Das ge­schun­de­ne »Haus Mahler«

TAGEBUCHEINTRAG, 7. APRIL 1984

Über Glogg­nitz + Schott­wien in die Ad­litz­grä­ben hin­auf – Rich­tung Brei­ten­stein1, den Schil­dern zur »Speck­ba­cher­hüt­te« fol­gend. Der Bahn­hof Brei­ten­stein: re­no­vier­tes Ge­bäu­de, hier die zahl­lo­sen An­künf­te und Ab­rei­sen FW’s.2 Vor­bei am Or­thof (frü­her das Gast­haus von TOST, wie ich spä­ter er­fah­re, Tost wird von FW oft er­wähnt, in den Brie­fen an Al­ma.) Ca. 1 km wei­ter, dann ein Schild Haus Mi­lo­ta, und ei­ne Ein­fahrt führt zum Haus Mahler – kei­ne Ähn­lich­keit mit dem Haus von einst. Um­bau­ten und Da­zu­bau­ten ha­ben das gan­ze äu­ße­re Er­schei­nungs­bild grund­sätz­lich ver­än­dert, auch das schö­ne Dach ist nun Eter­nit-ver­scheuß­licht. Herr Ko­çi­an be­grüßt uns, in sei­nem dun­kel­blau­en, sehr ver­schmutzten Ar­beits­ge­wand, K. ist hier Haus­mei­ster und –ver­wal­ter; der Dau­men sei­ner rech­ten Hand ist bei ei­nem Un­fall ab­ge­trennt wor­den, nur ein dicker Stumpf ist da noch üb­rig. K. führt uns durch die Kü­che hin­durch, über­all Ab­fall + Ge­rüm­pel + Zeug im Weg, die K.’s put­zen das Haus, denn ab näch­ster Wo­che wer­den Werft-Ar­bei­ter er­war­tet. Ein sehr dickes, sehr häß­li­ches Kind mit Locken steht im Kor­ri­dor, be­grüßt uns krei­schend. Wir sit­zen in ei­nem An­bau, ganz Re­so­pal-Hal­le, Auf­ent­halts­raum für die Werft-Ar­bei­ter – hier war einst der Ein­gang ins Haus, hier wa­ren die schö­nen ro­sen­um­rank­ten Säu­len.
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  1. In Breitenstein am Semmering, zwei Stunden Bahnfahrt von Wien entfernt, befand sich Alma Mahlers Ferienvilla, das 'Haus Mahler'. Gustav Mahler hatte das Grundstück 1910, ein Jahr vor seinem Tod, erworben. Zwei Jahre nach seinem Ableben begannen die Bauarbeiten. Franz Werfel (1890 – 1945) schrieb im 'Haus Mahler' in den Jahren 1919 bis 1938 die meisten seiner Werke. Siehe auch hier 

  2. Ich recherchierte damals die Biografie des Dichters Franz Werfel, siehe "Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte", S. Fischer Verlag, 1987 

Die Mit­te Deutsch­lands im Wech­sel der Zei­ten

Ge­schich­te kennt kein letz­tes Wort. (Wil­ly Brandt)

 

Ein Riss ging durch deut­sche Lan­de – von Tra­ve­mün­de bis zum ein­sti­gen Drei­län­der­eck bei Hof. Über vier­zig Jah­re. Die­se po­li­ti­sche wie geo­gra­phi­sche Tei­lung trenn­te Men­schen und Re­gio­nen. Ent­stan­den war aber auch ein (fast) un­be­kann­ter Land­schafts-Längs­schnitt in bei­den Deutsch­lands.

Grenzübergänge - Info Tafel in Mödlareuth (Foto © R. Lüdde)

Grenz­über­gän­ge – In­fo Ta­fel in Möd­lareuth (Fo­to © R. Lüd­de)

Aus al­ten Kul­tur­land­schaf­ten wa­ren Grenz­ge­bie­te ge­wor­den und nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung 1990 aus dem ein­sti­gen To­des­strei­fen ein Le­bens­band: Ein über 1393 Ki­lo­me­ter lan­ges mit 17 Na­tur­räu­men ver­bundenes »Grü­nes Band« zieht sich in­zwi­schen durch die Mit­te Deutsch­lands: ge­schütz­te Land­stri­che, un­mit­tel­bar am ehe­ma­li­gen Grenz­ver­lauf.

