No Time to Kill

Die Kla­ge über die Mit­tel­mä­ssig­keit der Tex­te zum Bach­mann­preis-Be­werb ist fast schon Ri­tu­al. Sie ist zu­wei­len ge­prägt von Ent­täu­schun­gen, wird ge­nährt von ver­klä­ren­den Rück­blicken auf die Ver­gan­gen­heit und ist im­mer na­tür­lich sub­jek­tiv. Aber dass Tan­ja Mal­jart­schuk im letz­ten Jahr den Bach­mann­preis ge­won­nen hat­te, war mir wirk­lich ent­fal­len wie mir auch gänz­lich je­de Er­in­ne­rung an ihr Pro­sa­stück fehlt. Und dass ei­nem beim Le­sen ei­nes Tex­tes das Herz auf­ging, das ist nach Ma­ja Ha­der­lap ei­gent­lich nicht mehr bei mir pas­siert. Die in der Ver­gan­gen­heit durch­aus kind­li­che Vor­freu­de auf das Er­eig­nis weicht ei­nem bei­läu­fig rou­ti­nier­ten An­strei­chen im Ka­len­der.

Es liegt seit lan­gem in der Na­tur der Sa­che, dass sich dem Ur­teil der Ju­ro­ren1 be­reits ar­ri­vier­te Au­toren kaum mehr stel­len. Das hat mit so et­was wie Fall­hö­he zu tun. Vor al­lem Ver­la­ge mö­gen so et­was nicht.

Da ist ein Er­eig­nis wenn ein Au­tor, der, wie es in der Be­schrei­bung heisst »kei­ne Ver­öf­fent­li­chun­gen, Sti­pen­di­en oder Prei­se« vor­zu­wei­sen hat, teil­nimmt. Me­di­en jazzen die­sen Tat­be­stand hoch: »Noch nichts ver­öf­fent­licht: 22-Jäh­ri­ger für Bach­mann-Preis no­mi­niert« schreibt ei­ner (der dann das Vi­deo des Au­tors brav nach­er­zählt). Ich ha­be dann noch über Twit­ter ver­zwei­felt ver­sucht, dem Ver­fas­ser die­ses Ela­bo­rats den Un­ter­schied zwi­schen »No­mi­nie­rung« und »Teil­nah­me« zu er­klä­ren. Ich schei­ter­te. Es soll­te nicht das letz­te Schei­tern sein, wenn es dar­um ging, of­fen­sicht­li­che Feh­ler von Li­te­ra­tur­jour­na­li­sten wir­kungs­voll zu kor­ri­gie­ren. Aber egal.

Kaum je­mand be­merkt, dass die Kri­tik an den Tex­ten auf die Ju­ro­ren ver­weist, die die­se Tex­te aus­wäh­len oder, wie man es auch schon ein­mal hör­te, in Auf­trag ge­ben. Die gu­ten al­ten Zei­ten der Hil­fe­stel­lung durch den Pa­ten­ju­ror, der Lek­to­rie­rung schei­nen vor­bei zu sein. Al­les ist mög­lich: Über­bor­den­de Ad­jek­ti­ve, ei­gen­sin­ni­ge In­ter­punk­ti­on, Fi­gu­ren­na­men, die in un­ter­schied­li­chen Schreib­wei­sen im Text kur­sie­ren. Stoff für In­ter­pre­ta­tio­nen. Aber auch mehr?

Was soll man von ei­ner Ju­ro­rin hal­ten, die ei­nen Text wie den von An­drea Ger­ster vor­schlägt? Ein Text, der sich ganz gut in ei­ner Zeit­schrift wie »Bel­la« ma­chen wür­de, aber nicht in ei­nem Li­te­ra­tur­wett­be­werb. Gab es wirk­lich nichts an­de­res? Das ist nicht zu glau­ben. Und was soll man von ei­nem Ju­ror hal­ten, der ei­nen Kitsch-Text über ei­nen Scharf­rich­ter­as­si­sten­ten vor­schlägt, der die Köp­fe der Wei­ßen-Ro­se-Mit­glie­der ent­sorgt?

An den Ta­gen zu­vor war man mil­de mit­ein­an­der um­ge­gan­gen. Dann wur­de es bis­si­ger. Viel­leicht bra­chen die Däm­me in der Ju­ry am letz­ten Tag, da da­nach nichts mehr kam. Hu­bert Win­kels ver­bat sich ei­ne Un­ter­bre­chung am frü­hen Mor­gen, Klaus Kast­ber­ger ent­larv­te mit ei­ner flap­si­gen Be­mer­kung die Hand­lungs­la­stig­keit von In­sa Wil­kes Li­te­ra­tur­ver­ständ­nis. Aber tat­säch­lich war es (fast) nur der Text von Mar­tin Bey­er, der ei­ne rich­ti­ge Kon­tro­ver­se in der Ju­ry aus­lö­ste.

