Ein hei­te­rer Kul­tur­pes­si­mist

Por­trät des mu­si­schen In­for­ma­ti­kers Pe­ter Reichl

1

Peter Reichl: Homo cyber
Pe­ter Reichl: Ho­mo cy­ber

Ho­mo cy­ber, der ky­ber­ne­ti­sche Mensch. Nicht zu ver­wech­seln mit dem Cy­borg, der ma­schi­nel­le Pro­the­sen in sei­nen Kör­per in­te­griert hat. Frei­lich ten­diert auch der ky­ber­ne­ti­sche Mensch da­zu, sich di­gi­ta­le Ge­rä­te ein­zu­ver­lei­ben. Be­ob­ach­tet man Pas­sa­gie­re in der U‑Bahn, ge­winnt man den Ein­druck, dass sie ihr in­tel­li­gen­tes »Te­le­fon« gar nicht mehr los­las­sen, als könn­ten sie oh­ne es nicht exi­stie­ren.

Ho­mo via­tor, ho­mo lu­dens… Es gab in der Ver­gan­gen­heit noch an­de­re fe­ste Wort­ver­bin­dun­gen mit »ho­mo«. Ho­mo fa­ber – der Ma­cher, Hand­wer­ker, Tech­ni­ker – tritt im gleich­na­mi­gen Ro­man von Max Frisch als In­be­griff des In­ge­nieurs auf. Pe­ter Reichl, der die neue Wort­ver­bin­dung ge­prägt hat und als Buch­ti­tel ver­wen­det, kommt in den bei­den bis­her er­schie­nen Bän­den1 mehr­fach auf Max Frisch und sei­nen In­ge­nieur zu spre­chen. An­schei­nend ha­ben der Ky­ber­ne­ti­ker, der In­for­ma­ti­ker, der Pro­gram­mie­rer, aber auch der ge­mei­ne »User« von Per­so­nal­com­pu­ter und Smart­phone, den In­ge­nieur als Leit­fi­gur der Mo­der­ne ab­ge­löst. Der Ho­mo sa­pi­ens hat sich zum Ho­mo cy­ber ge­wan­delt.

In der bio­gra­phi­schen No­tiz am En­de von Reichls Buch er­fah­ren wir zu un­se­rer Über­ra­schung, dass der Au­tor In­for­ma­tik­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Wien ist. Gut, der Mann hat vie­ler­lei mit­zu­tei­len, und man­ches da­von geht nicht so leicht in ei­nen ma­the­ma­tisch un­ge­bil­de­ten Kopf, ob­wohl da von sehr al­ten, ver­hält­nis­mä­ßig ein­fa­chen Pro­blem­stel­lun­gen die Re­de war. Gleich­zei­tig aber wa­ren in dem Buch Hal­tun­gen aus­ge­drückt, Schluss­fol­ge­run­gen for­mu­liert und Vor­schlä­ge ge­macht, zu de­nen ich selbst auf an­de­ren We­gen ge­langt war, et­wa in dem Buch Pa­ra­si­ten des 21. Jahr­hun­derts. Als di­gi­ta­ler Skep­ti­ker – wie der In­for­ma­tik­pro­fes­sor selbst? – be­schloss ich, mehr dar­über her­aus­zu­fin­den, woll­te aber al­les Goo­geln ver­mei­den.

2

Reichls Bü­ro be­fin­det sich in ei­nem zwei­stöcki­gen con­tai­ner­ar­ti­gen An­nex der Wie­ner Fa­kul­tät für In­for­ma­tik. Das Ge­bäu­de muss dem­nächst wie­der ab­ge­ris­sen wer­den, an sei­ner Stel­le wird dann, wer weiß für wie lan­ge, wie­der ei­ne Bau­lücke sein. Was an Reichls kör­per­li­chen Er­schei­nung zu­nächst auf­fällt, ist der graue, fast wei­ße Rau­sche­bart, da­zu klei­ne, spring­le­ben­di­ge Au­gen hin­ter der ecki­gen Bril­le. Ei­ne ge­wis­se Fül­lig­keit ist nicht zu ver­leug­nen – man könn­te den Mann mit der kräf­ti­gen Stim­me für ei­nen Opern­sän­ger hal­ten, und tat­säch­lich wä­re er in jun­gen Jah­ren fast ein sol­cher ge­wor­den. Auf den Ar­beits­ti­schen ste­hen klei­ne, al­ter­tüm­li­che Re­chen­ma­schi­nen, wie ich sie von Ab­lich­tun­gen in den bei­den Bü­chern ken­ne. Reichl liebt es, auf die Früh­ge­schich­te der In­for­ma­tik hin­zu­wei­sen, de­ren Be­ginn man et­wa 1623 an­set­zen kann. In die­sem Jahr er­fand der deut­sche Ge­lehr­te Wil­helm Schickard ei­ne Re­chen­ma­schi­ne, mit der man viel­stel­li­ge Zah­len ad­die­ren, sub­tra­hie­ren und mul­ti­pli­zie­ren konn­te.

