Ma­thi­as Énard: Kom­pass

Mathias Enard: Kompass

Ma­thi­as Enard: Kom­pass

Schon 2010, in sei­nem opu­len­ten wie fa­mo­sen Werk »Zo­ne« hat­te sich Ma­thi­as Énard ei­ner Re­gi­on ver­schrieben, dem Mit­tel­meer, mach­te es zum my­thi­scher Raum, durch­maß ihn von Tan­ger bis Ga­za und al­les was von oder nach der »Zo­ne« kommt und das, was sich in »ihr« ab­ge­spielt hat­te, wur­de ob­ses­siv an­ge­saugt und er­zäh­le­risch ver­ar­bei­tet. Énard brauch­te hier­für ei­ne zwie­lich­ti­ge Fi­gur, ei­nen Kriegs­ver­bre­cher und Spi­on, der die Welt als ei­ne Ab­fol­ge von Hass und Ge­walt de­fi­nier­te und Ge­schichts­li­ni­en und Er­eig­nis­se von 218 vor Chri­stus bis zu den Mas­sa­kern der di­ver­sen Ju­go­sla­wi­en-Krie­ge der 1990er Jah­re her­an­zog und mit­ein­an­der ver­band, ge­treu dem Mo­tiv der Haupt­fi­gur, die »Ge­schich­te ist ei­ne Er­zäh­lung von rei­ßen­den Tie­ren, ein Buch, in dem auf je­der Sei­te Wöl­fe vor­kom­men« und so ist auch die­ses Buch, atem­los, ex­pres­siv, nicht ganz oh­ne Punkt und Kom­ma, son­dern nur oh­ne Punkt; die 600 Sei­ten be­stehen aus viel­leicht zwei Dut­zend ab­ge­schlos­se­nen Sät­zen, al­les steht hin­ter- und ne­ben­ein­an­der, ein Sog, der fes­sel­te, ab­stieß und an­zog und das al­les gleich­zei­tig.

Und nun al­so »Kom­pass« und die Zo­ne ist dies­mal nicht das Mit­tel­meer son­dern der Ori­ent; es gibt al­so Schnitt­men­gen aber nur geo­gra­phi­sche, aber es ist al­les an­ders. In »Zo­ne« wird die Höl­le er­zählt, per­so­nal aus Sicht ei­ner Per­son, wäh­rend ei­ner mehr­stündigen Zug­fahrt. In »Kom­pass« ist es ein ir­di­sches Pa­ra­dies, evo­ziert von ei­nem Ich-Er­zäh­ler, dem öster­rei­chi­schen Mu­sik­wis­sen­schaft­ler Franz Rit­ter, der schlaf­los in ei­ner Nacht in Wien sein Le­ben re­ka­pi­tu­liert, nicht nur aber auch weil er ei­ne töd­li­che Dia­gno­se sei­nes Arz­tes er­hal­ten hat. Er­staun­lich, wie we­nig man am En­de über Rit­ter als Per­son weiß. Aka­de­misch ist er ein Schü­ler von Jean Du­ring und nach ei­ge­ner Aus­sa­ge glück­lich, dem 20. Jahr­hun­dert »wi­der­stan­den« zu ha­ben (was sich dann be­wahr­hei­tet). Al­les an­de­re Per­sön­li­che bleibt dif­fus, selbst sein Al­ter muss man schät­zen (sei­ne Mut­ter ist 75), aber auf die Per­son Rit­ter kommt es ei­gent­lich gar nicht an, ob­wohl das Buch auch ei­ne Lie­bes­ge­schich­te ist (üb­ri­gens kei­nes­falls die Ge­schich­te ei­ner nur ge­schei­ter­ten Lie­be, wie so man­che Re­zen­sen­ten dies hin­ein- oder her­aus­le­sen). Die Lie­be sei­nes Le­bens, der Kom­pass sei­ner Ob­ses­si­on, ist die am En­de Mitt­vier­zi­ger Ori­en­ta­li­stin Sa­rah (es bleibt beim Vor­na­men), ei­ne »no­ma­di­sche Aka­de­mi­ke­rin«, rot­haa­rig, ge­bil­det, wis­sens­dur­stig, the­sen­freu­dig, per­fekt ara­bisch und per­sisch spre­chend, ei­ne »glän­zen­de Kar­rie­re« ma­chend, ein­ge­la­den auf »pre­sti­ge­träch­ti­gen Kol­lo­qui­en« welt­weit – al­les in Al­lem gu­te Vor­aus­set­zun­gen. Wei­ter­le­sen

