Das Re­gime Pu­tin

Be­mer­kun­gen zu sechs Bü­chern

John Sweeney: Der Killer im Kreml
John Sweeney: Der Kil­ler im Kreml

Der Bri­te John Sweeney, jah­re­lan­ger BBC-Re­por­ter und ein er­fah­re­ner Kriegs­be­richt­erstat­ter, ist 64 Jah­re alt. Er hat mehr als 240.000 Fol­lower auf Twit­ter und trägt zu­meist ei­ne oran­ge Müt­ze. Er war im Fe­bru­ar 2022 in der Ukrai­ne, in Kiew (ich blei­be bei die­ser Schreib­wei­se) und er­leb­te den Kriegs­be­ginn haut­nah mit. Sei­ne jah­re­lan­ge Be­schäf­ti­gung mit Wla­di­mir Pu­tin und die Er­fah­run­gen auch in die­sem neu­en Krieg (er fuhr un­ter an­de­rem nach But­cha) hat er nun zu ei­nem mehr als 300seitigen Buch mit dem rei­ße­ri­schen Ti­tel »Der Kil­ler im Kreml« zu­sam­men­ge­fasst. Es wird, so der Un­ter­ti­tel, »Wla­di­mir Pu­tins skru­pel­lo­ser Auf­stieg und sei­ne Vi­si­on vom groß­rus­si­schen Reich«, be­han­delt.

Sweeney kennt Pu­tins Kriegs­füh­rung, war in den 2000er Jah­ren mehr­mals in Tsche­tsche­ni­en, be­rich­te­te von Zi­vi­li­sten, die un­ter Ar­til­le­rie­feu­er flie­hen muss­ten, ob­wohl ih­re Eva­ku­ie­rung an­ge­mel­det war und sich mit wei­ßen Fah­nen be­weg­ten. Er war bei der Ab­schuss­stel­le der MH17 und sah Grau­si­ges. Für ihn ist Pu­tin nie­mand, der sich ver­än­dert hat – sei­ne Bru­ta­li­tät war schon im­mer da. Die Bom­ben­an­schlä­ge auf Wohn­häu­ser in Mos­kau 1999, die Gei­sel­nah­men im Du­brow­ka-Thea­ter 2002 und Be­slan 2004 – al­les Ter­ror­an­schlä­ge, die nach of­fi­zi­el­ler Les­art von tsche­tsche­ni­schen Ter­ro­ri­sten ver­übt wor­den wa­ren, aber, so ei­ni­ge In­di­zi­en Sweeneys, in Wirk­lich­keit »schwar­ze Ope­ra­tio­nen« des rus­si­schen In­lands­ge­heim­dien­stes wa­ren, um die Bru­ta­li­tät im Krieg in Tsche­tsche­ni­en zu recht­fer­ti­gen und Pu­tin als »star­ken Mann« zu zei­gen.

Die The­se, dass die Mos­kau­er An­schlä­ge auf Wohn­häu­ser vom FSB in­sze­niert wor­den sind, wird von der Ge­schich­te um den »ge­schei­ter­ten« An­schlag von Ra­j­san, als Zeu­gen ein­deu­tig rus­sisch-aus­se­hen­de Bom­ben­le­ger iden­ti­fi­zier­ten, ge­nährt. Auch zur Gei­sel­nah­me von 2002 gibt es zahl­rei­che Un­ge­reimt­hei­ten und un­ge­klär­te Fra­gen (die ver­mut­lich der Jour­na­li­stin An­na Po­lit­kows­ka­ya das Le­ben ge­ko­stet ha­ben könn­ten). Sweeneys Ein­las­sun­gen zu Be­slan sind hin­ge­gen eher spe­ku­la­tiv.