Das Na­tur­schutz­pro­jekt »Grü­nes Band« be­wahrt ei­nen Grün­gür­tel, ei­nen Kor­ri­dor durch stark zer­stückelte Land­schaft. Da­bei han­delt es sich um den so ge­nann­ten Ko­lon­nen­weg auf der ehe­ma­li­gen »De­mar­ka­ti­ons­li­nie« in ei­ner Brei­te zwi­schen 50 und 200 Me­tern. Über Jahr­zehn­te hat­te hier nur die Na­tur »Be­we­gungs­frei­heit«. Es ent­stand ei­ne Art Wild­nis in ei­ner sonst so in­ten­siv ge­nutz­ten land­schaftlichen Um­ge­bung: Brach­flä­chen wech­seln sich mit ver­busch­ten Ab­schnit­ten ab, Altgras­fluren mit Wald, Flüs­se mit Feucht­ge­bie­ten und Moo­ren.

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Graf/Farkas: Es wer­de Stadt!

»Es wer­de Stadt!« so der leicht pa­the­ti­sche Aus­ruf und Ti­tel des Films von Do­mi­nik Graf und Mar­tin Far­kas. Die Stadt, die da wer­den soll, ist Marl im nörd­li­chen Ruhr­ge­biet. Marl steht für Koh­le, Che­mie – und den Grim­me-Preis. Und an Marl lässt sich die Ge­schich­te des Ruhr­ge­biets sehr schön il­lu­strie­ren: die Städ­te­bau­am­bi­tio­nen in den 1960er Jah­ren (als es mit der Koh­le­för­de­rung schon schwie­ri­ger wur­de, wenn auch eher un­be­merkt), die viel ge­rühm­te »in­sel« wie dort die Volks­hoch­schu­le hieß. Es galt, wie es ein­mal heißt, Men­schen zu »er­zie­hen«. Und wenn es durch Bau­wer­ke ge­schah (so sa­hen sie auch aus). Die of­fe­ne, »ra­di­kal in­no­va­ti­ve« »Sharoun-Schu­le«, die, so ein Leh­rer, erst in der Zeit als es die Ge­samt­schu­le gab, an­ge­nom­men wur­de. Was im­mer das be­deu­tet.

Graf und Far­kas zei­gen Auf­stieg und Nie­der­gang des Ru­he­ge­biets an­hand der Stadt Marl und, al­le­go­risch, par­al­lel zur Ent­wick­lung des Fern­se­hens. Die üb­li­chen Kla­gen bei den be­frag­ten Bür­gern: In Marl ge­be es nichts, wo man abends hin­ge­hen kann. Der Nie­der­gang des Fern­se­hens, wie ihn Graf und Far­kas ver­ste­hen, sym­bo­li­siert sich am ver­rot­ten­den Hal­len­bad Marls. Man braucht nur we­nig an den Aus­sa­gen der Bür­ger über ih­re Stadt än­dern: Da gibt es nichts, was man abends ein­schal­ten kann. Wei­ter­le­sen

Rein­hard Kai­ser-Mühlecker: Schwar­zer Flie­der

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Schwarzer Flieder

Rein­hard Kai­ser-Mühlecker: Schwar­zer Flie­der

[...] Rein­hard Kai­ser-Mühlecker er­zählt die Ge­schich­te von Fer­di­nand Gold­ber­ger mit gro­ßer sprach­li­cher Ge­nauigkeit. Da­bei spielt es für den Le­ser kei­ne Rol­le, dass »Schwar­zer Flie­der« ei­ne Wei­ter­füh­rung der »Gold­ber­ger-Sa­ga« des Au­tors ist, die 2009 mit »Mag­da­len­aberg« be­gann, dann 2012 mit dem um­fang­rei­chen Ro­man »Ro­ter Flie­der« fort­ge­setzt wur­de und hier – schein­bar – sein En­de fin­det (der Au­tor schreibt auf sei­ner Web­sei­te apo­dik­tisch vom »En­de der Gold­ber­ger­sa­ga«). Klaus Kast­ber­ger, dem ein ge­hö­ri­ger Ver­dienst an der »Ent­deckung« Kai­ser-Mühleckers ge­bührt, weist in sei­ner Be­spre­chung zum neue­sten Buch aus­drück­lich dar­auf hin, dass Vor­kennt­nis­se der an­de­ren Bü­cher für die­sen Ro­man nicht not­wen­dig sind. Das war der Grund für mich, der die an­de­ren Bü­cher nicht ge­le­sen hat, mit die­sem Buch die Be­schäf­ti­gung mit Kai­ser-Mühlecker zu be­gin­nen. Nach der Lek­tü­re zeigt sich, dass Kast­ber­ger Recht hat­te. Und das man das Ver­säum­te nach­ho­len soll­te.

