Wer hat das nicht schon einmal erlebt? Man trifft auf einer Party einen Zeitgenossen, mit dem man sofort in vielen Punkten gleicher Meinung ist. Andere kommen hinzu und nehmen in der Debatte teilweise konträre Positionen ein. Man verteidigt den Angegriffenen. Und plötzlich holt dieser zu verbalen Rundumschlägen aus, verlässt das scheinbar so fruchtlose Argumentieren, beschimpft die Mitdiskutanten rüde und wundert sich am Ende, das niemand seine Sicht der Dinge teilt, was dann zur Bestätigung der These herangezogen wird, dass alle anderen eh’ zu blöde sind. Achselzuckend geht die Runde auseinander und mit den Schimpfkanonaden des Beleidigers ist der Kern der eigenen Überzeugung auch gleich ein bisschen mitdiskreditiert worden.
Der Volksmund hat dieses Dilemma im Sprichwort vom Ton, der die Musik macht, festgehalten. Und mehr denn je gelten im Diskurs bestimmte Gebote, die ihn überhaupt erst ermöglichen. Das bedeutsamste ist die gegenseitige Akzeptanz. Ohne das gegenseitige Anerkennen ist ein Diskurs undurchführbar. Die Regeln dieses respektvollen Diskutierens, die zunächst im informellen Gebrauch geformt werden und dann allgemeine Gültigkeit durch Gebrauch erhalten, sind in den letzten Jahrzehnten immer präziser und teilweise durchaus repressiver geworden. Zudem wurden inzwischen institutionell verankerte und sanktionierte Ge- bzw. Verbote ausgesprochen. Viele sehen daher in öffentlichen Diskussionen inzwischen immer mehr übertriebene Korrektheiten, die formale Elemente dem argumentativen Austausch unterordnen. Die Folge seien, so die These, häufig blutleere Beiträge, die sich mitunter in elaborierter Wortgymnastik ergehen.
Diesen Vorwurf kann man Michael Jürgs und seinem Buch »Seichtgebiete« nicht machen. Er reiht sich ein in die Rolle der sogenannten »Polemiker« (wobei die meisten nur eine ungenaue Vorstellung von der Kunst der Polemik haben), die mit polternder Krawallrhetorik und Lust an der Provokation bis hin zur Beleidigung Andersdenkender gegen die »Political Correctness« wettern und dabei stolz auf ihre »klare« Sprache sind wie sonst nur die (imaginären) Stammtischbrüder.
»Verbale Intifada«
Zunächst ist der Untertitel des Buches »Warum wir hemmungslos verblöden« ein Etikettenschwindel, weil suggeriert wird, dass es eine klar strukturierte Analyse gibt. Doch damit verschwendet Jürgs seine Zeit erst gar nicht. Er liefert keine Argumente, sondern nur Meinung. Dennoch ist ihm Applaus sicher: Sein Buch wird als mutig und notwendig gelobt; es spreche vielen aus dem Herzen. In der »SPIEGEL«-Bestsellerliste steht es weit oben; schon gibt es epigonale Produkte von anderen, die auf den erfolgreichen Zug aufspringen wollen, bevor dieser am Zielbahnhof der Nichtigkeit angekommen ist.
Der neue Trend geht vom argumentativ Erschließenden hin zum meinungsfreudigen Gemaule; auch und vor allem beim (sogenannten Kulturgut) Buch. Jürgs scheint großen Gefallen an seiner selbstauferlegten Rolle zu finden. Sein Lieblingswort ist »blöd« (in allen Substantivierungen und Deklinationen). Bis zu dreimal türmt er es auf knappstem Raum in seine Sätze zu Gebilden wie Es stimmt zwar, dass es Millionen von Blödern zu begeisternde Blöde gibt, sonst müsste ein ‘Superstar’-Abend der Blödmacher wie hier nicht erfunden werden. Was bedarf es noch des Arguments oder der Differenzierung? Hinweg mit den langweiligen Adepten der Letztbegründung! Die »Operation Klugscheißer« wird schon auf Seite 18 beerdigt, da ja niemand Oberlehrer und Besserwisser mag.