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  1. Homo cyber, bisher 2 Bände, erschienen im Salzburger Verlag Müry Salzmann 2023 bzw. 2024

Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 2

← Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 1

Ich möch­te der er­sten, heil­los un­voll­stän­di­gen Li­ste der Au­to­ma­ti­sie­run­gen ei­ne ganz an­de­re ge­gen­über­stel­len, die Li­ste der mensch­li­chen Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, so­weit sie nicht von Ma­schi­nen über­nom­men wer­den kön­nen, die al­so die Men­schen im Ver­gleich zur Ma­schi­ne aus­zeich­nen. Frü­her ha­ben Phi­lo­so­phen gern Mensch und Tier ver­gli­chen, um zu Aus­sa­gen über die Spe­zi­fik des er­ste­ren zu ge­lan­gen. Im 21. Jahr­hun­dert scheint es er­gie­bi­ger, den Men­schen mit der in­tel­li­gen­ten Ma­schi­ne zu ver­glei­chen. Und nicht nur er­gie­bi­ger – für mich als al­ten Hu­ma­ni­sten – old school, was will ich ma­chen – geht es vor al­lem dar­um, wel­che Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, et­wa durch die Be­quem­lich­keits­wir­kung des In­ter­nets und vor al­lem des Smart­phones, be­droht sein könn­ten und be­wahrt wer­den soll­ten. Ei­ne Zeit­lang, es ist schon ei­ni­ge Jah­re her, hat­te ich in Kants Kri­ti­ken ge­le­sen, weil ich dach­te, dort wä­ren un­se­re hu­ma­nen Ei­gen­schaf­ten auf­ge­li­stet, aber das hat mich nicht viel wei­ter ge­bracht – viel­leicht hat mir das dau­ern­de kan­ti­sche Ab­lei­ten- und Be­grün­den­müs­sen von Sät­zen den Über­blick ge­trübt. An­de­rer­seits glaubt oh­ne­hin je­der Mensch, we­nig­stens un­ge­fähr zu wis­sen, was ihn als Men­schen denn aus­macht. Ein kürz­lich er­schie­ne­nes Buch, Mensch­lich­keit von Jür­gen Gold­stein, ver­spricht, die Be­son­der­hei­ten zu­sam­men­zu­fas­sen, aber es sag­te mir nicht viel Neu­es: Re­nais­sance, Eras­mus, Mon­tai­gne (den ich halb aus­wen­dig kann), Auf­klä­rung, das al­les hat­te ich im sel­ben Sche­ma schon vor fünf­zig Jah­ren ge­lernt und ei­ni­ger­ma­ßen be­hal­ten. Auch daß Bio­lo­gis­mus und Ras­sis­mus und vor al­lem, wie Hit­ler und die Sei­nen die­se »Dis­zi­pli­nen« in die Tat um­setz­ten, das Ge­gen­teil von Hu­ma­nis­mus be­deu­tet. In­ter­es­sant in Gold­steins Buch sind al­ler­dings die spä­ten Ka­pi­tel über neue­re Be­stre­bun­gen, das Hu­ma­ne zu »über­win­den«. Tech­nik­chau­vi­nis­mus und An­ti- oder Post­hu­ma­nis­mus grei­fen da in­ein­an­der. Aber sonst? Was ist ei­gent­lich das Hu­ma­ne, und wie kann, wie soll es fort­be­stehen? Läßt es sich auf­li­sten? Muß es not­ge­drun­gen hy­brid, tech­no­id wer­den?

