mun­gen be­grif­fen. In der Ni­sche zwi­schen ei­ner im Brust­ton der Un­kennt­nis vor­ge­brach­ten Ab­leh­nungs­ka­ma­ril­la und leid­li­chen, po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­ein­nah­mun­gen be­fin­det sich der Jün­ger-Re­zi­pi­ent in stän­di­ger Acht­sam­keit. Wer si­cher ge­hen will, liest lie­ber Re­mar­que, Im We­sten nichts Neu­es. Da­bei er­scheint es wie ein Witz, dass Re­mar­que einst die Stahl­ge­wit­ter, je­ne li­te­r­a­ri­sier­te Form der Kriegs­ta­ge­bü­cher des Leut­nants Jün­ger aus dem Er­sten Welt­krieg, als »prä­zi­se, ernst, stark und ge­wal­tig« lob­te und ei­ne »wohl­tu­en­de Sach­lich­keit« her­aus­stell­te. Aber wer weiß das schon? Be­zie­hungs­wei­se: Wer will das wis­sen?

Und dann liest man plötz­lich so et­was:

  • »Ernst Jün­gers Kriegs­ta­ge­bü­cher lie­fern viel­leicht den be­sten und ehr­lich­sten Be­weis für die Schwie­rig­kei­ten, de­nen das In­di­vi­du­um aus­ge­setzt ist, wenn es sei­ne mo­ra­li­schen Wert­vor­stel­lun­gen und sei­nen Wahr­heits­be­griff un­ge­bro­chen in ei­ner Welt er­hal­ten möch­te, in der Wahr­heit und Mo­ral jeg­li­chen er­kenn­ba­ren Aus­druck ver­lo­ren ha­ben. Trotz des un­leug­ba­ren Ein­flus­ses, den Jün­gers frü­he Ar­bei­ten auf be­stimm­te Mit­glie­der der na­zi­sti­schen In­tel­li­genz aus­üb­ten, war er vom er­sten bis zum letz­ten Tag des Re­gimes ein ak­ti­ver Na­zi-Geg­ner und be­wies da­mit, daß der et­was alt­mo­di­sche Ehr­be­griff, der einst im preu­ßi­schen Of­fi­ziers­korps ge­läu­fig war, für in­di­vi­du­el­len Wi­der­stand völ­lig aus­reich­te.«

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Wel­ten und Zei­ten XIX

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Lang­sa­me Heim­kehr wie­der­ge­le­sen, den Ro­man, der sich Er­zäh­lung nennt. Na­tür­lich er­zählt da ei­ner et­was, das ist un­be­strit­ten, und ob es dann zum Ro­man wird . . . ist letzt­lich egal. En fin du comp­te. Am En­de des Ta­ges, wie die der­zeit mo­di­sche Flos­kel lau­tet: Die Me­di­en­spra­che und da­mit die Ge­mein­spra­che, denn al­le sind me­dia­ti­siert, wer­den im­mer flos­kel­haf­ter, rhe­to­ri­scher, Freund­schafts- und Fol­lo­wing-Al­go­rith­men tra­gen viel da­zu bei, auch Emo­jis, im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert hät­te ich mir nicht träu­men las­sen, daß die Rhe­to­rik so mas­siv wie­der­kehrt (und ich mei­ne nicht NLP, neu­ro­lin­gu­istics for po­li­ti­ci­ans, das ist wie­der ein an­de­res Ka­pi­tel).