Da­mit wird – lei­der – das We­sen die­ses Bu­ches deut­lich. Die­se Bou­le­var­di­sie­rung ist um­so be­dau­er­li­cher, als Sweeney wirk­lich um­fang­rei­che und fak­ten­ba­sier­te In­for­ma­tio­nen über die (Un-)Taten Pu­tins und sei­ner Re­gie­rung chro­no­lo­gisch, al­ler­dings in po­pu­lä­rem Duk­tus vor­legt. Die Li­ste ist lang: An­schlä­ge, merk­wür­di­ge »Selbst­mor­de« von Op­po­si­tio­nel­len, Ver­haf­tun­gen, Mor­de, Ver­gif­tun­gen und Ver­let­zung völ­ker­recht­lich ver­bind­li­cher Gren­zen, völ­ker­mord­ähn­li­ches Vor­ge­hen in Krie­gen und die Ein­lul­lung west­li­cher Staats- und Re­gie­rungs­chefs bis hin zur Un­ter­stüt­zung rechts­na­tio­na­li­sti­scher und lin­ker Par­tei­en in der EU und der Trump-Par­tei­nah­me im US-Wahl­kampf. Das ist al­les nicht neu, aber in der Auf­zäh­lung be­ein­druckend, weil man deut­lich ge­macht be­kommt, wie die­se Vor­ge­hens­wei­sen prak­tisch schon zur Nach­rich­ten­rou­ti­ne ge­wor­den wa­ren, wo­bei die ein­zel­nen Ta­ten kurz­fri­stig für Ent­set­zen sorg­ten, am En­de je­doch wie­der rasch zum All­tag zu­rück­ge­kehrt wur­de. Manch­mal ver­blüfft Sweeney den Le­ser, in dem er schein­bar Un­wich­ti­ges be­rich­tet, wie et­wa die Li­ste der Ver­spä­tun­gen, die aus­län­di­sche Staats- und Re­gie­rungs­chefs auf Pu­tin war­ten muss­ten (man ist über­rascht, wer am läng­sten war­ten muss­te).

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Eight-Six

Im Zug die üb­li­chen Sams­tag­nach­mit­tag-Base­ball­fans in ih­ren ro­ten T‑Shirts, ro­ten Kap­pen, ro­ten Car­di­gans, ro­ten Ta­schen, ro­ten Socken, ro­ten Schlap­fen, al­les rot, nur die Ho­sen nicht, bei den Ho­sen ist grün in Mo­de, das merkt man auch hier. Ah, mein Buch paßt da­zu, die Fahrt­lek­tü­re, ein Ro­man von Phil­ip Roth, na­tür­lich in Rot. Dann Stra­ßen­bahn, Ein­kaufs­stra­ße, Shou­ten­gai, Par­co, das Kauf­haus für jun­ge Leu­te, wo ich frü­her oft ein­kau­fen war, als ich mich noch halb­wegs jung fühl­te, plau­dern mit mei­ner Lieb­lings­ver­käu­fe­rin, die ich neu­lich vor ei­nem Ca­fé ge­trof­fen ha­be, sie ar­bei­tet schon lan­ge nicht mehr in der Bou­tique.

»Und jetzt?«

»Hier in der Ge­gend.«

»Da gibt es doch nichts.«

Sie hat sich schon frü­her für schicke Au­tos in­ter­es­siert, und hier, wo es nichts gibt, gibt es nicht we­ni­ge Zu­lie­fe­rungs­fir­men für Mat­su­da, auf deutsch Maz­da.