Ei­ne Ord­nung wer­de ich wohl nie in mei­ne Ah­nun­gen brin­gen kön­nen, da­zu be­darf es ei­nes sy­ste­ma­ti­sche­ren Gei­stes. Es wird bis auf wei­te­res bei ei­nem Brain­stor­ming blei­ben, das sich viel­leicht suk­zes­si­ve aus­wei­ten läßt. Fen­ster auf, Sturm im Kopf, die Blät­ter ra­scheln. Mehr als ein sol­ches Blät­ter­ra­scheln brin­ge ich nicht zu­stan­de. Kei­ne Hier­ar­chien. Man könn­te das An­ge­weh­te we­nig­stens al­pha­be­tisch ord­nen. Aber wo­zu?

Wir sind die Un­be­re­chen­ba­ren. Die­se Aus­sa­ge soll­te schon mal nicht am An­fang ste­hen son­dern am En­de, ei­ne Art Re­sü­mee. Un­se­re »Ap­pli­ka­tio­nen« – was auf deutsch nichts an­de­res heißt als: un­se­re An­wen­dun­gen (von Tech­no­lo­gie) – le­sen uns, be­rech­nen uns, rech­nen uns aus, sa­gen uns vor­her. Die Tech­no­lo­gie­kon­zer­ne stel­len uns, na­tür­lich nicht oh­ne Pro­fit­in­ter­es­se, Ko­pi­lo­ten, Ge­sprächs­part­ner, Die­ner, Freun­de, Seel­sor­ger zur Sei­te, das al­les in ei­ner Per­son, Ein­sam­keit ist aus der Welt ge­schafft, je­der­mann und je­de­frau geht in ste­ter Be­glei­tung durchs Le­ben, wie man in je­dem be­lie­bi­gen öf­fent­li­chen Raum be­ob­ach­ten kann.

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Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 1

Si­sy­phos stirbt nicht, er kehrt im­mer wie­der zu­rück. Und wir keh­ren zu ihm zu­rück. »Oh­ne sein sinn­lo­ses Dra­ma wä­re das Le­ben sinn­los«, be­haup­te­te der me­xi­ka­ni­sche Dich­ter Jo­sé Emi­lio Pach­e­co einst. In­mit­ten all der Hy­pes, die über un­se­re Dis­plays rau­schen, mel­det sich das al­te Ge­fühl des Ab­sur­den zu­rück.

Si­sy­phos im Ma­schi­nen­raum ist kein Ro­man, auch als Es­say wür­de ich das Buch nicht be­zeich­nen. Die Ver­fas­se­rin, Mar­ti­na Heß­ler, ist Pro­fes­so­rin für Tech­nik­ge­schich­te, und sie stellt kei­ne li­te­ra­ri­schen An­sprü­che. Den­noch be­zieht sie sich am En­de ih­res Buchs, und auch am An­fang, auf Al­bert Ca­mus, und zwar auf des­sen Vor­stel­lung ei­nes glück­li­chen Si­sy­phos, der die Ab­sur­di­tät sei­nes Tuns – ei­nen Stein auf ei­nen Berg­gip­fel rol­len – ak­zep­tiert, mit sei­nem Schick­sal al­so ein­ver­stan­den ist. Heß­ler meint, Si­sy­phos könn­te den Stein doch ein­fach mal lie­gen las­sen. Das heißt, im zeit­ge­nös­si­schen Kon­text, die Tech­no­lo­gien nicht im­mer wei­ter­trei­ben, Un­zu­läng­lich­kei­ten ak­zep­tie­ren, so­wohl auf­sei­ten der Ma­schi­nen als auch auf­sei­ten der Men­schen.

Heß­ler fo­kus­siert stark auf Feh­ler­haf­tig­keit. Das ge­hört nun mal zu aka­de­mi­schen Stu­di­en, man muß sein For­schungs­feld ge­nau ein­gren­zen, De­fi­ni­tio­nen lie­fern, mög­lichst er­schöp­fen­de Dar­stel­lun­gen des Ge­gen­stands. Daß Tech­ni­ken und Tech­no­lo­gien ih­re ei­ge­ne Ent­wick­lungs­lo­gik ha­ben, un­ab­hän­gig von Feh­lern und Re­pa­ra­tu­ren, weiß sie wohl, macht es aber kaum gel­tend. Of­fen ge­stan­den, mir scheint die Fi­gur des Si­sy­phos für die Tech­nik­ge­schich­te und letzt­lich für al­le an­de­ren Ge­schich­ten nicht recht pas­send; sie scheint auch nicht pas­send für die Le­bens­not­wen­dig­keit ka­pi­ta­li­sti­scher Ge­sell­schafts­sy­ste­me, Pro­fi­te zu ma­xi­mie­ren. Oh­ne Stei­ge­rung gibt es hier (an­geb­lich) kei­ne wirt­schaft­li­che Exi­stenz. Da­her die Schwie­rig­keit, bei schrump­fen­der und al­tern­der Be­völ­ke­rung wie et­wa in Ja­pan das Sy­stem lang­sam zu­rück­zu­fah­ren, oh­ne es als Gan­zes ins Tru­deln zu brin­gen.