Ve­he­menz als Aus­nah­me. Der Ein­druck war, dass die Ju­ro­ren die im­mer wie­der kol­por­tier­te Aus­sa­ge, man ma­che den Text und da­mit den Au­toren mit all­zu gro­ßer Kri­tik nie­der, nicht nur nicht ent­spre­chen woll­ten, son­dern ge­ra­de da­her be­son­ders be­hut­sam vor­gin­gen. Die neue Scho­nung. Und so man­cher zweit- und dritt­klas­si­gen Text wur­de noch mit Be­deu­tung auf­ge­putscht, dass man sich nur wun­dern konn­te. Ich sel­ber wur­de für mei­ne Tweets, die hef­ti­ger mit den Tex­ten ins Ge­richt gin­gen, be­schimpft. Aus »anything goes« wird »anything plea­ses«.

Apro­pos Twit­ter: Et­li­che wünsch­ten sich Da­nie­la Stri­gl und Paul Jandl wie­der zu­rück. Ich dach­te an Iris Ra­disch, die man (= ich) noch schätz­te, wenn sie voll­kom­men falsch lag. Auf Spra­che und Form ging man heu­er kaum ein. Was zähl­te, wa­ren die Er­for­schung der Mo­ti­ve und der je­weils im Text vor­han­de­nen Al­le­go­rien. Zur Not ver­knüpf­te man noch die Wett­be­werbs­tex­te mit­ein­an­der, als sei­en sie ein kol­lek­tiv ent­wickel­tes Werk. Die Tex­te wur­den ge­deu­tet, we­ni­ger ana­ly­siert. Manch­mal fand man ei­ne Par­al­le­le zur Re­de von Cle­mens Setz (der ei­nen Wrest­ling-Be­griff für die In­sze­nie­rung von Schrift­stel­lern ein­führ­te, so als hät­te es Ca­ro­lin John-Wenn­dorfs Buch und die Af­fä­re um Bin­ja­min Wil­ko­mir­ski nie ge­ge­ben).

Zu oft: Wenn ein Ju­ror zu ei­nem Ur­teil kam, nahm er sich schnell zu­rück und de­kla­rier­te es in vor­nehm­ster Zu­rück­hal­tung als »Mei­nung«: »Ich fin­de…«. Aber Li­te­ra­tur­kri­ti­ker (hier: Ju­ro­ren), die ihr Ur­teil fast ver­schämt nur noch als Mei­nung aus­ge­ben und sich dar­auf be­schrän­ken, die­se ad­di­tiv auf je­wei­li­gen Ab­ruf ei­nes her­um­stol­pern­den Mo­de­ra­tors ein­zu­wer­fen, ma­chen sich über­flüs­sig. Soll­te dies Stan­dard wer­den, kann man auch Chri­sti­ne We­ster­mann ho­len oder gleich You­tuber um den Tisch ver­sam­meln.

Be­son­ders deut­lich wur­de die selbst auf­er­leg­te Ohn­macht beim Text von Ro­nya Oth­mann, die ei­nen Text über ih­re Rei­sen zu den Je­si­den vor­las und über die wil­den, ge­no­zid­ähn­li­chen Mord­ak­tio­nen des IS be­rich­te­te. Hil­de­gard Kel­ler und No­ra Gom­rin­ger ka­pi­tu­lier­ten be­trof­fen­heits­du­se­lig vor der äs­the­ti­schen Be­wer­tung des Ge­schrie­be­nen (spä­ter ver­wei­ger­te Kel­ler noch­mals ei­ne Be­ur­tei­lung von Lu­kas Me­schiks Trau­er­re­qui­em über sei­nen Va­ter). Zu groß war für sie die Wucht der ge­schil­der­ten Ver­bre­chen. Man kön­ne, so Kel­ler, in ei­nem sol­chen Text nicht ei­nen fal­schen Ak­ku­sa­tiv mo­nie­ren. Wor­auf Klaus Kast­ber­ger ein­warf, dass dies auch nicht Auf­ga­be der Li­te­ra­tur­kri­tik sei. Wer sich der­art aus der äs­the­ti­schen Ver­ant­wor­tung stiehlt, soll­te bes­ser am See ein Bad neh­men

