Bucheli vs Weidermann – der Ausgang steht leider fest.
Als ich Roman Buchelis Artikel »Ein Leben nach dem Papier« über die »Literaturkritik unter Druck« vor einigen Wochen las, überlegte ich mir, ob es eine Reaktion aus dem Feuilleton geben wird. Im Allgemeinen reagiert das etablierte Feuilleton auf Kritik mit der wirkungsvollsten Waffe, die man zur Verfügung hat: Man ignoriert sie. Der allseits so beschworene Diskurs gilt nur in einem hermetischen Raum. Selbstreflexion ist dort eher nicht vorgesehen. Stattdessen igelt man sich lieber ein und verkündet trotzig auf dem richtigen Kurs zu sein. Allenfalls wird noch sinkende die finanzielle Ausstattung moniert. Das zurückgehende Interesse beim (potentiellen) Publikum wird als Kultur- und Zeitgeistkritik behandelt. Insbesondere wenn es um das Internetangebot von Tages- oder Wochenzeitungen geht, ist die Publikumsbeschimpfung fast immer der Weisheit letzter Schluss.
So weit, so gut. Buchelis Artikel war aber das Gegenteil der sonst üblichen Larmoyanz. Er beginnt mit eine nüchternen, ja ernüchternden Bestandsaufnahme: »Redaktionen können, um es zugespitzt auszudrücken, genau jene Zeitung produzieren, die der Werbemarkt zulässt.« Zu abhängig sei man von Anzeigen vor allem der großen Verlage, so suggeriert er. Also müsse man auch die beworbenen Bücher rezensieren. Dabei beschreibt er den Rezensenten als »hybride[s] Wesen« und »Diener verschiedener Herren« – Verlage, Autoren, Redaktion, Leserschaft: alle wollen etwas von ihm (ihr), aber die Interessen sind nicht nur divergierend, sie widersprechen sich unter Umständen sogar. Da aber die ökonomischen Zwänge dominant werden, wird die Rezension am Ende als eine Art »Gratiswerbung« angesehen – selbst ein deftiger Verriss ist gerne gesehen. Für Tiefe gebe es weder Zeit noch Raum im Blatt.
Sein Fazit: Es kann nicht mehr so weitergehen. Das Internet verändere die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten. Aber Bucheli stimmt nicht in den Kanon des Internetbashings ein. Er sieht im »ungeduldige[n] Leser« der digitalen Welt eine Chance. Die »Intoleranz gegenüber schwacher sprachlicher und inhaltlicher Profilierung steigt«. Es muss »anders oder besser sein«, sonst wird der Leser einfach wegklicken. Bucheli stellt klar: »Das bedeutet für die Literaturkritik nicht, dass die Antwort nur Boulevardisierung heissen kann« und verkündet fast euphorisch: »Das Gegenteil trifft zu«.
Aber hierfür sei es notwendig, mit einem »nachvollziehbaren und komplexen Kriterienkatalog Bücher zu bewerten« und nicht einfach nur »gedruckte Inhalte ins Netz zu stellen«. Bucheli plädiert für eine »ins Essayistische ausgeweitete Literaturkritik, die immer zugleich das Besondere eines Werks wie das Allgemeine der Ästhetik und des kritischen Bewusstseins im Auge behält«. So könnten sich im Netz Plattformen »kritisch-analytische[r] Kompetenz« entwickeln und die analoge Literaturkritik sozusagen fortschreiben.
Buchelis Artikel ist im Netz meines Wissens kaum seriös diskutiert worden (Reich-Ranicki als neuen Typus von Literaturkritik fortzuschreiben, ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems). Vielleicht, weil er statt griffiger Parolen Substantielles bietet, während die Adepten der sogenannten Internetrevolution von einer Literaturkritik schwadronieren, die »gescanntes Lesen« ernsthaft als neue literaturwissenschaftliche Arbeitsweise »untersucht« (Mercedes Bunz). Der Anspruch des NZZ-Redakteurs passt damit so gar nicht in das hippe Image hinein.
Bucheli versucht die ausführliche, detailreiche, zum Teil auch spielerisch-essayistische Kritik, die in der Zeitung immer mehr dem »Zwang zur Verknappung und Zuspitzung« zum Opfer fällt, im digitalen Netz zu re-vitalisieren. Salopp formuliert: »Zurück zu den Wurzeln«. Was einst eine Literaturkritik noch ausmachte, bevor sie sich ins »langfädige Nacherzählungen« flüchtete, soll, laut Bucheli, im Netz seinen Raum bekommen. Das zweite Hobby der zeitgenössischen Kritik nach der Nacherzählung nennt er gar nicht: das Abgleichen biographischer Daten des Autors mit denen des fiktionalen Textes, womit »Identität« und »Authentizität« (die zusammen mit der »Gesinnung« als Dreigestirn der zeitgenössischen Literaturkritik bilden) zu empirisch messbaren Kategorien der Kritik werden und die literarisch- ästhetische Betrachtung längst abgelöst haben.