An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Andreas Maier: Der Kreis

An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Ich er­in­ne­re mich an das er­ste Buch der so­ge­nann­ten Wet­ter­au-Chro­no­lo­gie, die bald den Ti­tel »Ortsum­gehungen« be­kam (oder oh­ne mein Wis­sen be­reits hat­te). Es war der Ro­man »Das Zim­mer« aus dem Jahr 2010, in dem An­dre­as Mai­er so leicht und wahr­haf­tig meh­re­re Ebe­nen ne­ben- und schließ­lich so­gar mit­ein­an­der ver­schmolz. So ver­fei­ner­te er sei­ne kurz zu­vor er­schie­ne­ne »On­kel J.«-Erzählung, ent­warf fast wie ne­ben­bei ei­ne Kultur‑, Mentalitäts‑, Ar­beits- und Lo­kal­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik der 1970er Jah­re aus hes­si­scher Re­gio­nal­per­spek­ti­ve, evo­zier­te Hö­he­punk­te sei­ner Kind­heit und Ju­gend und stürz­te sich schließ­lich in ei­ner Mi­schung aus Me­lan­cho­lie und Wut in die Ge­gen­wart und em­pör­te sich über die Ver­schan­de­lung der Wet­ter­au (und be­son­ders des »Wichs­buschs«) durch al­ler­lei Um­ge­hungs- und son­sti­ge Stra­ßen.

Die wei­te­ren Bän­de der »Orts­um­ge­hun­gen« er­schie­nen da­nach in ra­scher Fol­ge: 2011 »Das Haus«, 2013 »Die Stra­ße«, 2015 »Der Ort« und nun, 2016 »Der Kreis«. Die ein­zel­nen Bü­cher bil­den kei­ne zeit­li­che Chro­no­lo­gie, son­dern sind locker the­ma­tisch sor­tiert. Nicht nur Ina Hart­wig und Jörg Ma­ge­nau, die schein­bar je­den Band Mai­ers be­spre­chen, schwel­gen re­gel­mä­ßig in Su­per­la­ti­ven. Auch mit ei­ni­ger Mü­he ha­be ich kei­ne se­riö­se ne­ga­ti­ve Kri­tik ge­fun­den (Ama­zon aus­ge­nom­men). Ver­mut­lich hat das auch da­mit zu tun, dass Mai­er fast im­mer in et­wa der Ge­ne­ra­ti­on der je­wei­li­gen Kri­ti­ker an­ge­hört; man blickt auf mehr oder we­ni­ger den glei­chen Er­eig­nis­ho­ri­zont zu­rück. Und viel­leicht wa­ren ja Kind­heit und Ju­gend in ei­ner bür­ger­li­chen Fa­mi­lie in Ham­burg oder Frank­furt in den 1970er und 1980er Jah­ren ent­ge­gen der An­nah­men nicht we­sent­lich an­ders als in der Wet­ter­au-Klein­stadt. Die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­te in Mu­sik, Li­te­ra­tur und Thea­ter wa­ren nicht zu­letzt durch die Me­di­en längst uni­ver­sell. In den Elo­gen auf Mai­ers Tex­te ist dem Feuil­le­ton kei­ne Re­fe­renz zu groß, kein Ver­gleich zu ge­wagt, ob es Proust ist oder Bal­zac, auch Knaus­gård, und na­tür­lich Tho­mas Bern­hard, mit dem Mai­er ja mehr als nur äs­the­ti­sche Sym­pa­thie ver­bin­det (er hat über ihn pro­mo­viert).