Die Au­torin zeigt sich skep­tisch ge­gen­über der Idee ei­nes kon­ti­nu­ier­li­chen Fort­schritts, und wer wür­de sol­che Skep­sis heu­te, am En­de des er­sten Vier­tels des 21. Jahr­hun­derts und rück­blickend auf das zwan­zig­ste, nicht tei­len. Aber die Men­schen als Ak­teu­re und Op­fer der Ge­schich­te, die sie gleich­zei­tig »ma­chen«, rol­len nicht im­mer den­sel­ben Stein auf im­mer den­sel­ben Berg. Sie än­dern ih­re Werk­zeu­ge und än­dern da­mit auch ih­re Um­welt, nicht zwangs­läu­fig zum Bes­se­ren, oft auch zum Schlech­te­ren; sie schaf­fen groß­ar­ti­ge Din­ge und rich­ten un­ge­heu­res Leid an – von bei­dem singt das 20. Jahr­hun­dert ein Lied, das im 21. lei­der nicht ver­klun­gen ist. Viel­leicht ist es bes­ser, auf über­lie­fer­te Sinn­stif­tungs­quel­len zu ver­zich­ten und ein­fach so wei­ter­zu­ma­chen, oh­ne Sinn und Zweck, dem Le­bens­trieb fol­gend.

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Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Peter Trawny: Aschenplätze
Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Char­lie Brown, Li­nus und Lu­cie lie­gen auf ei­nem klei­nen Hü­gel und schau­en in die Wol­ken. Wenn man sei­ne Vor­stel­lungs­kraft be­mü­he, kön­ne man, so Lu­cie, ei­ni­ges in den Wol­ken­ge­bil­den er­ken­nen. Li­nus sieht dann in ei­ner Wol­ke die Land­kar­te von Bri­tisch Hon­du­ras1. Ei­ne an­de­re äh­ne­le dem Pro­fi von Pa­blo Pi­cas­so. Und da­hin­ter dann er­kennt er die Stei­ni­gung des Hei­li­gen Ste­pha­nus mit dem Apo­stel Pau­lus. Lu­cie lobt ihn und fragt Char­lie Brown, was er so se­he. Er woll­te was von Schäf­chen und Pferd­chen sa­gen, aber er las­se es dann lie­ber sein, meint er leicht re­si­gniert.

Mir geht es wie Char­lie Brown, ich be­trach­te Pe­ter Traw­nys Aschen­plät­ze und woll­te et­was über die Un­ter­schie­de zwi­schen Au­to­bio­gra­phie und Au­to­fik­ti­on und den Au­then­ti­zi­täts­fe­tisch des Feuil­le­tons schrei­ben, aber ich las­se das. Denn es gibt es sehr gu­te, un­ter­schied­li­che und doch sich er­gän­zen­de Be­trach­tun­gen über die­ses Buch von Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra und Mi­cha­el Chig­hel. Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra lobt »Kraft, Ent­schlos­sen­heit und Über­win­dung« des Au­tors, das Chan­gie­ren zwi­schen Au­to­bio­gra­phi­schem und Phi­lo­so­phi­schem. Mi­cha­el Chig­hel de­kla­riert es als ein jü­di­sches Buch, de­chif­friert die ver­wen­de­ten Pseud­ony­me der Ge­lieb­ten aus der jü­disch-my­sti­schen Kosmo­go­nie und fragt sich, ob Traw­ny nicht zu weit ge­he in sei­ner Ad­ap­ti­on des Ju­den­tums. Was kann ich die­sen bei­den stu­pen­den Deu­tun­gen noch hin­zu­fü­gen?