Egal. En­fin. Lang­sa­me Heim­kehr, egal wel­chem der vier Tei­le, kann ich mich nicht nä­hern, oh­ne an die 1982 ge­se­he­ne Auf­füh­rung von Über die Dör­fer, dem ich glau­be, drit­ten Teil der Te­tra­lo­gie (oder war es der zwei­te?) in der Salz­bur­ger Fel­sen­reit­schu­le zu den­ken, die in mein li­te­ra­ri­sches wie auch bild­li­ches Ge­dächt­nis ein­ge­gan­gen ist. Re­gie Wim Wen­ders, auf der Büh­ne Mar­tin Schwab, Libgart Schwarz, Hand­kes Ex, in der Rol­le der No­va, der Heils­ver­kün­de­rin, be­ein­druckend ernst­haft. Ich war da­mals für so­was emp­fäng­lich. Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum ver­schmäh­te Hand­ke, den ehe­ma­li­gen Pop-Star, der Zeit­geist fand das al­les zu pa­the­tisch. Das gab mir die Mög­lich­keit, für we­nig Geld die Auf­füh­rung gleich noch ein­mal zu se­hen.

No­va spricht da von der Mau­er her­ab ei­nen heid­eg­ge­ria­nisch-nietz­schea­ni­schen Apho­ris­men­cock­tail, der schießt ge­nau­so ins Hirn wie die Ka­ra­wa­nen­mu­sik, die Wen­ders aus­ge­wählt hat. Ach­tung, Kitsch­ver­dacht! Schon für den Ro­man (oder ein­fach: vor dem Ro­man), das er­ste Stück der Lang­sa­me-Heim­kehr-Te­tra­lo­gie, hat­te Hand­ke Heid­eg­ger ge­le­sen. Ist man ein­mal von der Spra­che des Phi­lo­so­phen af­fi­ziert, geht das nicht so schnell ab, und wie soll man ein Buch wie Sein und Zeit le­sen, oh­ne für die Emo­ti­on emp­fäng­lich zu sein, das heißt, oh­ne sich zu öff­nen? Lang­sa­me Heim­kehr, der Ro­man, ist schon ein biß­chen heid­eg­ge­ria­nisch. Und nicht nur des­halb schwer zu le­sen. Be­son­ders am An­fang, aber ei­gent­lich über mehr als die Hälf­te des Buchs hin­weg, bis es end­lich Schwung auf­nimmt, ist die Syn­tax kom­plex, ih­re bild­haft-be­deu­tungs­schwe­re Be­la­stung groß, so daß der Le­ser ge­zwun­gen ist, vie­le Sät­ze zwei­mal und öf­ter zu le­sen.

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Wel­ten und Zei­ten XVIII

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Mut zur Lücke: ei­ne be­lieb­te Wort­fü­gung, oft als Mot­to ver­wen­det. Wie­so man zum Lücken­ma­chen oder ‑las­sen Mut braucht, ist mir zwar nicht ein­sich­tig. Mei­stens wer­den Lücken ein­fach hin­ge­nom­men, un­be­küm­mert oder zäh­ne­knir­schend. Trans­ver­sa­li­tät lebt ge­wis­ser­ma­ßen von Lücken. Man kann sie sich auch als Po­ren vor­stel­len, durch die der Geist at­met. Zu­viel Dich­te be­hin­dert das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen. Text, Tex­tur, Ge­we­be: das mehr von Phi­lo­lo­gen als von Schrift­stel­lern ge­brauch­te Bild ver­weist auf lücken­lo­se Struk­tu­ren. Tex­te, in de­nen / mit de­nen sich at­men läßt, ha­ben Po­ren, oder eben Lücken. Sie sind eher mit ei­ner Hä­kel­ar­beit ver­gleich­bar als mit ei­nem Ge­we­be.

Trotz­dem stre­ben Dich­ter, sol­che von Ge­dich­ten wie auch von Pro­sa, nach Ver­dich­tung, und oft ist ih­nen be­wußt, daß ihr Text bei­des braucht, Lücken und Dich­te: Un­ter- und Über­de­ter­mi­nie­rung. Es gilt, der Bil­der­phan­ta­sie im Kopf des Le­sers Raum zu ih­rer Ent­fal­tung las­sen. Und aus der Spra­che, noch aus der schlich­te­sten For­mu­lie­rung, mehr her­aus­zu­ho­len, als man – und wo­mög­lich der Dich­ter selbst – sich hat träu­men las­sen, daß drin­steckt. Das Ver­brauch­te er­neu­ern, neu be­le­ben. Durch die Po­ren at­men, Luft her­ein­las­sen durch grö­ße­re Öff­nun­gen. Luf­ti­ge Tex­te, so die Hoff­nung, ent­wickeln ei­nen ei­ge­nen Schwung, der den Le­ser mit­nimmt.