Der Türhüter
Und nun also, nach fast drei Wochen doch noch der Widerspruch. Volker Weidermann ist der Held, der gleich mit allen Türen ins Haus fällt: »Verrückter Text« beginnt er seinen Aufsatz »Wer steht hier am Abgrund«, nennt Buchelis Essay »einfach nur komisch« und »lustig« und Ausdruck eines »dramatisch geschrumpften Selbstbewusstseins«. Was man ihm wahrlich nicht attestieren kann: Weidermann ist mitten im »Betrieb« und Vertreter der Türhüter-These, die das Feuilleton als hermetischen Raum sehen, der dem Leser fein portierte Häppchen aus dem längst überbordenden Neuerscheinungsangebot präsentiert. Die Kriterien dieses Zirkels bleiben eher im Dunkeln. Buchelis Satz über die Ökonomisierung des Feuilletons wendet er heuchlerisch gegen die »stolze, ruhmreiche« NZZ. So ist das, wenn jemand Klartext redet: Es wird ihm auch noch angelastet. Von Einflüssen von Verlagen oder Autoren ist man natürlich vollkommen befreit, so die Botschaft (nur Regionalzeitungen sind betroffen; die werden sich bedanken). Wer die zum Teil peinlichen Hypes auf den Literaturseiten der gängigen sogenannten Qualitätszeitungen (also auch der FAS / FAZ) in den letzten Jahren mitbekommen hat, weiss, dass es anders ist.
Buchelis Feststellung, der Internetleser sei flüchtiger als der Zeitungsleser, belächelt Weidermann in fast fataler Arroganz. Bezeichnend, wie er Buchelis Argumente gegen die Wand schmeißt: »Hä?« heißt es da wenig ergiebig. Während sich der eine Redakteur um die Sache sorgt, geht es dem anderen nur um die Besitzstandswahrung, seine Position im Betrieb. Wenn Weidermann von der »Begeisterung für Literatur« schreibt, die man als Rezensent brauche, so ist das zweifellos richtig. Aber wer schreibt heute noch aus dem Betrieb heraus begeistert? Verwechselt da jemand nicht Begeisterung mit dem Drang zu sensationalistischen Hypes und Alarmismus? Statt wie Zauberer den Leser für ein literarisches Werk zu begeistern, sind dort Hütchenspieler am Werk, die mit billigen Tricks ihrer Kunden abspeisen.
Ich habe in den letzten Monaten mit einigen Schriftstellern, Autoren und Literaturwissenschaftlern gesprochen. Es waren Leute, die genau und präzise Lesen, ja Lesen müssen. Und sie bemerken immer mehr: Das Feuilleton liest nicht mehr. Texte werden nur noch selten vom Anfang bis zum Ende gelesen. Längst hat sich das (aktivistische) Diagonallesen durchgesetzt (natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber die Tendenz ist unverkennbar). Parallelen, Kontinuitäten oder Brüchen, die sich aus dem literarischen Text ergeben, wird nicht mehr nachgespürt. Und mit dem Lesen alleine ist es ja nicht getan. Die Recherche, das Entdecken von Zusammenhängen, die der Autor im Text verborgen oder offen präsentiert, die Einordnung in sein Werk – all das gehört ja zu einer halbwegs seriösen Besprechung dazu. Stattdessen gibt es Waschzettel, Presseinformationen und anderes Zugetragenes aus zweiter, dritter Hand. Womöglich sind schon griffige Zitate vormarkiert; der Kritiker, zu oft zum Schreib- bzw. Renzensionssklaven verkommen, braucht dann nicht mehr ins Detaillesen zu gehen.
Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Klar, es gibt die Stapel der scheinbar notwendig zu lesenden Bücher auf der einen und de begrenzte Zeit auf der anderen Seite. Aber wer bestimmt diese Lektüren? Wer sagt denn, dass Buch X oder Buch Y das »Buch der Saison« werden kann, soll oder wird? Und was ist schlimm daran, wenn ich es nicht gelesen habe, sondern andere? Warum nicht einmal auf die 23. Besprechung des neuen Grass, Walser oder Handke verzichten – wenn man schon nicht so viel Zeit hatte, das Buch zu lesen?
Vielleicht meinte Bucheli ja diese Entwicklung, als er seine »Utopie« (Weidermann pejorativ) des kritisch-analytisch-essayistischen formulierte. Jemand wie Weidermann findet so etwas »merkwürdig«, aber nicht im Sinne von des Merkens und Bemerkens würdig, sondern eher als verschroben, abseitig. Die Antwort auf die Problematik der Kritik läge, so Weidermann, »in der Vergangenheit«. Und singt mit Inbrunst das Lied der »Feuilleton-Seiten der Tages- und Wochenzeitungen«. Am Ende entpuppt sich der Artikel als lieblose Abhandlung von vier Büchern, unter anderem von Egon Friedell und W. Somerset Maugham, die man (im weitesten Sinne) der Problematik der Kritik an der Kritik zuordnen kann.
Also alles schon einmal dagewesen? Kein Grund zur Aufregung? Wie blind muss jemand sein, um den schleichenden, aber eben doch bemerkbaren Qualitätsverfall des Feuilletons nicht zu bemerken? Bucheli versucht wenigstens, Alternativen aufzuzeigen. Aber Renegaten sind unerwünscht. Weidermann hat nur Spott und wohlfeile Durchhalteparolen dagegen zu setzen. Nachdem man zunächst bei Bucheli das Gefühl einer Restauration hatte, ist dies bei Weidermann viel virulenter.
Aber auch der Redakteur der NZZ macht einen entscheidenden Fehler: Er rekurriert mit keinem Wort auf die bereits bestehenden Plattformen, die in seinem Sinne Literaturkritik betreiben bzw. dies versuchen (von Weidermann erwartet man solche Verweise erst gar nicht). Kein Wort beispielsweise über literaturkritik.de, culturmag.de, satt.org oder das Magazin, für das ich seit Jahren schreibe, Glanz und Elend. Und dann diese Blogs, die Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmen, die tatsächlich aus Begeisterung lesen und schreiben, Lesern versuchen, etwas nahezubringen. Wo hat man denn beispielsweise im Print-Feuilleton eine derart akribische Gegenüberstellung ausgesuchter Übersetzungsstellen von »Madame Bovary« gelesen? Hierfür bedurfte es der »Lektüren eines Nachtwächters«! Wo gibt es luzidere und zum Teil literaturwissenschaftliche Auswertungen über Roberto Bolaño als beim »Bücherblogger«? Und wer außer der »Umblätterer« hat sich denn sonst mit Littells »Wohlgesinnten« so umfangreich beschäftigt?