Wir lach­ten, gin­gen un­se­rer We­ge. Die Bou­tique im Par­co ist nicht mehr das, was sie war. Die Ge­schäfts­lei­tung der Ket­te, zu der sie ge­hört, woll­ten sie noch mehr ver­jün­gen, jetzt ste­hen dort däm­li­che Jungs mit tou­pier­ten Fri­su­ren als Ver­käu­fer her­um, le­ben­de Schau­fen­ster­pup­pen, we­nig Kun­den. Ich muß oh­ne­hin in den zehn­ten Stock, den letz­ten. Club Quat­tro, hät­te ich im Kel­ler er­war­tet, Goog­le Maps spe­zi­fi­ziert das nicht, ist aber oben über den Dä­chern der Stadt. Was man dann gar nicht merkt, wenn man ein­mal drin ist in der Bu­de. Fen­ster­lo­se Sä­le die­ser Art ha­ben al­le­samt et­was von den al­ten Beat-Kel­lern, Gott hab sie se­lig. Kühl, ge­dämpft, nicht zu groß nicht zu klein, vor­ne Steh­pu­bli­kum, hin­ten Sitz­plät­ze an zwei lan­gen The­ken. An den Sei­ten­wän­den drei ver­grö­ßer­te Fo­tos, die wie Vor­hän­ge wir­ken, rechts die Sze­ne­rie des zer­stör­ten Hi­ro­shi­ma im Au­gust 1945, dar­un­ter ein neu­es Fo­to des­sel­ben Orts, die Dä­cher der Stadt, wie man sie vom Par­co aus sieht, links ein so­fort als sol­ches er­kenn­ba­res Kunst­werk, ei­ne Col­la­ge, die lin­ke Hälf­te des Fo­tos sehr bunt, die rech­te dun­kel, über­wie­gend schwarz we­gen der al­ten Leu­te, die da in Trau­er­klei­dung auf dem Bo­den lie­gen, sich da­bei aber, nach ih­rer Mi­mik zu schlie­ßen, recht gut amü­sie­ren. Auf der lin­ken Hälf­te ste­hen und lie­gen und krab­beln fast nack­te, nur mit Win­deln be­klei­de­te Ba­bys auf der grü­nen Wie­se, ein paar Tie­re sind auch da, ei­ne gro­ße Schild­krö­te, ein Fuchs, ein klei­nes Nas­horn, und in der Mit­te des Gan­zen, schwarz-weiß oder grau-weiß, der Atom­pilz, das Zen­tral­mo­tiv der gan­zen An­ord­nung. Le­ben und Tod? Le­ben und Le­ben. Oder Le­ben und Tod und noch im­mer Le­ben.

Ach ja, das Kon­zert fin­det am 6. Au­gust statt, nicht um 8 Uhr 15, son­dern am Abend. Ab­ge­se­hen von den Vor­hang­fo­tos, die bald im Dun­kel ver­schwin­den wer­den, ist nicht viel da­von zu mer­ken. Der Mo­de­ra­tor sagt pflicht­schul­dig ein paar Wor­te, auch die Jün­ge­ren, auch die Al­ter­na­ti­ven sol­len an die­sem Tag dar­an er­in­nert wer­den und nicht ver­ges­sen, daß es im­mer noch Atom­waf­fen gibt und Krie­ge ge­führt wer­den.

»Wart ihr um acht Uhr schon wach? Habt ihr die An­spra­chen ge­hört? Im Fern­se­hen, ja? Nein? Macht nichts.«

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Hen­ry Kis­sin­ger: Welt­ord­nung / Staats­kunst

Be­reits in Hen­ry Kis­sin­gers 2014 auf deutsch er­schie­ne­nem Buch »Welt­ord­nung« tauch­te der Be­griff der »Staats­kunst« als ein At­tri­but für po­li­tisch ver­ant­wor­tungs­vol­les und weit­sich­ti­ges Agie­ren auf. Die er­sten Prot­ago­ni­sten, die sich laut Kis­sin­ger die­sen Ti­tel ver­die­nen, wa­ren die Me­dia­to­ren des West­fä­li­schen Frie­dens, mit dem 1648 der mör­de­ri­sche und blu­ti­ge Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg in Eu­ro­pa be­en­det wur­de. In ...

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Stef­fen Men­sching: Hau­sers Aus­flug

Steffen Mensching: Hausers Ausflug
Stef­fen Men­sching:
Hau­sers Aus­flug

Nach dem mo­nu­men­ta­len, do­ku-dra­ma­ti­schen Ro­man »Men­schings Au­gen« aus dem Jahr 2018 über den Ge­dächt­nis­künst­ler, Hell­se­her und Psy­cho-Gra­pho­lo­gen Ra­fa­el Scher­mann, der in den 1940er Jah­ren in ei­nem so­wje­ti­schen Gu­lag ge­lan­det war und sein Le­ben ei­nem Ber­li­ner Kom­mu­ni­sten er­zähl­te und, drei Jah­re spä­ter, den leich­ten, welt­zu­ge­wand­ten Ge­dich­ten »In der Bran­dung des Traums«, legt Stef­fen Men­sching mit »Hau­sers Aus­flug« nun ei­ne an­spruchs­vol­le Me­lan­ge aus Sci­ence-Fic­tion-Ro­man und Thril­ler vor.

