A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 15
Händewedeln: Wir wollen nicht fahren, Kamerazeigen: Wir wollen nur ein Foto von uns machen. Schritt zur Seite, ausm Bild: Bitte schön. Klick, Klick, und jetzt noch von hier, so, Klick, danke. Bitte. Tschüss. Tschüss. – Wir laufen, wir müssen laufen, wir können noch laufen. Klick. Wir schaffens noch, ist das nicht anstrengend, können Sie davon leben. Klick. – Von Links: Kamera-Anschlag, Fadenkreuz, Klickklick. Es wäre schön, wenn Sie erst fragen würden, bevor Sie mich fotografieren. Klick, Klick, verschämtes Triumphgrinsen: Die hab ich, Abwenden: Ich wars nicht.
Heinrich Lohse ist es gewohnt, dass sein Name Respekt und einen gewissen Schauder auslöst. Er ist schließlich Einkaufsdirektor. Als er dann plötzlich pensioniert wird, weil seine Einkaufsmethoden nicht mehr erwünscht sind (aus Gründen der Preisersparnis hatte für die nächsten Jahrzehnte Kopierpapier eingekauft), kratzt dies nur ganz kurz an seinem Ego. Er bietet sich an, seiner Frau »im Haushalt« zu helfen und geht einkaufen. Er betritt das Geschäft – und handelt, wie er es seit Jahrzehnten kennt. Er stellt sich vor: »Mein Name ist Lohse – ich kaufe hier ein.« – Und niemand nimmt Notiz davon.
Ausgerechnet die FDP, die »den Freiheitsbegriff in ihrem Namen« trage, habe, wie man in lesen kann, die Journalisten auf dem Rostocker Parteitag am Wochenende »verärgert«. Was ist Staatstragendes oder vielleicht sogar Grundgesetzwidriges geschehen, dass Sonja Pohlmann vom Tagesspiegel derart erregt? Hatte man sie ausgesperrt? Ihnen die Laptops abgenommen? War gar das Catering schlecht?
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar: Ingeborg Bachmann begann ihre Rede mit der Feststellung, dass es wunderbar sei, wenn der Schriftsteller bemerkt, dass er zu wirken vermag [...] umso mehr, wenn er wenig Tröstliches sagen kann vor Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können, verletzt, verwundet und voll von dem ...
Die feinfühlig-reflexiven Erzählungen des Rainer Rabowski
Rainer Rabowski: Die gerettete Nacht
Momente der Wonne: Eine Frau und deren Lächeln heraus einer Art Sekundenbeischlaf an Mitwisserei und Komplizenschaft, wie er manchmal unter völlig Fremden möglich ist, durch nichts weiter bedingt. Kontrastierend mit dem Wühlen eines Selbst-Entwurzelten in einem riesigen Haufen Sperrmüll, redselig auf eine schräg-umständliche Weise, ein geistiges Verstolpern im allmählichen Sortieren und Sichten des erst noch zu findenden Lageplans seiner Gedanken. Es sind fast Epiphanien, die Rainer Rabowski da beschreibt, nein – darauf muss man bestehen -: erzählt. Es sind Erzählungen, »Lebensmitschriften« vom Aufgehobensein in eine von allem anderen gelöste[n] Bewegung. Was doch diese Schlaflosigkeit, die dem Ich-Erzähler in schöner(?) Regelmäßigkeit (oder Unregelmäßigkeit?) alles hervorbringt: Ein Flanieren in der Stille der Nacht. Einer Nacht, die, wenn man genau hinhört, hinsieht und riecht diese Schönheit des…alles genau beobachtenden Tiers zu erzeugen vermag (ganz im Gegensatz zur schaurig-affektiven Jekyll/Hyde-Verwandlung).
Da der Ich-Erzähler namenlos bleibt, ist es verführerisch, ihn mit dem Autor gleichzusetzen oder zu verwechseln. Der Ort ist überdeutlich Düsseldorf (die Stadt Peter Kürtens, wie es einmal heißt) und mehr als nur Kulisse (wie sich schon in der Bezeichnung »Düs-Tropien I« auf der ersten Seite zeigt): Tausendfüßler, Gleisanschluss Gatherhof, Hauptbahnhof Hintereingang, Fürstenplatz, Burgplatz, Bilker Allee, Seestern, Ecke Herzog-/Corneliusstraße, Gustav-Poensgen-Straße, Karolingerstraße, etc. Wer will, kann auf einer Karte Punkte machen, diese verbinden und erhält ein Bewegungsprofil. Obwohl: die wirklich wichtigen Orte bleiben angedeutet, etwa die B‑Straße, G‑Straße oder K‑Straße – als gelte es, diese jungfräulich zu erhalten und dem Zugriff des neugierigen Lesers zu entziehen.