Der Be­zug auf den öster­rei­chi­schen Dich­ter ist auch hin­sicht­lich der Kri­tik Mai­ers an Bern­hards so­ge­nann­ten au­to­bio­gra­phi­schen Schrif­ten von In­ter­es­se. Mai­er hat­te Bern­hard vor­ge­wor­fen, die­se Bü­cher sei­en »wi­der­sprüch­li­che He­roi­sie­run­gen der ei­ge­nen Per­son, er­mög­licht durch ei­nen dop­pel­bö­di­gen Um­gang mit un­se­rem all­tags­sprach­li­chen Wahr­heits­be­griff«. Nicht nur den Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jan Sü­sel­beck hat­te die­ser Pas­sus ver­wun­dert, be­geht Mai­er hier doch so et­was wie ei­nen An­fän­ger­feh­ler, in dem er Li­te­ra­tur mit Do­ku­men­ta­ris­mus ver­wech­selt. Selbst wenn der Ein­druck ei­ner nach­prüfbaren Rea­li­tät er­weckt wer­den soll­te, wird er spä­te­stens durch die Genre­bezeichnung »Ro­man« ni­vel­liert bzw. kon­ter­ka­riert. Fast scheint es so, als sei Mai­er zor­nig auf sei­ne ei­ge­nen vor­ei­lig-feh­ler­haf­ten Deu­tun­gen der Pro­sa Bern­hards ge­we­sen. Wei­ter­le­sen

Zick­zack

Ein Brumm­ge­räusch wie von ei­nem un­sicht­ba­ren Bom­ber hoch oben in den Lüf­ten. Der Brum­mer wird sicht­bar, kommt ins Bild, in den Raum, nä­hert sich dem Kör­per des sit­zen­den Man­nes, sei­ner un­ge­schütz­ten Haut. Ha­stig greift er nach sei­ner Jacke, zieht sie über sei­nen Kopf, sei­nen Nacken. Die Hor­nis­se be­rührt sei­ne jetzt ge­schütz­te Schul­ter, sie ist et­wa halb so groß wie sei­ne Faust, das hat sein letz­ter Blick er­späht. Letz­tes Jahr wur­de er von ei­ner an­ge­grif­fen. Sie hat­te ihn mehr­mals um­kreist, bis sie sich von hin­ten auf sei­nen Nacken stürz­te und zu­stach, ehe sie die Flucht er­griff.

Die Hor­nis­se hier fliegt wei­ter, aber sie wird zu­rück­keh­ren, wahr­schein­lich zieht sie jetzt grö­ße­re Krei­se um den vor sei­nem Tem­pel­hütt­chen Sit­zen­den. Der Pflan­zen­saft ei­nes der Bäu­me schräg vor ihm zieht sie an: wo­mög­lich sieht sie den Mann als Kon­kur­ren­ten. Wäh­rend er sich auf ei­nen neu­er­li­chen An­griff vor­be­rei­tet, oder bes­ser, wäh­rend er ver­sucht, sich zu be­ru­hi­gen, oder bes­ser, wäh­rend er sich in sein Schick­sal fügt, des­sen Fort­gang er nicht kennt, sinkt sein Blick auf den ge­stampf­ten, von ge­fal­le­nen Blät­tern, Na­deln und Zwei­gen über­sä­ten Lehm­bo­den, hebt sich dann aber jäh, weil sei­ne Oh­ren glau­ben, das Brum­men wie­der zu hö­ren (da­bei ist es ein Fahr­zeug­ge­räusch un­ten im Tal?), sinkt von neu­em, trifft auf ei­nen weiß­li­chen Fal­ter, der sich dort be­wegt. Nein, be­wegt wird: der Fal­ter von ei­ner ein­zel­nen Amei­se be­wegt, die bald un­ter, bald über den Flü­geln ist und ih­re Beu­te mit al­ler Macht – mit der Macht der Ge­wohn­heit – vor­an­zu­brin­gen ver­sucht. Bei ei­nem Men­schen wür­de man sa­gen, er tau­melt, ja, er ku­gelt, doch das In­sekt geht sei­ner Be­schäf­ti­gung mit ei­nem Ernst und ei­ner ent­fes­sel­ten En­er­gie nach, die sol­che Aus­drücke ver­bie­ten.