Auf das Epos folgt li­te­ra­tur­ge­schicht­lich der Ro­man. Al­te Hy­po­the­se. Der »mo­der­ne Ro­man« ist ein Pleo­nas­mus, in­so­fern der Ro­man mit der Mo­der­ne – der er­sten eu­ro­päi­schen Mo­der­ne, die das Mit­tel­al­ter ab­löst – ent­steht. Ob die hier und da in der x‑ten Mo­der­ne avi­sier­te Wie­der­kehr des Epos nicht bloß ei­ne Bank­rott­erklä­rung des Ro­man­ciers ist, dem die Zü­gel ent­glei­ten? Als Wahl­ja­pa­ner be­zie­he ich un­se­re Iden­ti­tät, so­weit wir halt ei­ne brau­chen, lie­ber aus dem fried­fer­ti­gen Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri – manch­mal als »er­ster Ro­man« ti­tu­liert – als aus Sa­mu­rai-Ge­schich­ten und Bu­shi­do-Bü­chern, die ge­wis­se Zeit­strö­mun­gen und ein­zel­ne Au­toren vor­ge­zo­gen ha­ben, et­wa Yu­ko Mishi­ma in sei­nem mar­tia­li­schen Es­say Son­ne und Stahl. Das Wort »mo­no­ga­ta­ri« wür­de ich am ehe­sten mit »Ge­schich­ten­samm­lung« über­set­zen, in der Art von Boc­c­ac­ci­os De­ca­me­ro­ne oder, viel spä­ter, Goe­thes Un­ter­hal­tun­gen deut­scher Aus­ge­wan­der­ten oder, noch ein­mal spä­ter, Se­balds Die Aus­ge­wan­der­ten. Ver­sucht der Er­zäh­ler, ei­ni­ge oder min­de­stens ei­ne Fi­gur oder ei­nen in der Er­zähl­welt prä­sen­ten Er­zäh­ler über die gan­ze Samm­lung hin­weg bei der Stan­ge zu hal­ten oder, noch bes­ser, des­sen Ent­wick­lung zu zei­gen, er­hält man das, was wir im­mer noch »Ro­man« nen­nen. Doch der Be­griff ist nach hin­ten und nach vor­ne of­fen. Viel­leicht ist der Ro­man noch heu­te nichts an­de­res als ei­ne Ge­schich­ten­samm­lung. Zum Bei­spiel Hand­kes Jahr in der Nie­mands­bucht, als Mär­chen aus­ge­ge­ben und dem Epos zu­nei­gend, ist ganz klar ei­ne sol­che Samm­lung, in wel­cher sie­ben Freun­de ih­re Ge­schich­ten er­zäh­len und die Er­zäh­lun­gen von ei­nem recht prä­sen­ten Er­zäh­ler re-prä­sen­tiert wer­den. Ein Sy­stem von Ge­schich­ten, wür­de ich sa­gen. Ein Sy­stem von nar­ra­ti­ven Pla­ne­ten, die um ein Haupt­ge­stirn krei­sen, das nicht un­be­dingt oder nicht im­mer oder nur in­di­rekt strahlt.

