Nach drei Jahren Gefängnis kommt Simon, jetzt 65 Jahre alt, in sein Dorf zurück – Schweizer Engadin; um 1935 (man muss die Zeit aus dem Erzählten rekonstruieren). Ein Jagdunfall, fahrlässige Tötung; viele Dörfler halten es für Mord. Und das ein Jahr nach der Auseinandersetzung im Dorf um die Jenischen, als sich Simon mit der Dorfnomenklatura angelegt hatte, die sie lieber heute als morgen aus dem Dorf wieder vertrieben hätten. Seine Frau ist während des Gefängnisaufenthalts verstorben – man hat es ihm nach der Beerdigung mitgeteilt.
Simon findet Unterkunft und Tagelohnarbeit; das Dorf ist hinsichtlich seiner Person gespalten. Seinen (unausgesprochenen) Wunsch, man möge diesen Unfall vergessen und sich an das erinnern, was er vorher für das Dorf geleistet hat, wird nicht erfüllt. Trotz der teilweise feindlichen Stimmung möchte er im Dorf – seiner Heimat – bleiben; eine (kurze) Beschäftigung im Hotel der nahegelegenen Stadt befriedigt ihn nicht. Er, Waldarbeiter Simon, der Einzelgänger, sucht das Dorf, die Gemeinschaft – und lehnt sie gleichzeitig ab. Hin- und hergerissen freundet er sich mit Vera an, die für sich und ihren Mann „sein“ Haus gekauft hat. Die dicke Theresa, die alles vom Dorf weiss, stört ihn aber bereits mit ihren Gewissheiten und Fakten.
Bass, der Förster, hält auch zu ihm. Simon kann am Rand des Dorfes eine alte Mühle bewohnen und wartet auf den Waldakkord – das alljährliche Abholzen ab September. Es gibt verschiedene Reviere – leichte (mit Föhren in Tallage) und schwere (an den Bergen mit Tannen). Bass versucht Simon in ein Team zu integrieren, man will ihn auch aufnehmen, aber er weigert sich, will lieber alleine arbeiten. Bass verhindert zwar, dass die Dorfhonoratioren ihn gänzlich ausschliessen; aber mittels Losentscheid muss er nun in das schwerste Gebiet in den Bergen. Gleichgültig nimmt er es hin, arbeiten will er, sich „beweisen“ (würde man heute sagen), aber Oscar Peer, der Dichter dieses wunderbaren Buches, findet eine schöneres Bild für Simons Sehnsucht: „Müdigkeit, wie man sie schon früher an Sommerabenden gekannt hatte, jene Erschöpfung, die oft fast berauschend wirkte: man war ermattet und zugleich wie sonnentoll.“
Das Meisterstück dieses Buches ist dann das Erzählen von und mit Simons Arbeit, seinem Tagwerk, dem unbändigen Willen, die Natur zu formen, und als dann Otto, der achtjährige Junge (ein alter ego des Autors?) erscheint, der Simon unbedingt helfen will, von ihm lernt, dann fühlt man sich manchmal – motivisch – an Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ erinnert; besonders an den Stellen, als Simon dann, nach dem Unfall des Jungen, der nur knapp glimpflich ausgeht, alleine dem Herbst und dem einbrechenden Winter trotzt, unablässig seine Rechnung neu aufmachen muss, wann er soviel Geld beisammen hat, um wieder ein normales Mitglied der Dorfgemeinschaft zu sein; immer wieder die Sehnsucht nach dieser Gemeinschaft, einem Aufgehobensein und gleichzeitig die Abwendung von ihr. Simon, alleine mit einer herkulinischen Aufgabe konfrontiert, lehnt jede Hilfe kategorisch ab.
Am Ende verunfallt Simon, als er die Stämme ins Tal befördert; er wird aufgefunden und hört einige Dorfbewohnen voller Anerkennung über ihn reden. Es bleibt offen, ob er überlebt.