An ei­ner Stel­le, wäh­rend die Oh­ren das Rau­schen ei­nes Pas­sa­gier­flug­zeugs hoch über den Wip­feln ver­neh­men, hält die Amei­se in­ne; ei­ne an­de­re kommt her­an, in­spi­ziert den Fal­ter, die bei­den schei­nen sich über die ge­eig­ne­te Trans­port­me­tho­de zu ver­stän­di­gen, ehe die zwei­te Amei­se un­ter die Fal­ter­flü­gel huscht, um sie wei­ter­zu­be­we­gen. Im Zick­zack, un­re­gel­mä­ßi­ger als vor­her, so dass ich mich fra­ge, ob die In­sek­ten – zwei oder drei (oder mehr, die an­de­ren nicht in un­se­rem Ge­sichts­kreis) be­ob­ach­ten die Sze­ne, zum Ein­springen be­reit – ob die In­sek­ten tat­säch­lich ein Ziel ha­ben, auf das sie zu­steu­ern. Noch ein­mal wird die Beu­te über­ge­ben, ehe sich her­aus­stellt, wo­hin der – not­wen­di­ge? – Um­weg führt: zum moos­be­wach­se­nen Sockel ei­ner To­ten­la­ter­ne, dort senk­recht hin­auf, aber nur zwei Span­nen weit, dann ist das für mein Au­ge gar nicht er­kenn­ba­re Ziel er­reicht. Die weiß­li­chen Fal­ter­flü­gel ver­schwin­den im Moos­grün, in ei­ner dunk­len Wohn- und Werk­stät­te, wo der un­ver­meid­li­che Vor­gang zu En­de ge­bracht wird.

Schon seit ei­ner Wei­le ist das Brum­men wie­der zu hö­ren, die Hor­nis­se streicht in der Baum­kro­ne von Blatt zu Blatt. Läßt ab vom Saft, schwingt sich plötz­lich her­ab, um­kreist den Sit­zen­den, aber der hat zu tun, hat von Tod und Le­ben zu be­rich­ten. Er ver­gißt dar­auf, sich zu schüt­zen, und ver­folgt – nein: be­wegt das Zick­zack der Buch­sta­ben, die an ir­gend­ein Ziel müs­sen, in ei­ne un­ter­ir­di­sche Wohn- oder Werk- oder Ru­he­stät­te, wo­hin denn, es stellt sich noch nicht her­aus. Das Brum­men, zwei Hor­nis­sen, das stär­ke­re Brum­men, drei oder vier, ein Ge­schwa­der. Und jetzt: in der Luft vor den Baum­blät­tern flat­tert, wie­der­ge­bo­ren, ein weiß­li­cher Fal­ter.

© Leo­pold Fe­der­mair

Hell-Dun­kel (8 Uhr 15)

In der Schu­le wur­de den Kin­dern ein Film über den Atom­bom­ben­ab­wurf und sei­ne Fol­gen ge­zeigt. Die Leh­re­rin mein­te, es sei not­wen­dig, daß sie das sä­hen, da­mit je­der von ih­nen ver­ste­he, dass Krieg et­was Schreck­li­ches sei. Die Leh­re­rin wein­te am En­de; die Kin­der nicht, au­ßer ei­nem Jun­gen, der nur ein biß­chen wein­te. Ei­ni­ge hat­ten beim Se­hen Angst, an­de­re nicht oder kaum. Von Yu­ya-kun ist in der Schu­le nicht ge­spro­chen wor­den.

Mei­ne Toch­ter hat die Angst nach Hau­se ge­tra­gen. Am mei­sten be­ein­druckt ha­ben sie Sze­nen, in de­nen Strah­len­op­fer ih­re Au­gen ver­lie­ren. Am Abend vor dem Ein­schla­fen frag­te sie mich mehr­mals, ob ich noch Au­gen ha­be. Mit den Fin­gern be­ta­ste­te sie die Aug­äp­fel un­ter den Li­dern.