»Als Da­vid Hau­ser ei­nes Ta­ges er­wach­te, fand er sich in sei­ner AIR­DROP-Kap­sel zum sy­ri­schen Staats­bür­ger Wa­lid Said ver­wan­delt.« So könn­te man – ei­nen be­rühm­ten An­fang Be­ginn die­ses Ro­mans er­zäh­len – was der Au­tor na­tür­lich nicht macht. Die Haupt­fi­gur, Da­vid Hau­ser, 52, seit dem 7. Le­bens­jahr mut­ter­los, lebt nach an­fäng­li­chem Schei­tern als er­folg­rei­cher Un­ter­neh­mer in Ber­lin. Man schreibt das Jahr 2029 und Hau­sers Fir­ma hat ei­ne ef­fek­ti­ve und si­che­re Kap­sel ent­wickelt, die ab­ge­lehn­te Asyl­be­wer­ber wie­der in ih­re Hei­mat­län­der ver­bringt – per Ab­wurf aus ei­nem Flug­zeug aus 2000 m Hö­he. 10.000 Eu­ro pro Per­son ko­stet dem Auf­trag­ge­ber (es sind in der Re­gel Staa­ten) die­ser »Trans­port«, in­klu­si­ve Kap­sel. Hau­ser ge­hö­ren auch die Flug­zeu­ge, die er in der letz­ten gro­ßen Pan­de­mie (2024/25) von fi­nan­zi­ell not­lei­den­den Flug­ge­sell­schaf­ten auf­ge­kauft hat­te. Sei­ne Flot­te be­steht in­zwi­schen aus über 40 Ma­schi­nen; min­de­stens zwei Ma­schi­nen pro Tag star­ten von Par­chim bei Mün­chen mit »Re­pa­tri­ie­run­gen«. Es gab na­tür­lich »nicht we­ni­ge Men­schen, die ihn ver­ach­te­ten«, aber Hau­ser stört dies we­nig, zu­mal er sich zu­recht­leg­te, dass vie­le Flücht­lin­ge man­gels Per­spek­ti­ve in Eu­ro­pa wie­der zu­rück woll­ten, die Hei­mat­län­der je­doch ei­ne Ein­rei­se ver­wei­ger­ten.

Plötz­lich sitzt er al­so sel­ber in ei­ner sol­chen Kap­sel; er­in­ne­rungs­los, wie dies pas­sie­ren konn­te. Nicht nur sei­ne Pa­tek-Phil­ip­pe-Uhr war ver­schwun­den. Er steck­te zu­dem in an­de­rer, ihm un­be­kann­ter, »säu­er­lich« rie­chen­der, Klei­dung; le­dig­lich der schwar­ze Slip von Cal­vin Klein war ihm ge­blie­ben. Das Lu­xus-Smart­phone war zu Gun­sten ei­nes äl­te­ren Ge­rä­tes aus­ge­tauscht wor­den (Sta­tus: »Low bat­tery«). Der sy­ri­sche Pass, den man ihm mit­ge­ge­ben hat­te, trug sein Fo­to und sein Ge­burts­da­tum; aus­ge­stellt auf den Na­men Waid Said. Hau­ser be­kam den Auf­prall mit und fin­det sich in ei­ner »Mond­land­schaft oh­ne mensch­li­che Spu­ren« wie­der. Im­mer­hin, das »Not­fall­pa­ket«, wel­ches je­der Kap­sel mit­ge­ge­ben wird, ist vor­han­den: 10 Mul­ti­vit­amin­rie­gel, zwei Was­ser­fla­schen, Schmerz­ta­blet­ten, Son­nen­bril­le, Hand­schu­he. In der Klei­dung ei­ne Schach­tel Zi­ga­ret­ten (Hau­ser war Nicht­rau­cher ge­wor­den), ein Feu­er­zeug, Zahn­sei­de und zwei S‑­Bahn-Fahr­kar­ten aus Ber­lin.