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Das ge­fähr­de­te Ich

Ein Es­say über den Sturm-und-Drang-Li­te­ra­ten Rolf Die­ter Brink­mann

Töteberg/Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau
Töteberg/Vasa: Ich ge­he in ein an­de­res Blau

Fünf­zig Jah­re ist es her, dass Rolf Die­ter Brink­mann im Al­ter von 35 Jah­ren in Lon­don töd­lich ver­un­glück­te, von ei­nem Au­to über­fah­ren, weil, wie es heißt, er die Um­stel­lung auf Rechts­ver­kehr nicht be­rück­sich­tigt hat­te. Jür­gen Theo­bal­dy, ein Schrift­stel­ler-Kol­le­ge (die Be­zeich­nung »Freund« ist bei Brink­mann eher schwie­rig) war da­bei und kein Buch kommt oh­ne die Schil­de­rung des Un­falls durch Theo­bal­dy aus.

Auch die bei­den neu­en Bü­cher ma­chen da kei­ne Aus­nah­me. Da ist zu­nächst ei­ne un­längst er­schie­ne­ne, neue Brink­mann-Bio­gra­fie Ich ge­he in ein an­de­res Blau von Mi­cha­el Tö­te­berg und Alex­an­dra Va­sa. Tö­te­berg ist Film­jour­na­list und lei­te­te lan­ge Jah­re die Agen­tur für Me­di­en­rech­te im Ro­wohlt Ver­lag; Alex­an­dra Va­sa ist Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Der Ti­tel ist ei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­dicht Brink­manns aus den 1970ern mit dem kar­gen Ti­tel Ge­dicht ent­lehnt, wel­ches mit

  • »Wer hat ge­sagt, daß so­was Le­ben
    ist? Ich ge­he in ein
    an­de­res Blau.«

en­det. Pas­send hier­zu wur­de als Co­ver das längst iko­nisch ge­wor­de­ne Fo­to Brink­manns von Gün­ther Knipp blau ein­ge­färbt. Mi­cha­el Tö­te­berg steu­ert auch das Nach­wort zur er­wei­ter­ten Neu­aus­ga­be der Ge­dicht­samm­lung West­wärts 1 & 2 bei, die 1975, kurz vor Brink­manns Tod (ge­kürzt) er­schie­nen war.

Und im Ver­lag An­dre­as Reif­fer er­scheint dem­nächst ein als Zet­tel­ka­sten apo­stro­phier­tes bio­gra­fi­sti­sches Buch des Schrift­stel­lers und Jour­na­li­sten Frank Schä­fer. Man könn­te von ei­nem wei­te­ren Ver­such spre­chen, den To­des­tag als ei­ne Wie­der­be­le­bung von Rolf Die­ter Brink­manns Werk, das der­zeit nur bruch­stück­haft lie­fer­bar ist, zu eta­blie­ren.

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Wel­ten und Zei­ten XVII

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Ge­dich­te von Wil­liam Car­los Wil­liams im Ra­dio, Öster­rei­chi­scher Rund­funk, in ei­ner Sen­dung, die seit acht­zig Jah­ren ih­re Struk­tur und Ge­stalt nicht ver­än­dert hat und die ich schon als Stu­dent gern hör­te. Un­ver­än­dert auch der Ti­tel, ein Schu­bert-Lied zi­tie­rend, al­ter­tüm­lich und, im­mer schon, oh­ne Iro­nie: Du hol­de Kunst. Al­ter­tüm­lich oder bes­ser, mit ei­nem an­de­ren al­ter­tüm­li­chen Wort: zeit­los. Al­so hier Wil­liam Car­los Wil­liams, ein Ge­dicht aus dem All­tag, aus sei­nem Haus, sei­nem Gar­ten, aus ei­ner klei­nen Stadt, aus der Pro­vinz, der Pro­vinz des Men­schen. Spä­ter Ge­dich­te aus und über Pa­ter­son, im Al­ter wur­de so­gar Wil­liams ein we­nig ge­schwät­zig. Zwei­fel­los hat sich Jim Jar­musch für sei­nen wun­der­ba­ren Film Pa­ter­son auch von Wil­liams an­re­gen las­sen. Ge­dich­te schrei­ben, Ge­dich­te hö­ren, Ge­dich­te le­sen – üb­ri­gens auch im Film – ist hier ein Platz ma­chen, Weg­räu­men von Un­er­heb­li­chem, nicht et­wa, um ir­gend­ein We­sent­li­ches ins Au­ge zu fas­sen, son­dern um das, was da ist, die paar Din­ge, mei­ne ei­ge­ne We­nig­keit, ins spär­li­che Wort zu set­zen.