Am 6. Au­gust muß ich um 8 Uhr 15 bei ihr sein. Im Knie­sitz, auf den ei­ge­nen Fer­sen, ver­har­ren wir mit ge­schlos­se­nen Au­gen auf dem Fu­ton, aus dem Tran­si­stor­ra­dio kommt trau­ri­ge Strei­cher­mu­sik. Auch ih­re Mut­ter, mei­ne Frau, ist bei uns, wir ge­hö­ren zu­sam­men. Drei Sit­zen­de mit ge­schlos­se­nen Au­gen, ge­senk­tem Kopf. Wir den­ken an die To­ten, das ist un­ser Vor­satz, aber ich den­ke an den Raum, se­he den Raum über der Stadt, ein ab­strak­tes Bild. Spü­re das Dun­kel rechts, die Hel­le links, das Hell-Dun­kel vor mir. Auch das Ge­den­ken, über die Jah­re hin­weg, ist hier be­harr­lich.

© Leo­pold Fe­der­mair

Ge­denk­tag

Heu­te sit­ze ich auf drei ho­ri­zon­tal ne­ben­ein­an­der lie­gen­den lan­gen, kräf­ti­gen, grau­en und trocke­nen Bam­bus­stäm­men. Hin­ter der Haupt­hüt­te des Schreins hat man sie auf zwei Gra­nit­stei­ne ge­stützt, die sich in der Nä­he ih­rer glatt ge­schnit­te­nen En­den be­fin­den, so daß ei­ne lan­ge, freie Mit­te ent­steht (die auch bei star­ker Be­la­stung nicht durch­hängt). Die Stäm­me sind ge­nau so hoch über dem von to­tem Laub be­deck­ten Erd­bo­den, daß ich be­quem sit­zen kann, die Bei­ne im rech­ten Win­kel, die Soh­len auf dem Bo­den. Aber als Sitz­bank ist die Vor­rich­tung nicht ge­dacht, es ist über­haupt kei­ne Vor­rich­tung, nur der hin­te­re, fast or­na­men­ta­le Ab­schluß des Schreins, denn die Län­ge der Bam­bus­stäm­me ent­spricht ge­nau der Grund­riß­län­ge des Holz­ge­bäu­des (das heißt, die Stäm­me ste­hen seit­lich ein we­nig vor, gleich­mä­ßig links und rechts, bis zu der gra­ni­te­nen Ein­fas­sung des Bo­dens). Die Stäm­me schei­nen ei­ne Art Re­ser­ve zu sein. Aber wo­für? Für die Tex­te, die ich hier schrei­be? Lan­ge, sehr lan­ge Buch­sta­ben? Schrift­ge­he­ge?

Mei­ne Toch­ter ist jetzt, wäh­rend ich auf den ge­fäll­ten Bam­bus­stäm­men sit­ze, den Com­pu­ter auf dem Schoß, in der Schu­le, ei­nen Tag vor dem Ge­denk­tag des Atom­bom­ben­ab­wurfs, in den Som­mer­fe­ri­en. Auch da­mals wa­ren Som­mer­fe­ri­en, die Kin­der ar­bei­te­ten in Kriegs­fa­bri­ken. Ich blicke auf, schaue zu den senk­rech­ten, kräf­ti­gen, gelb­li­chen Bam­bus­stäm­men in der Halb­di­stanz und weiß mei­ne Toch­ter in Si­cher­heit. Ich glau­be uns in Si­cher­heit, wäh­rend all das ge­schieht und ge­sche­hen kann. Ich er­in­ne­re uns an Yu­ya, ih­ren Schul­freund, ge­tö­tet von ei­nem Au­to­mo­bil, des­sen Fah­rer ei­nem Mo­bil­te­le­phon sei­ne Auf­merk­sam­keit schenk­te, aber nicht Yu­ya-kun, der jetzt für im­mer fehlt.

Das war vor we­ni­gen Wo­chen. Es gibt kei­ne Si­cher­heit, aber den Glau­ben und das zeit­wei­li­ge Ge­fühl.

© Leo­pold Fe­der­mair

Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Colin Barrett: Junge Wölfe

Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Sie hei­ßen Tug, Mark, Jim­my, Val, Bat, Arm oder Owen. Mut­ter und Va­ter sind Ma und Pa. Man ist in Ir­land, der At­lan­tik ist rau und die Or­te wie zum Bei­spiel Glen­beigh ha­ben ein paar Ein­woh­ner und »ei­ne Hun­dert­schaft Pubs«. Je­der kennt je­den. Gal­way oder gar Dub­lin sind exo­ti­sche Bio­to­pe. Wenn Stu­den­ten im Som­mer zum Geld­ver­die­nen und Fei­ern kom­men ist man froh, dass sie da sind aber auch froh, wenn sie wie­der ab­rei­sen.