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Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin
Saya­ka Mu­ra­ta:
Die La­den­hü­te­rin

Über den Ro­man »Die La­den­hü­te­rin« von Saya­ka Mu­ra­ta

Mit ei­ni­ger Ver­spä­tung – aber wenn es um Li­te­ra­tur geht, ist es be­kannt­lich nie zu spät – ha­be ich Die La­den­hü­te­rin von Saya­ka Mu­ra­ta ge­le­sen. Das Buch ist in Ja­pan 2016 er­schie­nen, Ur­su­la Grä­fes deut­sche Über­set­zung 2018; ich ha­be den klei­nen Ro­man in der 5. Auf­la­ge der Ta­schen­buch­aus­ga­be von 2021 ge­le­sen. Der zeit­li­che Ab­stand zur Erst­pu­bli­ka­ti­on und den Re­ak­tio­nen dar­auf gibt dem Ver­lag die Mög­lich­keit, über den Er­folg zu ju­beln und da­mit Wer­bung zu trei­ben (was ihm durch­aus nicht zu ver­den­ken ist): »Be­ein­druckend leicht und ele­gant«, das Buch ha­be die deut­schen Le­se­rin­nen und Le­ser »im Sturm er­obert« – ob­wohl es gar nicht stür­misch, son­dern so sym­pa­thisch zu­rück­hal­tend wie die Ich-Er­zäh­le­rin und Haupt­fi­gur ist. Aber sei’s drum, wenn Li­te­ra­tur die Men­schen er­obert, soll’s mir recht sein.

Der Ti­tel des Ori­gi­nals ist üb­ri­gens, wört­lich über­setzt, »Kon­bi­ni-Men­schen«, wo­bei im Ja­pa­ni­schen oh­ne Kon­text zu­nächst nicht zu ent­schei­den ist, ob Sin­gu­lar oder Plu­ral, es könn­ten auch Kon­bi­ni-Men­schen sein, ein gan­zer Men­schen­schlag, zu dem ich mich dann auch zäh­len wür­de, weil ich wie fast al­le in Ja­pan Le­ben­den häu­fig ei­nes der zahl­lo­sen Kon­bi­nis – con­ve­ni­ence stores – auf­su­che. Ur­su­la Grä­fe hat den Ti­tel nicht kon­ge­ni­al, son­dern in­ge­ni­ös über­setzt: Die La­den­hü­te­rin, und sie hat das Wort so­gar ein- oder zwei­mal in sei­ner zwei­ten Be­deu­tung in den Text ein­ge­streut: Die Ver­käu­fe­rin im Kon­bi­ni ist ei­ne un­ver­hei­ra­te­te Mitt-Drei­ßi­ge­rin, die an­schei­nend nie­mand hei­ra­ten will und die selbst auch nie auf die Idee ge­kom­men ist, sich dem an­de­ren Ge­schlecht se­xu­ell an­zu­nä­hern. Die Ich-Er­zäh­le­rin, Kei­ko Fu­ru­ku­ra, be­müht sich nach Kräf­ten, nor­mal zu sein, das heißt so wie al­le an­de­ren zu sein, aber sie schafft es nicht, schafft es al­len­falls am Rand der Nor­ma­li­tät als un­ver­hei­ra­te­ter free­ter, der schlecht be­zahl­te Teil­zeit­ar­beit ver­rich­tet und in ei­ner win­zi­gen Woh­nung haust. Zieht man da­zu auch die kurz re­ka­pi­tu­lier­te Vor­ge­schich­te die­ser Frau in Be­tracht, Au­ßen­sei­te­rin seit der Grund­schu­le, fällt die Nä­he zu ei­ner an­de­ren Sym­bol­fi­gur der heu­ti­gen ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft auf, dem hi­ki­ko­m­ori, der sich in sei­nem Zim­mer ver­bar­ri­ka­diert und zur Welt kaum noch Be­zie­hun­gen un­ter­hält.1

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  1. Die österreichisch-tschechisch-japanische Autorin Milena Michiko Flašar hat dieses Thema in ihrem Roman Ich nannte ihn Krawatte aufgegriffen. 