Ver­set­ze ich mich kurz in mein kauf­män­nisch ge­präg­tes, be­ruf­li­ches Um­feld (ich ver­ließ es 2015), so bin ich si­cher, dass Pe­ter Traw­ny dort weit­ge­hend un­be­kannt ist. Phi­lo­so­phie galt (und gilt) in die­sem Mi­lieu ma­xi­mal als Stecken­pferd und wird al­len­falls von fin­di­gen Fi­gu­ren, die sich »Coa­ches« nen­nen, als Stein­bruch für Ma­na­ger­se­mi­na­re aus­ge­schlach­tet, die schlag­wort­haf­te Ka­cheln mit (mo­ra­lisch da­her­kom­men­den) Hand­lungs­an­wei­sun­gen kon­stru­ie­ren, um Hil­fe­stel­lun­gen bei der Un­ter­schei­dung von Gut und Bö­se zu ge­ben. Die Fra­ge, die sich al­so stellt, ist die nach dem Pu­bli­kum für ei­ne Au­to­bio­gra­phie ei­nes Phi­lo­so­phen, der sich schwer­punkt­mä­ßig vor al­lem mit Mar­tin Heid­eg­ger, Fried­rich Nietz­sche und, im­mer wie­der, Ge­org Fried­rich Wil­helm He­gel be­fasst (die Phä­no­me­no­lo­gie des Gei­stes nennt Traw­ny »ei­ne Art phi­lo­so­phi­scher Bil­dungs­ro­man«) und da­mit, wie es im Wirt­schafts­deutsch heißt, ei­ne »Ni­sche be­dient«.

Der die­sen Leu­ten ver­mut­lich schwer ver­mit­tel­ba­re Clou die­ses Bu­ches be­steht dar­in, über den Um­weg (auto-)biographischer Schil­de­run­gen ei­ne Chan­ce zu phi­lo­so­phi­schen Zu­gän­gen jen­seits von Glücks­keks­weis­hei­ten zu er­hal­ten. Man könn­te al­so bei der Lek­tü­re so tun, als sei ›Pe­ter Traw­ny‹ ei­ne fik­ti­ve Fi­gur. Die schreibt über ihr Le­ben, ver­knüpft je­doch Bio­gra­phie mit phi­lo­so­phi­schen Pro­blem­stel­lun­gen. Das führt bis­wei­len zu Wi­der­sprü­chen, die kei­ne sind, weil den Er­kennt­nis­sen fort­lau­fen­de Er­fah­run­gen zu Grun­de lie­gen, die ein­sti­ge Ur­tei­le nicht re­vi­die­ren, son­dern wei­ter ent­wickeln oder er­gän­zen. Stel­len­wei­se mün­den sei­ne Er­leb­nis­se in aus­ufern­de Schil­de­run­gen, die bis­wei­len wie Recht­fer­ti­gun­gen klin­gen, mehr her­aus­ge­ar­bei­tet als er­zählt wer­den. Traw­ny ist das be­wusst, er sei kein Dich­ter, schreibt er und spä­te­stens hier be­kommt die Les­art als Fik­ti­on Ris­se. Im­mer­hin ge­lin­gen im­mer wie­der ge­lun­ge­ne (au­ßer­phi­lo­so­phi­sche) Bil­der, et­wa über die Er­leb­nis­se un­ter Ta­ge oder über die Mu­sik- und Kunst­sze­ne um Wan­ne-Eickel der Sieb­zi­ger­jah­re, über die er mit weh­mü­ti­ger Sym­pa­thie rä­so­niert.

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  1. Der Film entstand 1969 - das Land heißt heute Belize 

Wel­ten und Zei­ten XXI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mu­sil hat ei­nen gro­ßen Denkauf­wand be­trie­ben, um die Form des Es­says in den Ro­man ein­zu­füh­ren. In Wirk­lich­keit hat­te der Es­say im­mer schon ein Hei­mat­recht in den Ge­fil­den des Ro­mans, denn je­de er­wei­ter­te Re­fle­xi­on ei­ner Fi­gur (z. B. über ihr Han­deln) oder des Au­tors (z. B. über den Text, über Pro­ble­me, die er auf­wirft, oder über ei­ne Fi­gur) nä­hert sich der Form des Es­says. Was sind die gro­ßen re­fle­xi­ven Pas­sa­gen in Tho­mas Manns Zau­ber­berg, des­sen Nie­der­schrift er et­wa gleich­zei­tig mit Mu­sils un­voll­ende­tem Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­gann und – an­ders als Mu­sil den sei­nen – in re­gel­mä­ßi­gem Ar­beits­tem­po mehr oder min­der plan­ge­mäß zu En­de brach­te, an­de­res als Es­says? Auch die Dia­lo­ge ten­die­ren bei Ge­sprächs­part­nern wie Naph­ta und Set­tem­b­ri­ni zum Es­say­is­mus, ein­fach des­halb, weil je­der der bei­den so viel zu sa­gen hat. Nur hat es Tho­mas Mann nie der Mü­he wert ge­fun­den, die es­say­isti­schen Merk­ma­le sei­ner Ro­ma­ne be­son­ders her­vor­zu­he­ben und mit theo­re­ti­schen Er­läu­te­run­gen zu ver­se­hen. Wo­zu auch, er hat­te ge­nug da­mit zu tun, Fi­gu­ren zu schaf­fen und re­den zu las­sen. Auch Mu­sil hat­te ge­nug da­mit zu tun, und viel­leicht wä­re es bes­ser ge­we­sen, er hät­te sich dar­auf be­schränkt. Viel­leicht, viel­leicht nicht. So ist er als Theo­re­ti­ker des Es­say­is­mus be­rühmt ge­wor­den.