Das ist das Set­ting von »Jun­ge Wöl­fe«, dem Er­zähl­band des 1982 ge­bo­re­nen, in Dub­lin le­ben­den Co­lin Bar­rett. Das Co­ver zeigt die Si­tua­ti­on in der er­sten Er­zäh­lung »Der klei­ne Clan­cy«. Ei­ne Dorf­ju­gend am »Tag der Läu­te­rung« nach dem »drei­tä­gi­gen Ab­nut­zungs­fest« des Wochen­endes. Jim­my sieht sei­ne Ex-Freun­din Mar­le­ne mit Mark. Man fei­ert. Jim­mys Freund ist Tug, mit sei­nen Bären­kräften und der Ein­falt des Gut­mü­ti­gen ei­ne Art Dorf-Obe­lix. Als er sieht, dass Jim­my sich über Mar­le­ne är­gert, wirft er kur­zer­hand Marks Au­to um und mit Lip­pen­stift schreibt Jim­my dann noch »Hei­ra­te mich« dar­auf. Statt nun die Aus­wir­kun­gen die­ses Vor­falls wei­ter zu be­ob­ach­ten, bleibt Bar­rett bei Tug und Jim­my. Tug ist an­ge­rührt von der Ge­schich­te ei­nes 10jährigen Jun­gen, der seit drei Mo­na­ten ver­misst wird. Auf ih­rem Weg be­geg­nen die bei­den spie­len­den Kin­dern, die ei­ne Brücke als Stütz­punkt »einge­nommen« ha­ben. Dies regt die Phan­ta­sie ob das Schick­sal des ver­miss­ten Jun­gen noch mehr an. Und dann ist auch schon Schluss: Was als Knei­pen­sto­ry be­gann en­det als schwer­mü­ti­ge Ver­miss­ten­er­zäh­lung. Wei­ter­le­sen

Moos auf den Stei­nen

Moos auf den Stei­nen, das Buch die­ses Ti­tels stand vie­le Jah­re in mei­nem Bü­cher­re­gal, aber ge­le­sen ha­be ich es nie. Da­bei stell­te ich mir vor, der Ver­fas­ser ge­hö­re zu mei­nen Ah­nen; fast so, als könn­te ich oh­ne ihn, oh­ne die Lek­tü­re sei­nes Buchs über­haupt nie et­was schrei­ben (und wie lan­ge ha­be ich nichts ge­schrie­ben, nach­dem der ju­gend­li­che Über­schwang vor­bei war). Ich nahm es im­mer wie­der zur Hand, strich über sei­nen Deckel, sei­nen Rücken, sei­ne Stirn, oh­ne dar­in zu blät­tern. Als woll­ten mei­ne Fin­ger das Moos an die­sem Buch er­ta­sten: ma­te­ri­ell, nicht sym­bo­lisch. Aber auf dem Lei­nen wuchs kein Moos.

Jetzt wächst es, hier vor mir, um mich her­um, über­all. Auf dem Stein der To­ten­la­ter­ne, des Ge­län­ders, der Säul­chen; auf dem Holz, auf dem Platz, wo ich sit­ze, auf der ge­stampf­ten Er­de und der locke­ren Er­de, in der Re­gen­rin­ne und den Ab­bruch hin­auf, um im Schat­ten, im Wald, im Dun­kel zu ver­schwin­den. Aber wächst es denn wirk­lich? Wächst es in der Wirk­lich­keit – oder nicht doch im Buch, in sei­nem, mei­nem, je­dem Buch? Wenn, dann wächst es lang­sam, un­merk­lich, nicht in Ta­ges­schnel­le wie die Grä­ser, die Bambus­sprossen, die Far­ne. Wahr­schein­lich braucht es Jah­re, oder Jahr­hun­der­te, das wald­grü­ne, licht­grü­ne, was­ser­grü­ne, erd­grü­ne, oliv­graue, nacht­sil­ber­ne, reis­stroh­far­be­ne Moos. Oder es gleicht schon – oder längst – dem Stein, hat sich die­sem an­ver­wan­delt, ist stei­nern ge­wor­den, so daß es nun frei ist von der Mü­he des Wach­sens und Ver­ge­hens, jen­seits von Le­ben und Tod.