Die Ver­wei­ge­rung der bei­den Ju­ro­rin­nen ist ei­ner­seits dem Rea­lis­mus von Oth­manns Text ge­schul­det. An­de­rer­seits folgt sie der Furcht, ei­ne Kri­tik an der Äs­the­tik des Tex­tes könn­te als in­halt­li­che Kri­tik ver­stan­den wer­den. Der Text nimmt den po­ten­ti­ell ur­teils­wil­li­gen Le­ser in mo­ra­li­sche Gei­sel­haft. Kast­ber­ger, der die Par­al­le­le zu Hand­kes Ser­bi­en­rei­sen zog (was Win­kels er­bo­ste, weil er nach zwan­zig Jah­ren im­mer noch nicht Hand­kes In­ten­ti­on ver­stan­den hat), wies vor­sich­tig dar­auf hin, dass der Le­ser glau­ben muss, dass es sich so, wie die Er­zäh­le­rin es be­schreibt, zu­ge­tra­gen ha­be. Dass dies na­tür­lich Di­lem­ma ist, in dem die Au­then­ti­zi­tät zum al­lei­ni­gen Be­wer­tungs­kri­te­ri­um wird, fiel kei­nem auf. Tat­säch­lich hat Oth­mann ei­nen Text im Stil des New Jour­na­lism ver­fasst – wie ei­ni­ge Wo­chen zu­vor be­reits ei­ne Re­por­ta­ge im »Spie­gel«. Da ist es fast be­ru­hi­gend, dass Oth­mann den Bach­mann­preis nicht be­kam; le­dig­lich das Ak­ti­vi­sten­tum beim Pu­bli­kums­preis ver­half ihr zu die­sem. Die Preis­ver­ga­be an Bir­git Birn­ba­cher führ­te im­mer­hin die Ver­an­stal­tung wie­der in die Ge­fil­de der Li­te­ra­tur zu­rück.

Ist es Zu­fall, dass Klaus Kast­ber­ger am En­de des zwei­ten Ta­gen twit­ter­te: »ich will nie wie­der mit ‘die ju­ry’ an­ge­spro­chen wer­den!« John Gris­hams Buch »Die Ju­ry« heisst im ame­ri­ka­ni­schen Ori­gi­nal »A Time To Kill«. Kla­gen­furt 2019 war eher »No Time to Kill«. Bes­ser wird’s nur, wenn man end­lich die Re­gu­la­ri­en ver­än­dern wür­de. Die Ju­ry soll­te von den Pa­ten­schaf­ten ent­bun­den wer­den. Viel­leicht kommt man dann nicht di­rekt zu Reich-Ra­nicki, aber im­mer­hin wie­der zur Li­te­ra­tur­kri­tik zu­rück.


  1. hier gilt das generische Maskulinum – sorry 

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. in den noch gu­ten an­fangs­jah­ren des bach­mann-prei­ses war ich drei mal (von der ju­ro­rin hil­de spiel) nach kla­gen­furt ein­ge­la­den wor­den. und sag­te drei mal ab: nicht aus scheu, son­dern weil für mein ge­fühl li­te­ra­tur nichts mit sport, und vor al­lem gar nichts mit wett­ren­nen zu tun hat...

  2. Mein Gott, Hil­de Spiel in der Jury...was für Zei­ten...

    Als Le­ser interessiert(e) mich der Wett­be­werb im­mer als ei­ne Art Ent­deckungs­pool. Man be­kam An­re­gun­gen, »kann­te« die Au­toren schon, wenn sie ein Buch pu­bli­zier­ten. An der Ju­ry­dis­kus­si­on konn­te (kann?) man sein ei­ge­nes Ur­teil mes­sen, schär­fen. Au­toren se­hen das in­zwi­schen im­mer mehr als Büh­ne. Es ist ein Event. Li­te­ra­tur im Fern­se­hen. Und je­der kann – theo­re­tisch – mit­re­den.

  3. Die Jun­gen le­sen nicht mehr viel. An­de­re Me­di­en ha­ben der Li­te­ra­tur den Rang ab­ge­lau­fen, und das hat er­heb­li­che Fol­gen. Die Sa­che ver­liert ih­ren Pfiff. Die weLT ließ Joa­chim Lott­mann ei­nen Bach­mann-Wett­be­werb 2019 ‑To­tal­ver­riss schrei­ben, des­sen Poin­te die Aus­sa­ge dar­stellt, das Cle­mens J. Setz’ Ro­man-Ent­halt­sam­keit das Gbe­ot der Stun­de sei.