[...]

Der gan­ze Bei­trag hier bei »Glanz und Elend«

Herr­lich blü­hen­der Mi­mo­sen­baum

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1984

Mon­tag, 19. März 1984

Be­kom­me ein Schlaf­wa­gen­ab­teil für mich al­lein, im Ab­teil ne­ben mir Arik Brau­er, aber wir spre­chen nicht. Trin­ke Rot­wein in mei­nem obe­ren Bett, bin se­lig, le­se Ei­chen­dorffs »Mar­mor­bild«, das in und um Luc­ca spielt – träu­me dann wirr + leicht + ernst zu­gleich. Um 9h40 in Ve­ne­dig, ei­ne hal­be Stun­de Auf­ent­halt. Ver­las­se den Zug, ste­he dort her­um, mit mei­nem Ge­päck – und be­ob­ach­te die Men­schen. Has­se Wien und mein Dort­sein mit In­brunst. Füh­le mich BELASTET durch Wien. (…) Die­ses »Fort-von-Wien«-Gefühl sel­ten so stark emp­fun­den. Bloß: wo­hin? Nach Ab­schluss der FW-Ar­beit1 muß ich für län­ge­re Zeit ganz wo­an­ders le­ben, nicht in die­ser Blei-Stadt blei­ben! Die al­le Freu­de tö­tet, die al­le Leich­tig­keit zu­nich­te macht. / Via Bo­lo­gna und Pi­stoia nach Luc­ca. Luc­ca over­whel­ming – um­schlos­sen von un­zer­stör­ten Mau­ern, rund­her­um, al­les un­be­rührt so­zu­sa­gen, traum­wandle durch die Stadt, le­ge Ki­lo­me­ter um Ki­lo­me­ter zu­rück, kommt mir vor. (…) Herr­li­cher Ort! Ganz un­wirk­lich – und ver­träumt – und un­tou­ri­stisch. Su­che nach ei­nem Ho­tel, le­ge wie­der­um enor­me Strecken zu­rück, hin, her, links, rechts, im Kreis und zu­rück. Ent­schei­de mich für Ho­tel Uni­ver­so, gro­ßer, al­ter Ka­sten. Ho­le mein Ge­päck am Bahn­hof – das Durch­que­ren der Stadt­mau­er als Er­leb­nis. Fin­de den schön­sten Platz der Stadt, Piaz­za Am­fi­teat­ro, ent­decke ‘Bar­al­la’, be­kom­me dort ei­nes der be­sten Es­sen seit Menschen­gedenken, un­ver­gess­lich gut. Und of­fe­ner Rot­wein aus ei­nem Faß ab­ge­zapft. Das im­po­niert mir so, wenn Men­schen ih­ren Be­ruf so aus­üben, so ERNST neh­men, wie die ‘Baralla’-Besitzer. Schwan­kend in mein Ho­tel… Wei­ter­le­sen


  1. Gemeint ist die Arbeit an der Lebensgeschichte Franz Werfels, 1987 bei S. Fischer erschienen

Viel­leicht ein paar Än­de­run­gen?

Die letz­ten Wo­chen ha­ben ge­zeigt: Tex­te, die nicht Buch­be­spre­chun­gen von Neuer­scheinungen sind, wer­den eher kom­men­tiert und dis­ku­tiert als die ei­gent­li­chen »Be­gleit­schrei­ben«.

Der Grund er­scheint mir klar: Die be­spro­che­nen Bü­cher sind fast im­mer Neuer­scheinungen. Be­vor man mei­nen Text kom­men­tiert, müss­te man das Buch ge­le­sen ha­ben – vor al­lem, wenn man wi­der­spre­chen möch­te. Cross­posts, d. h. »Dop­pel­sen­dun­gen« – so­wohl bei »Glanz und Elend« als auch hier – sind je­doch aus tech­ni­schen Grün­den even­tu­ell so­gar pro­ble­ma­tisch, wie ich mir ha­be sa­gen las­sen. Such­ma­schi­nen re­agie­ren hier­auf mit dem schlimm­sten, was sie kön­nen: mit Igno­ranz. Hin­zu kommt, dass ich Cross­posts nicht be­son­ders mag.