Auch Bucheli bleibt also in seiner platonischen Höhle. Immerhin weiss er, dass die Schatten an der Wand zu befragen sind. Aber entweder kennt er die Szene der Netz-Literaturkritik nicht genug (hier könnte er Anregungen en masse finden), oder er möchte eigentlich über den Umweg seiner Netz-Utopie den Print-Bereich »verbessern«. Eine Antwort auf diese Frage werde ich nicht erhalten, weil mit diesem Text das geschehen wird, was das etablierte Feuilleton mit nahezu allen literaturkritik-kritischen Texten im Netz macht – siehe oben.
Stattdessen zieht die Karawane weiter. Und der Leser erschreibt sich sein Feuilleton selber.
fein! Und ich gedenke einem kleinen Scharmützel infolge Buchelis Stellungnahme, in dem du mir gegenüber verheißen ließest, nichts Neues nichts ... Chapeau!
Interessant, das werde ich mir morgen nochmal genauer durchlesen. Danke für diesen Hinweis. Hier noch zwei weitere erhellende Artikel zu Weidermann.
http://blogbar.de/archiv/2012/05/27/nutzliche-twidioten-die-einen-hoax-verbreiten/#comments
Wieder mal sehr luzide, die Analyse von Keuschnig.
Unglaublich, seine Treffsicherheit, als er sagt: »der viel beschworene Diskurs gilt nur in einem hermetischen Raum«.
Und: »das Feuilleton liest nicht mehr«.
Die Zeitungssparte F., die dem Normalbürger einen Blick in Kunst und Kultur bieten sollte, hat sich überlebt. Es ist nicht nur die LITERATUR, die den Redakteur überfordert, auch Religion, Anthropologie, linguistische Theorie, Philosophie, etc. Das Marginale ist nicht deshalb leicht, weil sich NIEMAND dafür interessiert.
Literaturkritik findet seit Jahrzehnten nicht mehr statt.
Literaturkritik setzt voraus, dass einem die Sache der Literatur am HERZEN liegt.
Das sind nur, wie Keuschnig sagt, Autoren, Kunstschriftsetzer und L‑Wissenschaftler.
Internet hin oder her: die Aufgaben sortieren sich neu! Verkaufen müssen wir alle was, das ist klar! Die neue ETHIK ist eine Frage des WIE, und das WIE ist eine Frage der Qualität.
Es scheint mir nicht verwunderlich, dass Weidermann als einziger Printjournalist Bucheli angreift. Der getretene Hund jault auf. Denn W ist sozusagen MR‑R ff. & glücklich, wenn er Literatur restlos in der Autorenbiografie versenken kann. Vermutlich hatte B. den FAS‑W. vor Augen, als er über die derzeitige deutschsprachige Literaturkritik schrieb.
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@wolfram schütte
Manchmal bedauere ich ja diese Gehetzten, die ihrer einstigen Begeisterung nachtrauern und nur manchmal noch kleine Reste davon wie übriggebliebenes Konfetti nach einer Party entdecken. Aber das ist in anderen Berufen nicht anders: Irgendwann setzt diese Bunkermentalität ein.
a worth to look at inside view from abroad ...
Vorhin habe ich an diesen Ihren Netz-Artikel über die unerwünschten Renegaten gedacht, und zwar als ich Tilmann Krause in der »Welt« (einstmals: »Die literarische Welt«, ist lange her) über Lewitscharoff las ( http://is.gd/at65G4 ). Der Anlass ist nun zu feierlich, um das kritische Fach auf neue Höhen zu bringen, aber interessant ist der Ton, in den Krause verfällt – die Eloge in der provinziellsten Form. Ich hatte den Eindruck: Selbst wenn im Netz auch mancher Summs geschrieben steht, so doch nie diese seltsame Legierung von Dürftigkeit und altbackener Hochgestochenheit. Der ganze Artikel ist »pseudo« – ich weiß gar nicht, ob da ein einziges ehrlich gemeintes Wort drin steht oder ob der Autor nur die Aufgabe lösen wollte, zu schreiben, was man eben bei so einem Anlass schreiben soll – »ein Artikel für die Zeitung, den man drucken kann«. Und bei aller Dürftigkeit dann doch der Anspruch »der großen deutschen Tageszeitung«, verkünden und bewerten zu dürfen, ob die Darstädter Jury »mit Recht« gehandelt habe. Was für ein Habitus: »Wie jede echte geistige Potenz würde sie sich mit der kümmerlichen Gegenwart niemals begnügen. Sie lebt in beziehungsweise mit der Geschichte. Und reißt dabei die Grenzen ein, ganz im Sinne ihres großen Landsmann Hölderlin aus Lauffen am Neckar: weil ‘ein Gespräch wir sind und hören voneinander’. Und wir, die wir unter der erfreulichen Wirkung der guten Nachricht stehen, vernehmen die Darmstädter Botschaft und deuten sie wie folgt: Literatur ist preiswürdig, wenn sie die Wirklichkeit transzendiert. Das lässt sich hören.« Wie unglaublich bescheuert ist das denn gedacht, geschrieben und dumpfbackig mit Asbach uralt verleimt?! Allein diese verblödete »wir«! Aber genau das ist diese Literaturkritik, die zu einem heruntergeleierten Zeitungsgenre heruntergekommen ist. Tja, wo sind da noch Renegaten? (Übrigens auch nicht in der TAZ, Knipphals auch mit allen Fingern in den Sirup.)