    Karl-Heinz Boh­rer macht – eben­falls in der weLT, – letz­te Wo­che ei­nen Rund­um­blick ins li­te­ra­ri­sche Le­ben, und macht un­ter den Le­ben­den noch ak­ti­ven Schrei­be­rin­nen und Schrei­bern der west­li­chen Welt, ei­ne ein­zi­ge Au­torin aus, die ihn be­gei­stert: Ei­mear Mc­Bri­de mit »The Les­ser Bo­he­mi­ans«. Pyn­chon er­wähnt er, Ian McE­wan fer­tig er ab wg. PC. Das ist Boh­rers Bi­lanz der ak­tu­el­len Pro­duk­ti­on. Dürr, karg, fast er­lo­schen, so sieht er of­fen­bar die der­zei­ti­ge li­te­ra­ri­sche Welt... – kein schö­ner An­blick.
    Ich ver­mu­te, er hat in die Kla­gen­fur­ter Aus­ein­an­der­set­zun­gen nicht hin­ein­ge­schaut, ob­wohl er ver­mut­lich die Zeit da­zu hätte...Ich habs ganz kurz ge­tan, und dann wie­der Ha­ber­mas ge­le­sen – und Jean Paul.
    Ahh, Ha­ber­mas über das Mei­nen, Gre­gor Keuch­nig : »Der ra­di­ka­le Kon­tex­tua­list be­haup­tet nur, dass es sinn­los ist, die auf Pla­to zu­rück­ge­hen­de Un­ter­schei­dung zwi­schen Wis­sen und Mei­nen auf­recht zu er­hal­ten.« (Nach­me­ta­phy­si­sches Den­ken I, S. 175)
    (Das ist ein Grund, der Ha­ber­mas da­zu be­wo­gen hat, ge­gen die Post­mo­der­ne an­zu­schrei­ben.)

  4. Na­ja, ty­pi­scher Lott­mann-Kra­wall­schach­tel-Text halt. Feh­ler (nicht je­der ge­le­se­ne Text ist bei­spiels­wei­se Aus­zug aus ei­nem Ro­man) und ent­kon­tex­tua­li­sier­ter Zi­ta­te (das Setz-Zi­tat steht in ei­nem an­de­ren Kon­text). Die Sie­ge­rin wur­de noch nach­träg­lich ein­ge­fügt. Ver­mut­lich hat er sich gar nicht erst die Mü­he ge­macht, Tex­te und Ju­ro­ren zu re­zi­pie­ren. Das Ding hät­te man auch vor­her schrei­ben kön­nen. Oder 2017. Un­er­gie­big.

    Boh­rer ist ja auch kein Ex­per­te für zeit­ge­nös­si­sche deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur. War­um soll­te er sich Kla­gen­furt an­tun?

  5. Karl-Heinz Boh­rer, den ich ne­ben­bei be­merkt sehr hoch schät­ze, nicht zu­letzt we­gen sei­ner Au­to­bio­gra­phie, hat sich ver­mut­lich frei­wil­lig der Auf­ga­be un­ter­zo­gen, für die weLT die zeit­ge­nö­si­sche Pro­duk­ti­on Re­vue pas­sie­ren zu las­sen. Da liegt der Bach­mann-Preis nicht all­zu­weit ab, wie ich fin­de.

    Lott­mann schlam­pert wie im­mer, die Li­te­ra­ri­sche weLT auch. Dass man sich sol­che Schlam­pe­rei­en mit Blick auf die Li­te­ra­tur lei­stet, ist ein spre­chen­des De­tail. Cle­mens J. Setz gibt es nicht je­des Jahr, al­ler­dings, da hat Lott­mann durch­aus auf­ge­passt. Und Jan Wie­le se­kun­diert Lott­mann in der heu­ti­gen FAZ mit Blick auf »Klognfuat«: Cle­mens J. Setz war der Mann der Stun­de, sagt Wie­le auch, die FAZ sagt es nun schon zum zwei­ten Mal (!) : – - – - Bes­ser als al­le an­de­ren!

    Ihr Kol­le­ge Wolf­ram Schüt­te heu­te auf Glanz und Elend: Er füh­le sich, wenn er gu­te (zeit­ge­nös­si­sche) Li­te­ra­tur emp­feh­le, lan­sam aber si­cher wie ein Mis­sio­nar, der tau­ben Oh­ren pre­digt, so ca.
    Tcha. Die Kar­wa­ne ist wei­ter­ge­zo­gen. Um WoS und Sei­nes­glei­chen wird es ein­sam.