Moos auf den Stei­nen, das Buch exi­stiert, lebt wei­ter in mei­nem Kopf und vor mei­nen Au­gen, schreibt sich un­ge­le­sen fort in die­ser und je­ner Wirk­lich­keit. Viel­leicht ha­be ich es da­mals, als der Über­schwang schwand, un­will­kür­lich er­kannt und sei­ne Bot­schaft auf­ge­nom­men: Lies mich nicht! Geh zu den Stei­nen, geh in den Wald, be­rüh­re das näch­ste, das näch­ste, das näch­ste. Es ist ein lan­ger Weg, aber auch: In ei­nem an­de­ren Le­ben tränkt das Moos den Stein.

Kar­sten Kram­pitz: 1976 – Die DDR in der Kri­se

Karsten Krampitz: 1976

Kar­sten Kram­pitz: 1976

»1976« lau­tet der Ti­tel. Dar­un­ter »Die DDR in der Kri­se«. Da schüt­telt man sich erst ein­mal als in West­deutsch­land so­zia­li­sier­ter Mensch. 1976? Nicht et­was 1989? Gut, die Bier­mann-Aus­bür­ge­rung ist noch prä­sent. Und mit ein we­nig Nach­den­ken auch noch der Ar­rest für Ro­bert Ha­ve­mann. Schon schwie­ri­ger wird es mit der Er­in­ne­rung an die Selbst­ver­bren­nung des Pfar­rers Os­kar Brü­se­witz. Ver­ges­sen (falls je­mals ge­wusst) die Kon­fe­renz der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei­en in Ost-Ber­lin. Noch exo­ti­scher: der IX. Par­tei­tag der SED. Und das Hon­ecker von Stoph das Amt des Staats­rats­vor­sit­zen­den über­nahm und da­mit die voll­kom­me­ne Macht­fül­le bei­der Äm­ter (General­sekretär der SED und fak­ti­sches Staats­ober­haupt) auf sich ver­ei­nig­te, hat­te man da­mals nicht mit­be­kom­men – zu deut­lich war die Au­ßen­wahr­neh­mung auf Hon­ecker ge­rich­tet.

All das ge­schah 1976. Und Kar­sten Kram­pitz fin­det noch wei­te­re in­ter­es­san­te Be­ge­ben­hei­ten aus die­sem Jahr wie den Tod von Mi­cha­el Gar­ten­schlä­ger, ei­nem DDR-Flücht­ling, der vom We­sten aus wie­der in das DDR-Grenz­ge­biet ein­drang und Selbst­schuss­an­la­gen de­mon­tier­te und ver­äu­ßer­te. Er wur­de bei ei­ner sol­chen Ak­ti­on er­schos­sen. Da wa­ren die Olym­pi­schen Som­mer­spie­le 1976 in Mont­re­al, bei de­nen der DDR mit Platz 2 im Me­dail­len­spie­gel hin­ter der So­wjet­uni­on end­gül­tig der Durch­bruch als Sport­welt­macht ge­lang; nie mehr – auch bei den Boy­kott-Spie­len 1980 – er­reich­te man so vie­le Gold­me­dail­len. Au­ßen­po­li­tisch pein­lich wur­de der Tod ei­nes ita­lie­ni­schen LKW-Fah­rers an der deutsch-deut­schen Gren­ze, der sich le­dig­lich im Grenz­ge­biet ver­irrt hat­te – und auch noch Kom­mu­nist war. Span­nend Kram­pitz’ Fund­stück ei­nes Gedächtnis­protokolls des da­mals 35jährigen Pfar­rers Lo­thar Vos­berg, der den Be­such zwei­er MfS-Män­ner re­ka­pi­tu­lier­te und an sei­ne Vor­ge­setz­ten mel­de­te.
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