  • Wenn mei­ne Frau schläft
    wenn das Klei­ne und Kath­rin
    wenn sie schla­fen
    und die Son­nen­schei­be flam­mend
    weiß in sei­de­nen Ne­beln
    über schim­mern­den Bäu­men steht
    wenn ich dann in mei­nem Zim­mer, –
    nörd­lich, nackt, gro­tesk
    vor mei­nem Spie­gel tan­ze,
    schwenk mein Hemd mir um den Kopf
    und mir lei­se selbst zu­sin­ge:
    »Ich bin ein­sam, ein­sam,
    und zum Ein­sam­sein ge­bo­ren,
    ein­sam bin ich auf der Hö­he!«
    Wenn ich Ar­me und Ge­sicht,
    Schul­tern, Flan­ken, Hin­tern an mir selbst
    be­wund­re vor den gel­ben Ja­lou­sien, –
    Wer leug­net dann, daß ich hier glück­lich
    und mein gu­ter Haus­geist bin?

Al­so Platz schaf­fen für Be­deu­tung, nicht für gro­ße, son­dern für klei­ne, ge­rin­ge, ver­ein­zel­te Be­deu­tung. Weg mit dem Bla­bla, mit dem Rau­schen, dem Viel-zu-Vie­len, weg mit den Me­di­en (ab­ge­se­hen von Ra­dio und Buch). Kon­text re­du­zie­ren, bis nur ein paar Wör­ter üb­rig­blei­ben, die die Din­ge ih­rer Exi­stenz ver­si­chern, und dich dei­ner. Ei­ne Art von – Ge­nug­tu­ung. Das Wil­liams­sche Ge­dicht tut ge­nau ge­nug.

Und die­sen Ro­man woll­te ich ei­gent­lich gar nicht le­sen: De Vri­endt kehrt heim von Ar­nold Zweig. War­um nicht? Weil mir Ar­nold Zweig, so mein Vor­ur­teil, zu sehr im Fahr­was­ser je­ner da­mals, seit den zwan­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, vor Hit­lers Macht­er­grei­fung und der Emi­gra­ti­on der deut­schen Gei­stes­welt, im Schwan­ge be­find­li­chen, po­li­tisch kor­rek­ten, hu­ma­ni­sti­schen, pa­zi­fi­sti­schen, an­ti­fa­schi­sti­schen Li­te­ra­tur schrieb. Li­on Feucht­wan­ger, Le­on­hard Frank, Erich Ma­ria Re­mar­que. Das Pro­blem mit De Vri­endt kehrt heim ist aber nicht sein Hu­ma­nis­mus oder An­ti­fa­schis­mus (ver­stan­den als Ab­leh­nung von Ge­walt als po­li­ti­schem Mit­tel), son­dern die jour­na­li­sti­sche Mach­art. Li­te­ra­ri­sche Kon­fek­ti­ons­wa­re, ge­schickt ver­fugt. War­um auch nicht? Als ar­mer Schlucker kann ich mir maß­ge­schnei­der­te Kla­mot­ten ja auch nicht lei­sten, war­um soll­te ich von Bü­chern ver­lan­gen, daß sie ex­qui­sit sind? Ex­qui­sit wie was? Wie die Jo­sephs­ro­ma­ne, wo Tho­mas Mann – wie üb­lich – ver­steckt von sich selbst er­zählt. Au­to­fik­ti­on, ist das et­wa bes­ser?