In Wahrheit beerdigt Jürgs nichts, sondern drischt mit einer Mischung aus Wut, Wonne und Vehemenz auf nahezu alles ein, was ihm in die Quere kommt. Er nennt das Guerillataktik und spricht von der verbalen Intifada. Dabei scheut er keine Plattitüde, kein falsches Bild, keine unzulässige Verallgemeinerung und keine Verbalinjurie, sei sie auch noch so abwegig oder lächerlich. Schließlich geht es um die »gute Sache«.
Es beginnt mit einem Samstagabend im März 2009. Auf RTL schauen 5,61 Millionen Leute »Deutschland sucht den Superstar«. In der ARD zur gleichen Zeit 5,68 Millionen den »Musikantenstadl«. Insgesamt werden also, so Jürgs’ Schlussfolgerung, 11,29 Millionen Deutsche gemäss ihrer Bedürfnisse behandelt. Beide Sender seien daher in diesem Fall zu definieren als klassische Bedürfnisanstalten des Volkes.
Für Jürgs sind das alles »Blöde« – ob jung oder alt, spielt keine Rolle. Aber das ist nur Vorgeplänkel. Vollends zu Höchstform läuft er auf, wenn es um Mario Barth geht, diesen Scherzunhold. Er sei der Kaiser unter den Blödmachern, der den Traum der Alchimisten wahr gemacht habe, nämlich aus Scheiße Geld zu machen (dass der »Traum« leicht anders ging, ficht ihn natürlich nicht an). Und wenn er an anderer Stelle auch wenig zimperlich mit den ALG-II-Empfängern umgeht, so erkennt er in den stadionfüllenden Aufführungen (eine Karte kostet zwischen 30 und 50 Euro) lauter Menschen, die sich seit Monaten auf das Jahrestreffen der Barth-Gemeinde freuen wie Schlesier…auf Pfingsten. Sie freuen sich auf Super-Mario…der für sie die Sau rauslassen wird. So viele Menschen wie heute waren live noch nie unter freiem Himmel versammelt, um einem zuzujubeln, der sie für blöd verkauft. Die Käufer von Barths Buch kommen bei Jürgs noch schlechter weg. Für sie hat er sich den Brüller Anal-Phabeten aufgehoben (wohl in Anlehnung an dessen Scherze).
Von Sachtkenntnis sind seine Invektiven dabei nicht unbedingt getrübt. Die griffige Aussage, Sendungen wie das RTL-»Dschungelcamp« hole die Blöden für Stunden von der Straße oder die Lehrer dürften weder Strafarbeiten noch Nachsitzen aussprechen (und dies sei ein wesentlicher Grund für das verkorkste Schulsystem) sind Behauptungen, die nicht unbedingt dadurch richtig werden, dass man sie niederschreibt. Aber Jürgs fragt natürlich nicht. Er fragt nicht, warum es eigentlich eine »Zielgruppe« der 14–49 jährigen bei der Ermittlung des Zuschauerverhaltens gibt. Er gibt keine Hinweise darauf, dass es sich nicht um eine homogene Zielgruppe handelt, sondern dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Nicht nur hier ist Jürgs in Wahrheit ein verkappter Hüter des Status quo, weil man diesen aus der scheinbar moralisch überlegenen Position so gut schmähen kann (von wegen Kulturrevolution, dafür kühlt Jürgs viel zu gerne sein Mütchen am Bestehenden).
Er fragt nicht, warum Barth die Arenen füllt (was auch mit der beispiellose Werbekampagne von RTL im Vorfeld zu tun haben dürfte). Und er fragt auch nicht, warum die von ihm so totgerittene »Der-Kaiser-ist-ja-nackt«-Pointe in der seriösen Journalistik rein gar nicht stattfindet (nur einmal konzidiert er, dass viele unbedarfte Deppen zu Stars hochgeschrieben worden wären, wobei er interessanterweise das Wort ungewollt davorsetzt, als handele es sich um einen Unfall).