Ma­rit Heuß: Pe­ter Hand­kes Bild­poe­tik

Zu­nächst ein­mal über­rascht das Vo­lu­men der Ar­beit von Ma­rit Heuß’ Werk über die Bild­poe­tik Pe­ter Hand­kes. Es sind – ex­klu­si­ve Li­te­ra­tur- und Ab­bil­dungs­ver­zeich­nung 460 Sei­ten. Von den 61 durch­gän­gig schwarz-wei­­ßen Ab­bil­dun­gen sind 50 aus den No­tiz­bü­chern Hand­kes. Zehn zei­gen für Hand­ke es­sen­ti­el­le Kunst­wer­ke, un­ter an­de­rem von Paul Cé­zan­ne, Ni­co­las Pous­sin und Fran­cis­co de Zur­barán. Heuß ...

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Karl Ove Knaus­gård: Der Mor­gen­stern

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern
Karl Ove Knaus­gård:
Der Mor­gen­stern

Es sind zwei Ta­ge En­de Au­gust 2023, in Ber­gen, Nor­we­gen. Neun Per­so­nen stellt Karl Ove Knaus­gård in sei­nem 2020 in Nor­we­gen er­schie­ne­nen Ro­man »Der Mor­gen­stern« vor (deutsch – wie fast im­mer – von Paul Berf). Da ist Ar­ne, der Li­te­ra­tur­pro­fes­sor aus Os­lo mit sei­ner psy­chisch la­bi­len Frau To­ve und den ge­mein­sa­men drei Kin­dern; Ar­nes Freund Egil, ein ge­schei­ter­ter Künst­ler und Do­ku­men­tar­fil­mer, ali­men­tiert von sei­nem rei­chen Va­ter, das be­rühm­te schwar­ze Schaf in der Fa­mi­lie; die Pfar­re­rin Kath­ri­ne, die aus ih­rem ei­gent­lich glück­li­chen Fa­mi­li­en­le­ben war­umauch­im­mer aus­bre­chen möch­te; Jo­stein, der ins Kul­tur­res­sort ver­bann­te not­gei­le Kri­mi­nal­jour­na­list und sei­ne Frau Turid, die Nacht­schich­ten in ei­ner psych­ia­tri­schen An­stalt schiebt und Solv­eig, ei­ne Sta­ti­ons­schwe­ster, die mit ih­ren Pa­ti­en­ten mit­lei­det. Bei al­len un­ter­schied­li­chen Tem­pe­ra­men­ten ge­hö­ren sie der Ge­ne­ra­ti­on En­de 30/Anfang 40 an. Ih­nen wer­den mit Emil, der in ei­nem Kin­der­gar­ten ar­bei­tet und ein Miss­ge­schick ver­schweigt, die mit gro­ßem Ge­sangs­ta­lent aus­ge­stat­te­te Su­per­markt­kas­sie­re­rin Ise­lin und Vi­be­ke, die mit ei­nem 27 Jah­re äl­te­ren Ar­chi­tek­ten ver­hei­ra­tet ist und vom na­he­zu gleich­alt­ri­gen Stief­sohn se­xu­ell be­lä­stigt wird, drei jün­ge­re Fi­gu­ren zur Sei­te ge­stellt. Al­le Fi­gu­ren sind in ih­ren je­wei­li­gen Ka­pi­teln Ich-Er­zäh­ler. Ei­ni­ge er­zäh­len mehr­mals – drei Mal: Ar­ne, Kath­ri­ne, Jo­stein und Turid; Ise­lin und Solv­eig zwei Mal.

Al­le ver­su­chen im Rah­men ih­rer Mög­lich­kei­ten zu­recht zu kom­men, ha­ben, wie man ins­be­son­de­re von Jo­stein und Egil aber auch der jun­gen Ise­lin er­fährt, auch ei­ni­ge Rück­schlä­ge zu ver­kraf­ten. Aber die bei­den Ta­ge än­dern ih­rer al­ler Le­ben und das hat auch (oder vor al­lem?) mit der neu­en Su­per­no­va zu tun, die sich am Him­mel zeigt, ein glei­ßen­der, wun­der­schö­ner Stern, den man »Mor­gen­stern« nennt, der aber, trotz sei­ner Ein­zig­ar­tig­keit und Wucht zu­nächst den All­tag nicht be­son­ders be­rührt.