Tho­mas Manns Ro­ma­ne sind als Lek­tü­re für alt ge­wor­de­ne Leu­te mit ei­ner lan­gen Le­ser­ge­schich­te be­stens ge­eig­net – vor­aus­ge­setzt, man will noch ein we­nig Le­bens­zeit da­für auf­wen­den. Sol­che Le­ser brau­chen nichts Auf- und An­re­gen­des mehr, wohl aber Bal­sam für ih­re ge­schun­de­nen Ner­ven. Zum Bei­spiel Lot­te in Wei­mar, die­ser es­say­isti­sche Plau­der­ro­man, wo mehr oder min­der un­ge­be­te­ne Be­su­cher ei­nem al­ten Weib­lein die Oh­ren mit ih­ren Pro­blem­chen und Pro­jek­ten, Ent­täu­schun­gen und Be­schwer­den voll­quat­schen – à pro­pos Es­say­is­mus, die gu­te Frau braucht kaum Fra­gen zu stel­len, schon ge­hen die Ser­mo­ne los, je­der und je­de hat sein oder ihr Scherf­lein zur Ge­schich­te vom gro­ßen Mann, sei­ner Ex­zel­lenz, dem Ge­hei­men Rat Goe­the bei­zu­tra­gen. Ein mehr­stim­mi­ger Es­say, ei­ne Ana­ly­se je­ner »Grö­ße«, die Tho­mas Mann so sehr be­gehr­te, de­ren Me­cha­nis­men er er­for­schen woll­te.

Da lob ich mir Kaf­ka, die­sen klein­sten al­ler Schrift­stel­ler, der am lieb­sten ei­nen Bau be­wohnt hät­te. Ei­nen un­ter­ir­di­schen, wohl­ge­merkt: Wir bau­en den Schacht von Ba­bel. Ist noch wer üb­rig von die­sem Wir? Kaf­ka schrieb kei­ne Es­says, das hat­te er nicht nö­tig. Sei­ne Fi­gu­ren plau­dern auch nicht so viel, und meist er­hal­ten sie kei­ne Ant­wort.

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Wel­ten und Zei­ten XX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Wie­so sagt man im Deut­schen ei­gent­lich »Ro­man«, wenn man »Ro­man« meint? War­um nicht »No­vel­le«, no­vel, no­ve­la wie im Eng­li­schen oder Spa­ni­schen? Ei­gent­lich ist es egal, die Spra­che bzw. die Be­deu­tun­gen, mit de­nen in ihr jon­gliert wird, sind so­wie­so ge­prägt durch ih­ren Ge­brauch. Der Ro­man ist in der (ro­ma­ni­schen) Volks­spra­che ge­schrie­ben, und die No­vel­le stellt ei­ne Neu­ig­keit dar. Aber dann be­ginnt erst die Ge­schich­te, und der Ro­man wird das, was er eben ge­wor­den ist und heu­te noch ist. Im Ja­pa­ni­schen ur­sprüng­lich mo­no­ga­ta­ri, in den bei­den Schrift­zei­chen 物語 ver­bin­den sich die Din­ge und das Re­den, al­so ei­gent­lich ist es nur ein Ge­plau­der über dies und das. Die­se De­fi­ni­ti­on trifft recht gut auf das Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri zu, das manch­mal als er­ster Ro­man der Li­te­ra­tur­ge­schich­te be­zeich­net wird (man hat schon so man­chen Ro­man zum »er­sten« er­ko­ren). Heu­te sagt man in Ja­pan eher shou­setsu, 小説, das heißt: klei­ne Er­klä­rung, oder auch klei­ne Er­zäh­lung, Er­klä­run­gen sind ja im­mer auch Er­zäh­lun­gen; je­den­falls steht vor­ne das Zei­chen für »klein« wie bei Kind, 小人, klei­ner Mensch. In al­len die­sen ur­sprüng­li­chen Be­zeich­nun­gen wird der Text­gat­tung Ernst­haf­tig­keit ab­ge­spro­chen, sie ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht er­wach­sen, nicht La­tei­nisch, nicht son­der­lich ge­lehrt. Ei­ne locke­re Form, dient auf je­den Fall der Un­ter­hal­tung. Ich glau­be, das trifft im­mer noch zu. Ei­ne freie Form, man kann, wie ich hier schon mehr­mals sag­te, al­les mög­li­che in sie hin­ein­stop­fen (auch wenn viel­leicht hin­zu­zu­fü­gen ist, daß man da nicht über­trei­ben soll­te: Zu viel ist zu viel, wir brau­chen auch Lücken).