Was al­so tun? Mei­ne Idee: Die Buch-Be­gleit­schrei­ben wer­den bei »Glanz und Elend« (oder, in Aus­nah­me­fäl­len, auf ei­ner an­de­ren Platt­form) pu­bli­ziert. (Aus­nah­men be­stä­ti­gen die Re­gel.) Hier im Blog wer­den Es­says, Auf­sät­ze, Po­le­mi­ken, Ta­ge­buch­ein­tra­gun­gen, viel­leicht so­gar Feuil­le­tons und ge­le­gent­lich Fik­tio­na­les ge­po­stet – ei­gent­lich wie bis­her. Wei­ter­le­sen

Der gro­sse Rad­datz

»Ge­strei­chelt wor­den bin ich in mei­nem Le­ben nicht«

Die Au­to­bio­gra­phie und die Ta­ge­bü­cher von Fritz J. Rad­datz zei­gen nicht nur ei­ne längst ver­sun­ke­ne Welt der bun­des­deut­schen Nach­kriegs-Li­te­ra­tur­bo­hè­me. Wer ge­nau liest, ent­deckt ei­nen auf­rech­ten und emp­find­sa­men In­tel­lek­tu­el­len – und ei­nen groß­ar­ti­gen Schrift­stel­ler

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002-2012

Fritz J. Rad­datz:
Ta­ge­bü­cher 2002–2012

Da sind sie al­so end­lich: Die letz­ten Ta­ge­bü­cher von Fritz J. Rad­datz, 2002–2012 (TB II), knapp vier Jah­re nach den er­sten von 1982–2001 (TB I) und ins­ge­samt elf Jah­re nach Rad­datz’ Au­to­bio­gra­phie »Un­ru­he­stif­ter« (UST), die ja auch zu ei­nem gro­ßen Teil auf Tagebuch­aufzeichnungen be­ruht. Da liegt al­so ein Le­ben in Selbst­zeug­nis­sen auf mehr als 2000 Sei­ten vor – ein Le­ben ei­nes deut­schen In­tel­lek­tu­el­len, der gleich­zei­tig so gra­vi­tä­tisch »un­deutsch« war: gut ge­klei­det, al­len Mo­den trot­zend, streit­bar bis ‑lu­stig, stil­voll, ein Äs­thet – von der Tisch­de­ko­ra­ti­on, den »rich­ti­gen« Spei­sen und Ge­trän­ken, ed­ler Kunst, der Kunst der Plau­de­rei bis hin zum schar­fen Dis­put. Kurz­um: Al­les das, was man spä­te­stens in den 70ern als »spie­ßig« galt, als lang­wei­lig, gar re­ak­tio­när. Al­len­falls Rad­datz’ of­fen­si­ves Be­kennt­nis zu sei­ner Bi- bzw. Ho­mo­se­xua­li­tät pass­te nicht so ganz in die­ses Kli­schee.

[...]

Der gan­ze Bei­trag hier bei »Glanz und Elend«

Jörn Birk­holz: Schach­brett­ta­ge

Jörn Birkholz: Schachbretttage

Jörn Birk­holz: Schachbrett­tage

Be­ne­dikt Buch­holz ist 37 Jah­re alt hat sei­nen er­sten Ro­man mit dem Ti­tel »De­ran­giert« ge­schrie­ben. Buch­holz ver­lässt sich nicht auf sei­nen Ver­lag, son­dern te­le­fo­niert Buch­händ­ler ab, ob sie sei­nen Ro­man nicht in ihr Sor­ti­ment über­neh­men möch­ten. Spä­ter wird er noch ein­mal ei­ne sol­che Rund­ruf­ak­ti­on star­ten und nach Mög­lich­kei­ten für ei­ne Le­sung fra­gen. »Schachbrett­tage« be­ginnt mit den Te­le­fon­dia­lo­gen zwi­schen Au­tor und Buch­hand­lun­gen aus al­len Re­gio­nen Deutsch­lands. Da­bei kom­men al­le denk­ba­ren Miss­ver­ständ­nis­se vor, wo­bei das stän­di­ge Ver­ball­hor­nen des ja äu­ßerst kom­pli­zier­ten Na­mens Buch­holz noch das harm­lo­se­ste ist. Ins­be­son­de­re die Re­ak­tio­nen Be­ne­dikts sind min­de­stens gro­ßer Rund­funk und er­in­nern in ih­rer la­ko­ni­schen Ko­mik zu­wei­len an den gro­ßen Mei­ster des Hu­mors: Lo­ri­ot. Vor al­lem, weil al­les nur ein ganz klei­nes biss­chen über­trie­ben zu sein scheint. Wei­ter­le­sen