Gra­vie­ren­der sind da die sich häu­fen­den merk­wür­di­gen Er­eig­nis­se, die über die Prot­ago­ni­sten zei­chen- und bis­wei­len fluch­haft ein­bre­chen. Ar­ne er­lebt plötz­lich ei­ne Au­to­stra­ße über­sät mit le­ben­di­gen Kreb­sen. Kath­ri­ne muss nach ei­ner Rück­kehr von ei­nem Kon­gress ei­nen Mann be­er­di­gen, mit dem sie am Tag zu­vor noch im Flug­zeug ge­spro­chen hat­te – und der ihr spä­ter, nach der Be­er­di­gung, wie­der be­geg­net. Vö­gel neh­men Men­schen­ge­sich­ter an, Hir­sche neh­men Dis­ney-Po­sen an, Ma­ri­en­kä­fer über­schwem­men ei­nen Gar­ten, Vö­gel sam­meln sich à la Hitch­cock (aber sie grei­fen nicht an) und von ei­ner vier­köp­fi­gen Ju­gend­band, die mit Na­zi-Sym­bo­len agiert, wer­den drei Mit­glie­der schreck­lich er­mor­det auf­ge­fun­den. Ar­nes Frau köpft ei­ne Kat­ze, um die­sen be­son­ders ge­nau zeich­nen zu kön­nen. Es gibt Er­schei­nun­gen von rie­sen­haf­ten nicht-mensch­li­chen aber auch nicht-tie­ri­schen Ge­stal­ten und Men­schen, die im­mer ver­stimmt wa­ren, sind plötz­lich fröh­lich, an­de­re tau­chen voll­stän­dig in psy­chi­sche De­for­ma­tio­nen ab, wie­der an­de­re ver­schwin­den phy­sisch. Und es gibt den Fall ei­nes kli­nisch to­ten Pa­ti­en­ten, der ur­plötz­lich wie­der zum Le­ben er­wacht, als man schon da­bei ist, ihn auf­zu­sä­gen und sei­ne Or­ga­ne zu ent­neh­men.

Ei­ner­seits schil­dert Knaus­gård die all­täg­li­chen Ver­rich­tun­gen sei­ner Fi­gu­ren mit der ihm ei­ge­nen Hin­ga­be und De­tail­freu­de, an­de­rer­seits rat­tert ein Sus­pen­se-Mo­tor ir­gend­wo zwi­schen Sci­ence Fic­tion, Um­ber­to Eco und Da­vid Lynch. Wo­bei der Le­ser zu­nächst ge­neigt ist, die Ur­tei­le der Prot­ago­ni­sten mit de­nen sie die Merk­wür­dig­kei­ten kom­men­tie­ren, zu über­neh­men: Ent­we­der es sind Halb­schlaf­bil­d­er, Hal­lu­zi­na­tio­nen oder Aus- bzw. Nach­wir­kun­gen des von ei­ni­gen ex­zes­siv be­trie­be­nen Al­ko­hol­kon­sums. Ein­zig der Mor­gen­stern, des­sen Er­schei­nen al­len zu­gän­gig ist und der dann auch in den Nach­rich­ten the­ma­ti­siert wird, scheint ei­ne fest­ste­hen­de Rea­li­tät zu sein.