Als ich vor un­ge­fähr zehn Jah­ren Kenzabu­ro Oe be­such­te, nann­te er al­le sei­ne Wer­ke »shou­setsu«, egal ob sie groß oder klein, lang oder kurz, mehr oder we­ni­ger un­ter­halt­sam wa­ren. An­to­nio Ta­buc­chi, ein an­de­rer Mei­ster des Ro­mans, will zwi­schen Er­zäh­lung und Ro­man gar nicht un­ter­schei­den, ob­wohl er dann wie­der be­tont, die Er­zäh­lung be­fol­ge stren­ge Re­geln, für den Ro­man gel­te das nicht. Trotz­dem, er glaubt nicht an die »rei­nen Gen­res«, son­dern an die Ver­mi­schung der Gen­res: Cre­do nella mes­co­lan­za dei ge­ne­ri. Ei­nem um­fang­rei­chen, durch das qua­si ari­sto­te­li­sche 24-Stun­den-Kor­sett müh­sam im Zaum ge­hal­te­nen Ro­man wie dem Ulysses zieht er die Er­zähl­samm­lung Dub­li­ner vor.

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Mit Ernst Jün­ger aus der Kom­fort­zo­ne

Die vor­nehm­li­che Hal­tung des ak­tu­el­len Le­sers der Bü­cher von Ernst Jün­ger in der mo­ral­ge­tränk­ten (li­te­ra­ri­schen) Öf­fent­lich­keit ist ge­beugt, die Lek­tü­re er­folgt vor­zugs­wei­se ver­steckt, das Re­den dar­über flü­sternd, in ste­ti­ger Ab­gren­zung so­wohl ge­gen Be­schimp­fun­gen wie auch un­will­kom­me­nen Um­ar­mun­gen be­grif­fen. In der Ni­sche zwi­schen ei­ner im Brust­ton der Un­kennt­nis vor­ge­brach­ten Ab­leh­nungs­ka­ma­ril­la und leid­li­chen, po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­ein­nah­mun­gen be­fin­det sich der Jün­ger-Re­zi­pi­ent in stän­di­ger Acht­sam­keit. Wer si­cher ge­hen will, liest lie­ber Re­mar­que, Im We­sten nichts Neu­es. Da­bei er­scheint es wie ein Witz, dass Re­mar­que einst die Stahl­ge­wit­ter, je­ne li­te­r­a­ri­sier­te Form der Kriegs­ta­ge­bü­cher des Leut­nants Jün­ger aus dem Er­sten Welt­krieg, als »prä­zi­se, ernst, stark und ge­wal­tig« lob­te und ei­ne »wohl­tu­en­de Sach­lich­keit« her­aus­stell­te. Aber wer weiß das schon? Be­zie­hungs­wei­se: Wer will das wis­sen?