Natürlich regen Jürgs noch ganz andere Kandidaten auf: Boris Becker, Jörg Pilawa, Oliver Geissen, im Prinzip der gesamte MDR, Heidi Klum, Heino, Udo Walz und natürlich Dieter Bohlen (Kotzbrocken) – alles mehr oder weniger Blödmacher für die Zielgruppe ALG 2 abwärts. Charlotte Roches »Feuchtgebiete« hat er nachweislich nicht gelesen, weiß aber, dass es schlecht ist – was ihn aber nicht davon abhält, den Titel für sein Buch zu paraphrasieren (er sei da »hemmungslos« bekennt Jürgs, der sich nicht einmal vor sich selber zu schämen scheint, in einem Interview).
Nebenbei geht es auch um das deutsche Schulsystem, die respekt- und sprachlosen Schüler (So reden die von und auf der Gosse), die unfreundlichen Taxifahrer, das Parken in zweiter Reihe, Neonazis (das einfache Konzept: aufs Maul hauen, sobald sie es öffnen), die Vornamen der Kinder von Uwe Ochsenknecht, das rüpelhafte Benehmen des Prekariats (das, was man früher Unterschicht und noch früher Proletariat nannte, wie Jürgs weiß), die zu kurzen Fußgängerampelschaltungen, das Handy-Telefonieren in Zügen der Deutschen Bahn (Jürgs tritt für eine Renaissance des »Metropolitan« ein, der zwischen Köln und Hamburg verkehrte und sogenannte »Silence«-Wagen hatte [gegen Anglizismen hat Jürgs ausnahmsweise nichts] – und outet sich dabei als ziemlicher Nicht-Bahnfahrer, sonst wüsste er, dass es in ICE-Zügen nicht nur ausnahmsweise schon äquivalente Ruhewagen gibt). Ach ja, die »informationelle Müllhalde Internet« (Zitat Günther Jauch) gibt’s auch noch.
Günter Struve und der süße Duft der Quotenblüte
Jürgs benennt aber auch das Gute (freilich im gleichen Slang). Er mag »Frontal 21« und plädiert für eine Verlängerung der Sendezeit für »Monitor« und »Panorama«. Die 3sat-Sendung »Kulturzeit« ist für ihn eine Rettungsinsel (vielleicht daher auch seine fast pubertäre Schwärmerei in der »Süddeutschen Zeitung« vor zwei Jahren für eine der Moderatorinnen, Andrea Meier). Günther Jauch sei ein seriöser Journalist, der sofort ins Erste gehöre (schon mal »stern-tv« geschaut? und wie sieht es mit der Werbemaschine Jauch aus?) – wie auch die Sendung »Zimmer frei« von Götz Alsmann und Christine Westermann. Und dann stellt er Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt als eine Art ultimativen Antipoden vor. Zwischen dem Superstar der Blöden, Mario Barth, und dem der Klugen, Helmut Schmidt, liegen Welten lautet das Fazit. Aber ob diese Welten überhaupt miteinander vergleichbar sind?
Für Jürgs ist klar: Es gibt heute…mehr Verblödete denn je und das liegt daran, dass inzwischen viele mit ‘Tutti-Frutti’-TV vulgo dem Privatfernsehen aufgewachsen sind, jenen Kanälen der Unterschicht, 1984 entwickelt von Blödmachern, die sich als Pioniere fühlten. Die berechtigte Frage, warum das öffentlich-rechtliche Sender wie ARD und ZDF diesem Trend so wenig entgegensetzen, kontert er mit einem groß angelegten Angriff gegen Günter Struve, seines Zeichens 16 Jahre Vorsitzender der ARD, der nun, was bei Jürgs »strafverschärfend« gilt, als dritter Moderator des MDR-»Riverboat« mehrmals im Monat von Los Angeles eingeflogen wird. Jürgs hält die weißhaarige graue Eminenz Struve für einen intellektuelle[n] Zyniker, der es genoss…von denen, die gebildet waren wie er, verachtet oder sogar gehasst zu werden.