A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 14
Neulich, am Neptunbrunnen, unter schweren Wolken, steigt ein junger Mann bei mir ein. Er trägt frisch gewichste Schuhe, dunkelblaue Jeans und der blütenweiße Hemdkragen steht so lässig offen, wie ihm das Jacket von den schmalen Schultern fällt. Seine Haut ist wie frischer Rahm, die Augen wasserblau. Er möchte in die Staatsbibliothek Unter den Linden, wir fahren los. Sogleich tut er kund, dass er sich ganz bewusst für das umweltverträgliche Fahrradtaxi entschieden habe. Ich lobe ihn dafür. Er sagt, die Energiepolitik sei das Schwerpunktthema seines Engagements in der Jungen Union. Dann wirft er mit einer ruckartigen Kopfbewegung den Schopf aus der Stirn, holt Luft und setzt an zu einem Vortrag über sein Schwerpunktthema, den ich bequem auf meinem Fahrradsattel aussitze. Ich fahre fast kraftlos, der Jungunionist ist ein Fliegengewicht. Er hat einen Arm auf die Lehne und ein Bein halb auf die Sitzbank hochgelegt. Am Schiffsanleger schaue ich hinüber zur Kuppel der Neuen Synagoge. Ein paar Sonnenstrahlen lassen vor dem verdunkelten Himmel durch Wolkenlöcher hindurch ihr Gold ins geradezu Unwirkliche erglänzen. Während ich überlege, wie ich das Thema wechseln könnte, höre ich den Jungunionisten fragen: »Oder wollen Sie etwa so ein Windrad in Ihrem Vorgarten stehen haben?« – »Gott bewahre, nein, ein Atommüllendlager wäre mir viel lieber.« – »Das ist vernünftig. Atomare Strahlung können wir sicher abschirmen, aber welche gesundheitlichen Gefahren von Windrädern ausgehen, ist noch nicht einmal richtig erforscht.«
Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel
Selten passte ein Titel so präzise zum Duktus des Buches: »Sanftes Monster Brüssel« steht dort in großen, roten Buchstaben. Der Zusatz »oder Die Entmündigung Europas« ist dann schon der Beginn eines Missverständnisses. Muss es nicht heißen »Die Entmündigung der Europäer«? Wie wird »Europa« entmündigt? Was ist das überhaupt – »Europa«?
Sanft und mit feiner Ironie kommt Hans Magnus Enzensberger daher. Wie sollte er auch anders? Ein deutscher Intellektueller, der eine scharfe Schrift gegen »Europa« bzw. die Europäische Union hinlegt – undenkbar. Sofort würden die gängigen Etiketten hervorgeholt. »Europaskeptisch« bedeutet in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern rechts, dumpf und antimodernistisch. Wer möchte das schon sein? Das Problem sieht Enzensberger sehr wohl, denn hinter dieser Rhetorik macht er eine Strategie aus, die…gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert. Dies erinnere von ferne an die Rhetorik des Senators Joseph McCarthy und des Politbüros der KPdSU. Wenngleich er an anderer Stelle den Vergleich der EU mit totalitären Regimen als abwegig feststellt und somit nivelliert.
A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 13
Der Wecker klingelt. Ich stelle ihn aus. Ich wache auf. Ich drehe mich um. Gleich werde ich aufstehen und Frühstück machen. Soll ich heute rausfahren, oder soll ich nicht? Mal sehen. Diese Entscheidung werde ich nach dem Frühstück treffen. Ein Himmelreich für ein Angestelltenverhältnis. Das Wetter ist unzuverlässig, von der Kundschaft nicht zu reden. Fahre ich raus, stehe dann bloß wieder rum, werde missmutig davon und verliere meine Zeit, oder bleibe ich zu Hause, schreibe den nächsten AdLeR und kümmere mich um den Haushalt? (Bei mir siehts aus wie bei Hempels unterm Sofa.)
Ich frühstücke reichhaltig und in Ruhe. Dabei frage ich mich, ob ich heute rausfahren soll oder nicht. Ich finde keine Antwort und verschiebe die Frage zum zweiten Mal auf nach dem Frühstück, das ich geniessen möchte. Das Geniessen ist freilich nicht so einfach mit dieser Frage im Hinterkopf. Wie mans macht, macht mans verkehrt. Auf jeden Fall werde ich, wenn ich nicht rausfahre, ein schlechtes Gewissen haben wegen meiner Faulheit. Denn wenn ich mir schon frei nehme, will ich natürlich nicht auch noch zu Hause arbeiten, der Haushalt kann warten. Ich werde von meinem Sofa aus mit hochgelegten Füßen an jene Kollegin denken, die über den Daumen gerechnet siebenmal in der Woche Tag und Nacht draußen ist.