@Rainer Rabowski
Die Unmöglichkeit über die Kommentarseite der FAZ mit dem Autor zu kommunizieren, kenne ich natürlich auch. Neulich hat Michael Hanfeld einmal dort direkt geantwortet: ja, er lese die Kommentare zu seinen Beiträgen selbstverständlich. Was er nicht schrieb: Er ist an einer Diskussion, einem Diskurs (hochgestochen formuliert) nicht interessiert. Ich glaube sogar, dass es hierfür Gründe gibt. Zum einen dürfte den Redakteuren die Zeit fehlen. Zum anderen sind ja selbst die dem Zensor genehmen und publizierten Kommentare in der FAZ oft grenzwertig. Da ist Schweigen fast die einzige Möglichkeit der Replik. Und dann hängt es – glaube ich – auch noch damit zusammen, dass es irgendwie unfein ist, sich »rechtfertigen« zu müssen.
(Mir kommt dann immer Klagenfurt in den Sinn: Es ist ja ein ungeschriebenes Gesetz dort, dass der Autor die Diskussion stoisch zu ertragen hat. Das rührt ja tatsächlich von den Gruppe 47-Lesungen, wo es tatsächlich ein Richter-Gesetz (sic!) war. Im vergangenen Jahr hatte das Leopold Federmair für sich ein bisschen anders gelöst: Er hat die Jury einfach schweigend fotographiert. Die Moderatorin sonderte dann auch noch ihre blöde Spitze ab: »Wir danken Herrn Federmair, der mit ein paar Fotos der Jury nachhause geht«. )
@Fritz Iversen
Der Krause-Artikel ist in der Tat an Lächerlichkeit, Servilität und Dummheit schwer zu überbieten. Da wird Lewitscharoff mit Jelinek und Grünbein verglichen (und dabei tritt Krause den beiden gehörig gegen das Schienbein), was mindestens im Falle Grünbein völlig abwegig ist. Auch die Jury-Entscheidungen der letzten Jahre bekommen noch einen Tritt, was sicherlich legitim ist, aber dann auch bitte begründet werden sollte. Am Ende wird dann die Empfehlung für das nächste Jahr ausgesprochen. Das erinnert an den unlängst erschienenen Briefwechsel zwischen Grass und Brandt, in dem Grass Brandt ständig ungefragt unter anderem Vorschläge für sein Kabinett unterbreitet. Diese Impertinenz ist fürchterlich.
Diese Lobhudelei hat Sibylle Lewitscharoff nun wirklich nicht verdient.
Das Feuilleton-»wir« stößt mir komischerweise beim Lesen gar nicht mehr so auf. Wo es mich unglaublich stört ist im Gespräch, in der Diskussion. Elke Heidenreich verwendet es laufend im »Literaturclub«, was die Unerträglichkeit dieser Person noch potenziert.
Nur ganz dezent klingt im Krause-Artikel allerdings etwas an, was mich bei der Entscheidung erstaunt hat. Ich habe die medialen Anfänge der Autorin Lewitscharoff 1998 beim Bachmannpreis mitbekommen. Sie hatte den Preis mit »Pong« durchaus verdient gewonnen, wenn auch der Text arg berechnend konstruiert war (das Buch hatte mich dann später ein wenig enttäuscht). Insgesamt ist ihr Œuvre jedoch noch ziemlich übersichtlich. Das soll nicht als Plädoyer verstanden werden, dass den Büchnerpreis nur altgedienten Damen und Herren mit etlichen Regalmetern Werk verliehen werden sollte, aber die Karriere ist ja fast noch am Anfang... (Natürlich ist es dann immer interessant zu sehen, wer den Preis noch nicht bekommen hat bzw. ihn auch nie mehr bekommen wird [Arno Schmidt! Kempowski! W. G. Sebald!])
Vielleicht ist das überhaupt das Schlimmste, dass die Unansprechbarkeit der sich lieber instanzenhaft Verhaltenden das Gefühl einer Pseudo-Beteiligung, einer gewissen Vergeblichkeit erzeugt. Da öffnet sich letztlich nichts. (Aber vielleicht ist das auch eine Mentalitäts- oder Generationenfrage? Anders etwa Ulf Poschardt, mit dem man sich auf Facebook kleine Wortgefechte liefern kann.)
Und das hat dann prompt einen Effekt auf die Qualität der Kommentatoren: Sie ist dann in ihrer letztlichen Ziellosigkeit und im Aneinandervorbeireden auch wirklich bald unterirdisch und die ganze Veranstaltung alibihaft.
Statt dass jemand „moderiert“ und die lohnenswerten Stimmen herausstellt – und den Quatsch ruhig löscht: Das würde auch die Labertypen irgendwann ermüden und die anderen ermutigen. Aber es brauchte eben den Schritt, das Interesse an Kritik oder Austausch – oder „Information“ zu transportieren: doch das Primärgeschäft – auch anzugehen.
Aber dass es nicht mehr hilft, darüber zu stehen, das spüren die Redaktionen wohl längst auch. Rückzugsgefechte. So kommt es dann vielleicht auch zu so etwas wie in der Wahrnehmung von Fritz Iversen. Die müsste man eigentlich gleich wieder als Kommentar an der richtigen Stelle anbringen! Wo?