Warum Jürgs diesen psychologisierenden Ton anschlägt, bleibt unklar. Immerhin merkt man, dass er Struve respektiert. Sein Furor, die ARD zum Widerstandsnest gegen die Blödmacher zu implementieren, berücksichtigt allerdings nicht den Legitimationsdruck, dem Struve ausgesetzt war. Die Debatte um die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Systeme, die im Schlagwort der »Zwangsgebühren« gipfelt (und noch längst nicht beendet ist), kommt bei Jürgs schlichtweg nicht vor. Bewusst bekennt er sich zu den Gebühren: Wo sonst auf der Welt bekäme ein Kunde für etwas mehr als siebzehn Euro im Monat so viele Möglichkeiten geboten, sich zu unterhalten oder nachhaltig seinen Horizont zu erweitern?
Er ist nur schwer vorstellbar, dass diese Diskussion an ihm vorbeigegangen sein sollte, was bedeuten würde, dass es sich um bewusste Auslassung handelt. Wenn aber Struves Spagat zwischen Quote und Anspruch (den man natürlich kritisieren kann, vielleicht sogar muss), der in einer spürbaren Trivialisierung des ARD-Programms zu Gunsten quotenträchtiger Sendungen und »Formate« gipfelte (immer wenn der betäubend süße Duft einer sich abzeichnenden Quotenblüte in die Nase stieg…stank ihm nichts mehr) als solcher gar nicht wahrgenommen, sondern nur als eine Art »mutwilliger« Akt hin zu den Seichtgebieten gesehen wird, dann verkauft Jürgs den Leser für genau so »blöd« wie die von ihm so Kritisierten.
Schwungvolles Einrennen offener Türen
Nachdem er ausführlich eine Art Wunschtraum über eine Dokusoap mit dem Leergut der Nation entwickelt, in der die entsprechende Klientel auf 3sat oder arte aufzutreten habe und irgendwie vorgeführt werden soll, bringt er dann noch Vorschläge, wie die ARD für Unterhaltung mit Niveau zu reformieren sein soll. Aber diese sind an Putzigkeit kaum zu überbieten:
Da müsste erstens das bisherige System dran glauben, und auf dessen Trümmern zweitens radikal Neues gebaut werden. Die Intendanten, Direktoren, Chefredakteure der Landesanstalten würden zwar drittens ihre Ämter und Privilegien wie Dienstwagen und Fahrer behalten dürfen. Aber die Intendanten werden viertens qua Amt delegiert in einen Aufsichtsrat, als oberstes Gremium der überregionalen Mutteranstalt ARD. Das gesamte Abendprogramm, das frei von Werbung nach 20 Uhr gesendet wird, machen fünftens zukünftig nur noch Befähigte, vergleichbar dem Vorstand eines Unternehmens in der freien Wirtschaft, der verantwortlich ist für das operative Geschäft…Die entmachteten Regionalfürsten entscheiden sechstens wie bisher, aber autark, was in ihren Angeboten dem eigentlichen Ersten siebtens zu, was verlangt wird oder was sie sich ausgedacht haben.
Der achte Punkt ist dann noch eine Regionalisierung der Dritten Programme. Aber da Jürgs schon weiss, dass diese Vision nie Wirklichkeit werden wird ernennt er neuntens Nikolaus Brender zum Ersten Generaldirektor (nach BBC Vorbild), den jetzigen ARD-Chefredakteur Thomas Baumann zum Koordinator für Gesellschaft und Politik und Kultur und Thomas Schreiber vom NDR zum Unterhaltungschef.
Irgendwie hat Jürgs allerdings übersehen, dass Baumann in seiner Funktion als ARD-Chefredakteur schon längst (seit Juli 2006) Koordinator für Politik, Gesellschaft und Kultur ist. Und Thomas Schreiber ist seit Juni 2007 bereits Leiter der ARD-Unterhaltungskoordination.
Von ähnlicher Güte sind auch anderen Vorschläge. Parlamentsabgeordnete sollten gezwungen werden, ihnen zugewiesene Bücher zu lesen und über ihre Lektüre öffentlich zu berichten. Mandatsträger, die kulturell Nachholbedarf hätten, kämen in eine Volksvertreterhochschule. So erhofft Jürgs der kulturelle[n] Verwahrlosung unserer Volksvertreter Einhalt zu gebieten. Irgendwann würde sich das wieder auf »das Volk« positiv auswirken.