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Lea Ypi: Frei

Lea Ypi: Frei
Lea Ypi: Frei

Als ich in den 1970er-Jah­ren die Welt des Kurz­wel­len­emp­fangs ken­nen- und lie­ben lern­te, stieß ich zu­erst auf die zahl­rei­chen aus­län­di­schen Sta­tio­nen, die in deut­scher Spra­che sen­de­ten. Sie reich­ten von (dem da­mals sehr be­lieb­ten) Ra­dio Ca­na­da In­ter­na­tio­nal über ei­ne Mis­si­ons­sta­ti­on in Ecua­dor, den bra­si­lia­ni­schen und ar­gen­ti­ni­schen Staats­sen­dern (letz­te­rer war nie zu emp­fan­gen), na­tür­lich der BBC und dem fran­zö­si­schen ORTF, spä­ter Ra­dio France In­ter­na­tio­nal, bis zum ja­pa­ni­schen NHK (auch hier im­mer un­glück­li­che Fre­quenz­wahl) und Ra­dio Pe­king, wo nur ein Emp­fangs­be­richt ge­nüg­te, um für län­ge­re Zeit re­gel­mä­ßig die »Pe­king-Rund­schau« zu er­hal­ten (nicht sel­ten in wie­der­ver­schlos­se­nem Um­schlag). Aber vor al­lem die ost­eu­ro­päi­schen Län­der be­müh­ten sich um deut­sche Zu­hö­rer­schaft; schließ­lich war Kal­ter Krieg, wenn auch Ent­span­nungs­zeit. Das Agi­ta­ti­ons­ni­veau war hier durch­aus un­ter­schied­lich. Wäh­rend Ra­dio Prag und Ra­dio War­schau noch ei­ni­ger­ma­ßen er­träg­lich wa­ren, sah es bei Ra­dio Mos­kau schon ein biss­chen an­ders aus. Gänz­lich un­ge­nieß­bar wa­ren je­doch die deutsch­spra­chi­gen Sen­dun­gen von Ra­dio Ti­ra­na aus Al­ba­ni­en, und zwar nicht, weil die Spre­cher die Spra­che nicht be­herrsch­ten (im Ge­gen­teil), son­dern weil es vor ‑Is­men der­art wim­mel­te, das ei­nem nach kur­zer Zeit der Kopf schwirr­te.

Al­ba­ni­en war un­ge­fähr ab Mit­te der 1970er Jah­re kom­plett iso­liert. En­ver Hox­ha, der kom­mu­ni­sti­sche Staats­füh­rer, hat­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg rasch mit Ju­go­sla­wi­en ge­bro­chen und ver­bün­de­te sich da­nach mit der sta­li­ni­sti­schen UdSSR. In den 1960er Jah­ren schwenk­te man um, trat aus dem War­schau­er Pakt aus und von nun an war Chi­na der Ver­bün­de­te. Schließ­lich brach man auch die­se Ko­ope­ra­ti­on ab; über­all wit­ter­te man Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re oder Ver­rä­ter. Im KSZE-Pro­zess, der 1975 in der Schluss­ak­te von Hel­sin­ki mün­de­te, war es ne­ben An­dor­ra das ein­zi­ge Land, wel­ches nicht teil­nahm. Die Iso­la­ti­on war ge­wollt; Al­ba­ni­en soll­te ein aut­ar­kes Land wer­den. Der An­spruch war, den rei­nen Kom­mu­nis­mus zu im­ple­men­tie­ren. Es war da­mals das, was heu­te Nord­ko­rea ist.

Aus die­sem glück­li­cher­wei­se längst ver­gan­ge­nen Al­ba­ni­en er­zählt nun die 1979 ge­bo­re­ne Lea Ypi in ih­rem Buch »Frei« mit dem pa­the­ti­schen, aber zu­tref­fen­den Un­ter­ti­tel »Er­wach­sen­wer­den am En­de der Ge­schich­te«. Es be­ginnt im De­zem­ber 1990, als die da­mals Elf­jäh­ri­ge, voll­kom­men ma­ni­pu­liert und kon­di­tio­niert durch die Schu­le im Sin­ne der Dok­trin des Par­tei­ap­pa­ra­tes, die über­le­bens­gro­ße Sta­lin-Sta­tue im Park ih­rer Hei­mat­stadt Dur­rës be­sucht und sich be­rauscht an der ihr über­mit­tel­ten Bot­schaft des gut­mü­ti­gen Vä­ter­chens Sta­lin. Merk­wür­dig nur, dass die Fi­gur der Kopf fehl­te. Die Ich-Er­zäh­le­rin Lea (Ähn­lich­kei­ten mit der Au­torin sind nicht nur ge­wünscht, son­dern ge­bo­ten) glaub­te, dass man die­sen zur Re­pa­ra­tur nach den Be­schä­di­gun­gen der letz­ten Ta­ge durch die »Hoo­li­gans« ge­bracht ha­be.

Wei­ter­le­sen ...