***
Und Lewitscharoff geht für mich in Ordnung. Vielleicht ist es ja manchmal auch schwer jemanden zu finden für diese immer auch stellvertretende Huberei? Man müsste – wie L. wahrscheinlich durchaus – ja auch für sich annehmen können.
Ja, Lewitscharoff geht auch für mich in Ordnung. Und auch Goetz wäre okay. Weiter würden sich immer mehr von den üblichen Verdächtigen finden lassen – aber warum sind das alles Autoren, die im Feuilleton auf die ein oder andere Weise (oder auf die ein und andere Weise) immer schon präsent, ja »arriviert« sind? Aber wo sind die »Entdeckungen« – und damit sind nicht ausschließlich die jungen Lyriker gemeint, sondern auch stillen Leuten wie Ransmayer, Erich-Wolfgang Skwara, Paul Nizon (naja) oder noch abseitigere wie Wolfgang Welt oder vielleicht sogar Achternbusch (welch’ ein Skandal!).
Zwei polyglotte Österreicher (einer davon fast glattweg unbekannt) und ein Schweizer, der in Paris lebt? Das ist dann doch zu wenig staatstragend. Und mit den zwei Letztgenannten wäre der Preis vielleicht freigegeben für’s Postironische. (Man stelle sich die Paulskirchen-Reden vor!) Mit den Preisträgern feiern die Krönenden sich ja immer vor allem selbst. Goetz kommt eh. Aber von den anderen Genannten ist Ransmayr der einzige mit einer reellen Chance. Wenn es ihm denn wichtig ist.
An das staatstragende Element hatte ich nicht gedacht.
(Ob es Ransmayr wichtig ist? Ich kenne ihn nicht, aber vielleicht ist es so, dass man vor allem indigniert ist, ihn nicht bekommen zu haben. Von Kempowski weiß man das ja. Und da fragt man sich, warum Felicitas Hoppe als Preisträgerin 2012 ausgesucht wird, ein Ransmayr aber immer noch nicht. Oder ein Rainald Goetz.)
Da haben wir den Salat, der Büchner-Preis legt wieder all die verborgenen Wünsche und Ressentiments offen.
Ich finde das furchtbar, Tillman Krause, der Zeilenschinder, macht es vor, und ihr macht es auch noch nach!
Ernsthafte Frage von Keuschnig war: warum kennt man die alle schon?
Ernsthafte Antwort von mir: wir sind ein kleines Land! (Implizit: ein Autor hat ja wohl keinen Grund, Jahrzehnte mit seinen Arbeiten hinter dem Berg zu halten, um uns alle zu ÜBERRASCHEN)
Keine mediale Überproduktion wird an der Insellage Deutschland im Meer der Weltliteratur etwas ändern. Klar, auf einer kleinen Insel kennen sich die Bewohner nach einiger Zeit.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Goetz nach dem Johann Holtrop-Roman den Büchner-Preis nicht mehr bekommen wird. Da hatten sich doch zuviele Rezensenten aufgerufen gefühlt, klarzustellen, dass es so nun doch nicht in deutschen Medienhäusern zugeht. Außer vielleicht als Unterstützungsgeste in den Suhrkamp Wars.
Meine Nominierungen für den Büchner-Preis: Ulf Stolterfoht, Wolfgang Welt, Elke Erb, Dietmar Dath, Christiane Rösinger.
Vielleicht würde es helfen, mehr Wagemut in den Preis zu bringen, wenn die Jury nicht so dynastisch und feuilletonlastig besetzt wäre. Hamm und Kalka sitzen da ja gefühlt seit der Verleihung an Gottfried Benn drin.
@die_kalte_sophie
Wieso machen wir was »nach«? Ist der Diskurs über Literaten per se verboten, nur weil er im Großfeuilleton trivialisiert wird? Das ist am Ende nur ein Affekt, der schwach ist: ich mache was nicht, weil es ein anderer (schlecht) macht. Dadurch gewinnt der andere dann die Macht über mein Handeln. Genau so könnten Sie die Schließung dieser Seite beantragen – als letzte Konsequenz.
@Doktor D
Schöne Liste. Mir ist gestern noch Gerlind Reinshagen eingefallen. Die aber unbedingt.
(Und noch eine: Gabriele Wohmann – und ihre Empörung vor einiger Zeit in einem Interview, dass sie immer noch nicht den Büchner-Preis bekommen habe. Vielleicht ja zu recht?)
Danke für den Hinweis auf Gerlinde Reinshagen. Obwohl ich das tolle Hörspiel »Die Frau und die STadt« gehört habe, war sie mir gar kein Begriff.
Und dafür gibt es ja Jurys – sie sollten den »Begriff« wach halten, vergegenwärtigen. Die Neuerscheinungen durchblättern kann jeder Depp.
@Georg Keuschnig
Also, wer den Affekt verkörpert, ist schon ein ganz kleines bisschen wichtig, immer noch.
Ich will die Seite nicht schließen. Äh, warum?
Ich weiß gar nicht, was an meinem Vergleich so schlimm sein soll, ihr macht das, was wir alle machen: Tratschen über Literaten.
Der Krause hebt das nur etwas im Stil und reicht das in der Redaktion ein.
Der Vergleich ist zuletzt pädagogisch, und sogar selbst-erzieherisch gemeint.
Ich würde das gerne ins Private verschieben, auch im Internet-Zeitalter
Wohmann ginge für mich auch in Ordnung. Aber Gerlinde Reinshagen? Kenne ich keine Zeile. Also wohl mein Problem.