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Wel­ten und Zei­ten XVI

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Ar­son von Lau­ra Freu­den­tha­ler, ei­ne Art Um­welt­sor­ge­pro­sa in Welt­un­ter­gangs­stim­mung. Da und dort, im­mer wie­der, bre­chen Brän­de aus. Wie in der Wirk­lich­keit in Ka­li­for­ni­en, zum Bei­spiel. Was brin­gen sol­che Wald­brän­de für die Li­te­ra­tur, oder um­ge­kehrt: Wie soll der Au­tor ih­rer hab­haft, ih­nen ge­recht wer­den, wenn er sie schon nicht lö­schen kann? Was ver­mag das al­te, kul­tu­rell ge­präg­te Na­tur­ge­fühl ge­gen­über den Feu­ern? Über al­len Wip­feln ist Ruh; über ka­li­for­ni­schen Wip­feln schla­gen die Flam­men zu­sam­men.

Freu­den­tha­ler pflegt un­ter an­de­rem, wie vie­le Au­toren heu­te, ei­nen Es­say­is­mus im Mu­sil­schen Sin­ne, man er­laubt sich gern Ab­schwei­fun­gen – De­fi­ni­ti­on von »Es­sai«: das schwei­fen­de Gen­re –, hier zum Bei­spiel nach Su­ma­tra, über die dor­ti­gen Wald­brän­de. Auch Tho­mas Mann hat das ge­tan, sei­ner­zeit, nur we­ni­ger auf­dring­lich als Mu­sil, nicht so theo­rie­la­stig, nicht zwang­haft-über­höht, son­dern in al­ler Ru­he von der gu­ten Schreib­stu­be aus, sie­he zum Bei­spiel die um­fas­sen­de Welt­erklä­rung, die er im Fe­lix Krull ei­nem ge­wis­sen Pro­fes­sor Kuckuck un­ter­schiebt: Dort geht es nicht bloß um ein paar Aspek­te, nicht nur um die Mög­lich­keit des Welt­un­ter­gangs bzw. des En­des der Erd­ge­schich­te, die­se ist dem Pro­fes­sor so­wie­so ge­wiß; nicht nur das ein­zel­ne Men­schen­le­ben oder die gan­ze Mensch­heit, son­dern der Pla­net Er­de ist wei­ter nichts als ei­ne un­er­heb­li­che Epi­so­de im All. Un­ser klei­he­i­ner Pla­net… Der be­rühm­te Pas­cal­sche Schau­der. Trotz­dem sind die vor­zeit­li­chen Farn­wäl­der, von de­nen letz­te Re­ste im Bo­ta­ni­schen Gar­ten von Lis­sa­bon zu be­sich­ti­gen sind, wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en und all­ge­mein­mensch­li­cher Wert­schät­zung wert. Die Fi­gu­ren und ih­re Be­zie­hun­gen zu­ein­an­der sind nur Hilfs­kon­struk­te, um in­ter­es­san­te Ge­dan­ken aus­zu­füh­ren.

Blei­ben wir bei der ge­gen­wär­ti­gen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Ar­son nennt sich auch gar nicht »Ro­man«, nennt sich über­haupt nicht. Das Buch bie­tet ei­ne Ver­samm­lung von Epi­so­den, Stim­mungs­bil­dern, Frag­men­ten, die hin und wie­der Se­quen­zen bil­den, Sprach­per­len an Mo­tiv­schnü­ren – das Tho­mas Mann-Jahr wirft sei­ne Schat­ten vor­aus – wie Schlaf­lo­sig­keit oder die Wun­de an der Lip­pe, sie wer­den vor­sätz­lich nicht ver­knüpft, son­dern locker auf­ge­fä­delt, so daß kei­ne Strän­ge ent­ste­hen, kei­ne Ge­we­be, son­dern. Hand­lungs­mo­men­te. Auf­pop­pen. Da ist wie­der mal ei­ne Lip­pe auf­ge­platzt. Ein Wald­stück auf­ge­flackert. Edel­pop!

Wei­ter­le­sen ...