Peer gelingt nicht nur eine fesselnde, sondern auch eine epische Erzählung – fern ab sowohl von allen Klischees der Bauernromane der 60er und 70er Jahre (das Buch ist wohl selbst um 1978 erstmals veröffentlicht worden) als auch einer falschen oder plumpen Idyllisierung von „Natur“. Und eine „Verteufelungsprosa“, wie sie Josef Winkler in den 80er Jahren meisterhaft geschrieben hat, liegt ihm natürlich auch fern. „Akkord“ ist ein Kammerspiel, Prosa von „knorriger Knappheit“ (so Mevina Puorger im Nachwort; das moderne Wort lakonisch vermeidend), aber dennoch atmosphärisch dicht. Es nimmt den Leser mit, konfrontiert ihn mit Simons Visionen, die ihn ab und zu aufsuchen (er sieht manchmal einen Schatten vor sich gehen – wird er wahnsinnig?); seinen Glücksmomenten im Leben, wie Elly, seine grosse Liebe (neben seiner Frau) die vor vielen Jahren aus Kanada in das Dorf kam und wir erfahren „ihre“ Geschichte, dezent und dennoch sehr erotisch, Simons Fremdgehen vor mehr als 20 Jahren, noch einmal herbei phantasiert („Und nichts kannst Du zurückholen“ denkt Simon – und beweist das Gegenteil) und dann die Freude, wenn er Veras Postkarten aus Amerika erhält, und wieder seine ständigen Selbstzweifel und Ohnmachtsgefühle.
Das Buch lässt einem so schnell auch nach der Lektüre nicht mehr los. Es beginnt das Assoziieren, Sinnieren, Parallelen suchen, Aus-dem-Fenster-schauen. Welch herrliche Stelle im Buch, als der Dorfpfarrer, auch er ein Ausgestossener (auf seiner vorherigen Stelle als Alkoholiker „abgewählt“), Simon besucht und dann das Bild, als der Pfarrer, schon fast wieder verschwunden, noch einmal winkt. Und als von der Veränderung der Stille eines Ortes erzählt wird. Und immer wieder: Simons Sehnsüchte.
Ich glaube, dass „Akkord“ auch ein existentialistisches Buch ist.
„Akkord“ ist zweisprachig – deutsch und rätoromanisch. Das Buch sei dennoch wärmstens empfohlen, auch wenn der geneigte Leser mit dem rätoromanischen nichts anfangen kann. – Ein Dank an Hardy Ruoss und seiner Empfehlung dieses Buches im »Literaturclub«.
Ihre Rezension...
...macht richtig gierig auf das Buch. Der nächste Besuch aus Deutschland muss es unbedingt mitbringen. Ein wenig Zweifel habe ich wegen Ihres Nachtrages. Rätoromanisch ist für mich nämlich völlig unverständlich. Erklären sich diese Passagen dann aus dem Zusammenhang und sind nur als Stilmittel anzusehen?
Das Buch ist einfach zweisprachig: Die geraden Seiten sind rätoromanisch – die ungeraden deutsch. Meine Bemerkung bezog sich darauf, dass, wenn man rätoromanisch nicht spricht, rein ökonomisch betrachtet 50% der 240 Seiten eine unnütze Geldausgabe sind. Ich behaupte jedoch, dass die verbliebenen 120 Seiten allemal die Ausgabe rechtfertigen.
Im Nachwort wird erwähnt, in der rätoromanischen Erzählung würde sich noch eine zweite Bedeutungsebene erschliessen. Diese bleibt mir natürlich vollkommen verborgen, da ich (auch wenn man die Übersetzung direkt auf der anderen Seite hat) nichts verstehe.
Bedeutet ihre letzte Erklärung, dass die Geschichte in diesem Buch parallel einmal auf rätoromanisch und daneben auch auf deutsch erzählt wird? Das wäre ja dann kein Verständlichkeitsproblem und bisher habe ich noch kein Buch nach dem ökonomischen Nutzfaktor (verständliche seiten im Verhältniss zu unverständlichen) beurteilt:-).
Ja, genau – die Novelle wird sowohl auf rr als auch auf d erzählt.
Interessant ist, dass, dies hier und da erzählt, einige Leute sehr wohl das Argument brachten, dann seien ja 50% »herausgeschmissenes Geld«. Mein Argument mit den Reclam-Heftchen (griechisch/deutsch oder latein/deutsch) zog nur halb...