Es scheinen diese Preise und das ganze Großmanns-/Frau-Gehabe also immer auch eine Spiegelfunktion im Kleinen. Was wiederum das Repräsentationsmoment stärkt. Verlangt „Literatur-Deutschland“ also Satisfaktion, sich in den Entscheidungen wiederzuerkennen? (Und verhinderte eben das die mit ebensoviel Recht zu fordernde „Überraschung“?)
Und was die Jury anbelangt (ich habe mir Fragen zur Besetzung bisher nie gestallt): Wie sieht es da mit der Repräsentation aus? Und bräuchte die nicht auch eine gewisse Kontinuität? Und wenn man weiß, dass seit MRR sowieso alles Geklüngel ist? Müsste man nicht mehr Demokratie wagen? (Oder ersatzweise: dieses Ersatzdingen „Transparenz“?) Und wäre beide in ästhetischen Belangen wirklich wünschenswert?
In finde Sophies Hinweis (so denn von mir richtig verstanden) nicht so falsch: Wenn sich irgendwann alle kennen („Man kennt sich, man hilft sich“): Ist dann nicht auch jeder mal dran? Und ist der Preis es tatsächlich noch was wert? (Na ja, 50.000 ist schon ein Sümmchen.)
Ich persönlich kann mit Felicitas Hoppe immer noch nicht das Geringste anfangen.
Tratschen über Literaten? Stellt sich nicht irgendwann automatisch die Frage nach Art und Auswahl von Sanktionierungen? Krauses Eloge auf Lewitscharoff ist doch derart affig, dass man sich fragen muss, was diesen Mann zu einem solchen Unsinn antreibt. Da stellt sich mir sofort die Frage: Warum?
Lewitscharoff ist eine sehr gute Autorin – und sie hat auch Zündendes. Aber sie sagte ja selber im Gespräch mit dem wieder fürchterlich klebrig-servilen Denis Scheck, dass sie dachte, da seien erst einmal andere dran.
Und hier zeigt sich dann doch, wie das Feuilleton die Akzente setzt – in diese Jury hinein. Sechs Jahre ist das her, als in einem kleinen Artikelchen in der FAZ Hoppe und Lewitscharoff den »Abschied von den Alten« in einer Art sanften Revolution verkündeten. Damit sprachen sie den Feuilletonisten aus der Seele – und dann der Dank: beide hintereinander den Büchner-Preis. Gute Verzinsung? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Ja, vielleicht. Oder auch nicht.
Noch einmal Felicitas Hoppe mit ihrem wirklich eher bescheidenen Werk bisher:
Ich könnte keine einzige Figur der sogenannten deutschen Nachkriegsliteratur benennen, weder männlich noch weiblich, die für mich von tiefergehender Bedeutung wäre. Da sind gute Bücher, natürlich, aber es ist nichts da, woran ich mich ernsthaft orientieren könnte.
Wer so etwas sagt, muss »liefern«. In gewissen Grenzen hat das Lewitscharoff gemacht; ich rechne ihr ihren sanften magischen Realismus an. Aber Hoppe? Ich weiss nicht.
Der Büchner-Preis hatte immer schon das Problem, dass er mit der einen Hand in den gefeatureten Aktualitäten herumkramte und mit der anderen Hand in den Büchern der Autoren herumblätterte, die anscheinend ein »bleibendes«, literaturhistorisch wichtiges Werk geschaffen hatten. Wenn der Büchner-Preis nicht zu einer weiteren Praktikumsvergabe-Stelle herabsinken will, dann müsste die Jury sich in der Tat viel konsequenter von den Ansagen der mit den Verlagen immer enger liierten Media-Feuilletons entfernen. Lewitscharoff – mein erster Gedanke war, das sollte jetzt mal einfach zugunsten von Suhrkamp entschieden werden. Ransmayer ist fast schon überfällig, aber eben Fischer. Und wenn Suhrkamp – was haben wir denn da noch, was landauf, landab gepriesen wird? Wo die Büchner-Jury schon durch andere Jurys »abgesichert« ist? Die liebe Lewitscharoff. (Die in meinen Augen als Büchner-Preisträgerin einer der klarsten Fälle seit 1951 von »nicht-okay« ist.)
Den Büchner-Preis haben wir Tratschköpfe immer als den »Meisterpreis« der deutschen Literatur verstanden, »Hall of Fame«. Der Preis droht jetzt zu einem weiteren Betriebsfest zu werden. Medien-Feuilletons und Verlagswirtschaft scheinen immer enger zu kungeln. Die Jury sollte sich auf die Texte konzentrieren und auf nichts anderes.
Wer fehlt vielleicht noch unter den Preisträgern, die man eher hätte auszeichnen sollen? Zu den bereits genannten Reinshagen, Ransmayer und Nizon würde ich noch Monika Maron, Schädlich, Jürgen Becker und auch Henscheid hinzufügen. Alle diese Autoren setzen Maßstäbe, an denen sich andere erst einmal vorbeischieben müsste. L. bleibt in meinen Augen hinter jedem dieser Vergleichspunkte zurück. A
Hat nur den Vorteil »aktuell« zu sein und von dem notleidenden Suhrkamp Verlag verlegt zu werden. Deutscher Preis für Literaturpolitik ...
@ Fritz Iversen
Ich bleibe da hin- und hergerissen.
Einerseits sympathisiere ich mit Ihnen: Es braucht einen Maßstab, und das meint nicht einen weiteren angepassten, tiefergelegten. Andererseits scheint mir genau diese Repräsentationsübung, das künstliche Halten einer künstlerisch anscheinend ja nicht einmal mehr zu definierenden geschweige denn zu verabredenden Höhe ziemlich in die Jahre gekommen. Das U‑Element hat gesiegt. Auch „die Literatur“ ist irgendwie ein Käufer-Markt geworden.