Und dann liest man plötz­lich so et­was:

  • »Ernst Jün­gers Kriegs­ta­ge­bü­cher lie­fern viel­leicht den be­sten und ehr­lich­sten Be­weis für die Schwie­rig­kei­ten, de­nen das In­di­vi­du­um aus­ge­setzt ist, wenn es sei­ne mo­ra­li­schen Wert­vor­stel­lun­gen und sei­nen Wahr­heits­be­griff un­ge­bro­chen in ei­ner Welt er­hal­ten möch­te, in der Wahr­heit und Mo­ral jeg­li­chen er­kenn­ba­ren Aus­druck ver­lo­ren ha­ben. Trotz des un­leug­ba­ren Ein­flus­ses, den Jün­gers frü­he Ar­bei­ten auf be­stimm­te Mit­glie­der der na­zi­sti­schen In­tel­li­genz aus­üb­ten, war er vom er­sten bis zum letz­ten Tag des Re­gimes ein ak­ti­ver Na­zi-Geg­ner und be­wies da­mit, daß der et­was alt­mo­di­sche Ehr­be­griff, der einst im preu­ßi­schen Of­fi­ziers­korps ge­läu­fig war, für in­di­vi­du­el­len Wi­der­stand völ­lig aus­reich­te.«

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Wel­ten und Zei­ten XIX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Lang­sa­me Heim­kehr wie­der­ge­le­sen, den Ro­man, der sich Er­zäh­lung nennt. Na­tür­lich er­zählt da ei­ner et­was, das ist un­be­strit­ten, und ob es dann zum Ro­man wird . . . ist letzt­lich egal. En fin du comp­te. Am En­de des Ta­ges, wie die der­zeit mo­di­sche Flos­kel lau­tet: Die Me­di­en­spra­che und da­mit die Ge­mein­spra­che, denn al­le sind me­dia­ti­siert, wer­den im­mer flos­kel­haf­ter, rhe­to­ri­scher, Freund­schafts- und Fol­lo­wing-Al­go­rith­men tra­gen viel da­zu bei, auch Emo­jis, im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert hät­te ich mir nicht träu­men las­sen, daß die Rhe­to­rik so mas­siv wie­der­kehrt (und ich mei­ne nicht NLP, neu­ro­lin­gu­istics for po­li­ti­ci­ans, das ist wie­der ein an­de­res Ka­pi­tel).

Egal. En­fin. Lang­sa­me Heim­kehr, egal wel­chem der vier Tei­le, kann ich mich nicht nä­hern, oh­ne an die 1982 ge­se­he­ne Auf­füh­rung von Über die Dör­fer, dem ich glau­be, drit­ten Teil der Te­tra­lo­gie (oder war es der zwei­te?) in der Salz­bur­ger Fel­sen­reit­schu­le zu den­ken, die in mein li­te­ra­ri­sches wie auch bild­li­ches Ge­dächt­nis ein­ge­gan­gen ist. Re­gie Wim Wen­ders, auf der Büh­ne Mar­tin Schwab, Libgart Schwarz, Hand­kes Ex, in der Rol­le der No­va, der Heils­ver­kün­de­rin, be­ein­druckend ernst­haft. Ich war da­mals für so­was emp­fäng­lich. Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum ver­schmäh­te Hand­ke, den ehe­ma­li­gen Pop-Star, der Zeit­geist fand das al­les zu pa­the­tisch. Das gab mir die Mög­lich­keit, für we­nig Geld die Auf­füh­rung gleich noch ein­mal zu se­hen.

No­va spricht da von der Mau­er her­ab ei­nen heid­eg­ge­ria­nisch-nietz­schea­ni­schen Apho­ris­men­cock­tail, der schießt ge­nau­so ins Hirn wie die Ka­ra­wa­nen­mu­sik, die Wen­ders aus­ge­wählt hat. Ach­tung, Kitsch­ver­dacht! Schon für den Ro­man (oder ein­fach: vor dem Ro­man), das er­ste Stück der Lang­sa­me-Heim­kehr-Te­tra­lo­gie, hat­te Hand­ke Heid­eg­ger ge­le­sen. Ist man ein­mal von der Spra­che des Phi­lo­so­phen af­fi­ziert, geht das nicht so schnell ab, und wie soll man ein Buch wie Sein und Zeit le­sen, oh­ne für die Emo­ti­on emp­fäng­lich zu sein, das heißt, oh­ne sich zu öff­nen? Lang­sa­me Heim­kehr, der Ro­man, ist schon ein biß­chen heid­eg­ge­ria­nisch. Und nicht nur des­halb schwer zu le­sen. Be­son­ders am An­fang, aber ei­gent­lich über mehr als die Hälf­te des Buchs hin­weg, bis es end­lich Schwung auf­nimmt, ist die Syn­tax kom­plex, ih­re bild­haft-be­deu­tungs­schwe­re Be­la­stung groß, so daß der Le­ser ge­zwun­gen ist, vie­le Sät­ze zwei­mal und öf­ter zu le­sen.

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