(Und was Repräsentationen angeht, meine ich manchmal, man sieht das ganz gut an Gauck: Ja, schön, dass wir so einen haben – aber ist er wirklich noch nötig? Steht er nicht auch öfter mal etwas komisch in der Landschaft herum und lässt sich loben für sein so menschlich-betulich von sich gegebenem Lobenswertem für eine Galerie?)
Immerhin: Da ist die Paten-Generation – zu der man jetzt wohl auch schon Peter Schneider rechnen muss – und das Feuilleton; da ist das Instituten-Umfeld (Hildesheim / Leipzig); da ist das betriebige Berlin und der Slam in der Provinz; das sind die Büchereien, ist der Buchpreis und das jährliche Bachmann-Dingsbums. Und was noch alles. Nur scheint doch bei all der Reichhaltigkeit der deutsche Literatur-Szene etwas zu fehlen. Und ist das womöglich ein Phantom? Nur ein alter Reflex hin zur großen einigenden Figur, zum Ersatzkörper des Königs? Oder doch zum übergreifenden Mittler-Ereignis, zum die Versammlung einbestellenden Zentral-Event?
Oder wäre es vielleicht doch besser der Streit, zumindest mehr Streit als wir jetzt haben? (Wie ihn Lewitscharoff ja öfter mal fordert.) Die Debatte, die nicht gleich wieder leerläuft, der zündende Gedanke, der ein bisschen länger hält, eine vorausweisende Idee oder die Suggestion von deren Ausstrahlung? Etwas, an dem alle partizipieren. (So wie im TV die große „Samstag-Abend-Schau“?)
Aber vielleicht gibt es schon viel zu viele, die sich an ihrem jeweiligen Rand aufhalten und auch lieber da bleiben. Ich weiß nur nicht genau, warum.
Und natürlich braucht es auch ein bisschen Tratsch (und längst viel mehr Streit): Diesen gern geforderten Purismus mag man ja für wünschenswert halten, doch sind die wenigsten Menschen Puristen – der Betrieb braucht wohl Umtriebigkeit. Und wäre er nur der Ersatz für eine etwas intellektuellere Belebung.
Ja, die Zeit der »Großschriftsteller« und »Dichterfürsten« ist vorbei. Und das ist eigentlich nicht schade. Bedauerlich ist, dass ohne TV-Support niemand mehr allgemein bekannt wird. Deutscher Buchpreis, Büchner- und Bachmann-Preis haben für die Verlage den Nutzen, TV-fähige PR-Veranstaltungen zu sein. Da gibt es noch einmal die Erinnerung an »literarische Öffentlichkeit«.
Ansonsten funktionieren die Bekanntmachungen umgekehrt: Mit TV-Prominenz im Rücken – z.B. als Tatort-Darstellerin – öffnen sich Marketingschatullen bei den Verlagen, kriegt man Sessel angeboten in TV-Talkshows, ein paar Kaufhinweise in den Zeitungen von der Sorte »aktivistisches Diagonallesen« gibt’s obendrauf.
Allein aus sich heraus scheint die dt. Literatur keine große Aufmerksamkeit mehr für sich selbst herstellen zu können. Der Trend geht tiefer in das Nischendasein.
Fritz Iversens erweiterte Liste (Maron, Schädlich...) ist wirklich bemerkenswert (wert, bemerkt zu werden; einiger dieser Leute hatte ich schon vergessen). Dennoch halte ich Lewitscharoff nicht für einen Fehlgriff; Hoppe und auch Kluge – aus jeweils anderen Gründen – dagegen schon.
Was dann wirklich schlimm ist (bzw. wäre): Wenn es nur noch um »Politik« im weitesten Sinn geht: Suhrkamp, Frauenquote, Jung vs. Alt, Bekannt vs. Unbekannt. Wenn es unbedingt Suhrkamp und weiblich sein muss hätte es Gerlind Reinshagen sein können; Wolfgang Welt ist auch bei Suhrkamp. Usw.
Und dann noch ein Einwand: War nicht Literatur seit je (fast immer) »Nische«? Ist nicht die Trennung zwischen E und U (die es angeblich nur im Deutschen gibt) die Zementierung der Nische, mit der »E« dann auch die Mauern hochziehen kann und ein Überleben im autarken Gärtchen der Kultur beansprucht? Und jedes Blinzeln zur »U«-Seite wie ein Verrat wirkt, wie weiland die »Feindschaft« zwischen zwei Familien? Wenn dies so wäre, müssten ja gerade Residuen wie Deutsche Gesellschaft für Sprache und Dichtung (falls sie denn welche sind) das »E«-Element mit Zähnen und Klauen verteidigen. Warum ergeben sie sich derart vorauseilend den Marketing-Mechanismen von Verlagen und Feuilleton?
Kurz zum »U«. Jemand, der dort wegen seiner Lust zu Ausfällen öfter mal hinsortiert wird, aber m. M. nach trotzdem (und auch deswegen) eine ziemliche Singularität darstellt – und den Preis auch nicht bekommen hat: Bodo Kirchhoff. (Obwohl ich die letzten Sachen nicht mehr / noch nicht gelesen habe.)
Und an wen mal auch mal hätte denken können: Dieter Wellershoff.
Was mich auf die Überlegung bringt, wie wohl die Jury diese spezifische Abgrenzung vornimmt zwischen der eigenen Sympathie, der offensichtlichen »Leistung« eines Schriftstellers und der »Politik« (also irgends übergreifenden, verobjektivierenden oder eben allgemeinen Gesichtspunkten ... bis zur Aufgabe (?), es nicht allen, aber möglichst vielen recht zu machen).
Vielleicht ist die Bedeutung des Preises selbst die Falle, der man nicht entkommt? Und der dann auch eine Belastung sein kann. (Wie etwa für Durs Grünbein.)
http://www.youtube.com/watch?v=ps9b0s6Oo2c
Die Großen Vorbilder, von denen SL spricht, an welchen Vorbildern haben die sich denn ihrerseits orientiert? Wenn es zutrifft, was SL sagt, stammen Autoren von Blindschleichen ab. Was nützt alles Lesen, wenn das Leben fehlt? Schreiben setzt primär Leben voraus, nicht Lesen. Bei SL & Co ist alles vorbildlich leblos. Historisch abgesicherten Figuren bleibt gar nichts anderes übrig als still zu stehen oder zu sitzen, tot wie sie sind, gnadenlos hineingezerrt von Autoren, die sich fremder Gedanken bedienen, weil sie nicht wagen, eigene zu haben oder solche referenzlos zu äußern. Es sind mittlerweile selbstreferenzielle, in sich absolut wasserdichte Sicherheitssysteme entstanden. Namhafte schreiben Namhaftes über Namhafte und werden dafür von namhaften Jurys mit namhaften Preisen belohnt, im Namen der Namhaftigkeit.
Die deutsche Literatur kann aus sich heraus keine große Aufmerksamkeit für sich wecken, weil sie den Bezug zum Leben verliert.
@Raffaela
Was nützt alles Lesen, wenn das Leben fehlt?
Was bedeutet das? Ein Plädoyer für einen Realismus? Den haben wir doch zur Genüge (fast hätte ich geschrieben: bis zum Erbrechen).
Autoren, die sich fremder Gedanken bedienen, weil sie nicht wagen, eigene zu haben oder solche referenzlos zu äußern
Welche Bücher von Sibylle Lewitscharoff haben Sie denn gelesen? Welche Autoren meinen Sie?
Die deutsche Literatur kann aus sich heraus keine große Aufmerksamkeit für sich wecken, weil sie den Bezug zum Leben verliert.
Noch einmal gefragt: Was ist »Bezug zum Leben«? Lindenstraße goes Suhrkamp?
@Gregor Keuschnig
Was Leben bedeutet, fragen Sie mich? Weder Realismus noch Blumenberg. Vielleicht ist es das, was zwischen Lindenstraße und Suhrkamp liegt? Unweit von U, ungefähr knapp vor E.
Gewolltes Missverstehen ist fast immer eine billige Ausflucht: Was bedeutet »Leben« in der Literatur? Noch einmal: Realismus? Kapitalismuskritik? Welche Bücher haben Sie von Lewitscharoff und der von Ihnen verurteilten Literatur gelesen?
(Das wäre doch auch mal was: Kritik an Literatur abseits von Phrasen zu üben – die kennt man schließlich aus dem Feuilleton genug. Ein Zwei-Minuten-Filmchen einer Autorin ist nicht deren Literatur.)
Sie scheinen davon auszugehen, dass ein Leser, der eine Autorin, die Sie gut finden, nicht gut findet, sie nicht gelesen haben kann. Wie kommt das? Ich finde es, entschuldigen Sie den Ausdruck, etwas stur, in jedem Fall von dieser Prämisse auszugehen – bei all Ihrer berechtigten Kritik an der gängigen Rezensions- und Lesepraxis, die ich teile.
Ich habe Hans Blumenbergs »Löwen« gelesen und Sybille Lewitscharoffs »Blumenberg«. Wozu soll dieser Roman gut sein? Auch durch Apostoloff habe ich mich tapfer gekämpft.
Ein Kurzfilm über die Autorin ist nicht mit deren Literatur gleichzusetzen – das hat auch niemand behauptet. Die Autorin sagt in diesem »Filmchen« jedoch sehr viel darüber aus, welche Prioritäten sie setzt. Diese finde ich in ihren Büchern bestätigt. Absolut stimmig.
»Leben« in der Literatur – ein winziges Beispiel:
Ransmayrs Atlas. Weißer Sonntag.
Noch einmal:
Die deutsche Literatur kann aus sich heraus keine große Aufmerksamkeit für sich wecken, weil sie den Bezug zum Leben verliert.
Die deutsche Literatur
Woran machen sie das fest? An »Apostoloff« und Ransmayrs Atlas?
(Sturheit ist mitunter fruchtbar.)
In meinem ursprünglichen Kommentar habe ich nur #24 zitiert »Allein aus sich heraus scheint die dt. Literatur keine große Aufmerksamkeit mehr für sich selbst herstellen zu können« und versucht, eine der vielen möglichen Erklärungen zu finden.
Wie viele Bücher braucht es, um eine Aussage festzumachen? Ich finde, Blumenberg, Apostoloff und der Atlas repräsentieren ganz gut ihre jeweilige Spezies. Was Kehlmann in der »Vermessung« für die Masse gelungen ist, macht Lewitscharoff für die intellektuelle Elite mit »Blumenberg«. Biographisches, das seine Substanz aus der Substanz der Vorlage saugt. Apostoloff repräsentiert für mich das leider nicht Literatur gewordene Autobiographische, das von der Bedeutsamkeit des jeweiligen Autors lebt. Der »Atlas« ist für mich Literatur im herkömmlichen Sinn, die den Bezug zum Leben eben nicht verloren hat. Eher die Ausnahme, aus meiner bescheidenen Sicht. (Die Aufzählung der Literatur-Sorten erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.)
Ich bin einfach ganz stur altmodischt
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