Die Bestsellerliste für Belletristik soll aufgeteilt werden in eine Liste für Literatur die diesen Namen verdient und eine, welche die Favoriten des Massengeschmacks notiert. Da die »Bestsellerliste Literatur« durch das Votum der knapp viertausend unabhängige[n] Buchhändler ermittelt werden soll, handelt es sich streng genommen um keine »Seller«-(Verkäufer) Liste. Jürgs’ hat vermutlich keine Ahnung, dass es eine ähnliche Liste längst schon gibt: Es ist die »Bestenliste« des SWR, die zwar durch das Votum von Literaturkritikern ermittelt wird, aber eben genau keine »Verkaufsliste« im üblichen Sinn ist. Die Bestsellerliste Sachbuch will er auch noch in eine für Biografien und Sachbücher und wiederum eine für den Massengeschmack der Lebenshilfe-Literatur teilen. Der Vorteil dieser Sachbuchaufteilung wäre, dass sein Buch wenigstens nirgendwo notiert würde.
Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht um aus einer Bierlaune heraus niedergeschriebene Thesen eines bildungsbürgerlich gescheiterten respektive verbitterten Couch-Potato, sondern das schreibt ein ehemaliger Chefredakteur des »Stern« und Autor von Biografien.
Es ist schwer, bei der Kritik zu diesem unsäglichen Machwerk nicht einfach in Jürgs’ primitiven Jargon zu verfallen. Das Prinzip dieses Buches ist schlicht: Die »richtige« Meinung des Autors soll ihn vor jeglicher Kritik immunisieren. Ein billiger Taschenspielertrick, der die Kumpanei mit dem Leser sucht und vor inhaltlichen, formalen und vor allem sprachlichen Mängeln wohlwollend den guten Zweck über die arg bescheidenen Mittel heiligen lassen soll. So einfach gestrickt ist Jürgs’ Welt, der sich in seinen dumm-dreisten rhetorischen Pirouetten, die nur selten gelingen, wälzt (die Sprachlosen schreiben wie sie sprechen – eine unfreiwillige aber treffende Selbstcharakterisierung), in Interviews als eine Art Retter des Zuschauers auftritt und dabei um Akklamation buhlt wie sonst nur Mario Barth mit seinen primitiven Witzchen die (vermeintlich) Blöden zu Beifallsstürmen hinreißt. Dass ein Verlag ein derart peinliches und nichtssagendes Elaborat überhaupt veröffentlicht, es sogar noch als »provokante Streitschrift« wagt zu deklarieren, beleidigt nicht nur alle seriösen Fernsehkritiker sondern auch das ansonsten schon genug gebeutelte Publikum.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Drum sind eben die Bestseller-Listen im Spiegel keine ernstzunehmenden Empfehlungen, allenfalls Ranglisten der Eitelkeiten. Wahrscheinlich kann man sich sogar dort einkaufen. Ich krieg im Übrigen bei dem Wort »Bestseller« immer so einen Gedankenblitz: »Finger weg! Um Gottes Willen, Mann!!!«, ja, mit drei Ausrufezeichen, und das ist auch gut so.
Naja, es gibt auch Ausnahmen wie bspw. im vergangenen Jahr Tellkamps »Der Turm«. Wenn es sehr gutes Buch ausnahmsweise auch einmal gut verkauft wird, wird es ja deswegen nicht schlecht.
Melancholie
Auf diese Bestsellerlisten reagiere ich wohl mit demselben Reflex. Von Feucht- wie Seichtgebieten lasse ich lieber die Finger... Aber Schlechtes zu geisseln und zu meiden, allein erzeugt nichts Gutes. Denn auch Herr Juergs meint ja, mit seiner Polemik fuer das Gute und Geistvolle einzustehen und reichert doch den Wort- und Gedankenschrott nur weiter an. Ach.., wie soll man’s anstellen? ..so erscheint mir diese Rezension doch schon beinahe resigniert und melancholisch (oder ist das nur meine Projektion?). Und wie anders sollte einem auch zumute sein bei dieser Schreierei allenthalben... waere doch endlich Ruh!
.. mein Mitgefuehl jedenfalls an den armen Rezensenten.. dass Sie sich soviel Muehe geben..
Wie gesagt: Das ein Buch gut verkauft wird, sagt nicht aus, dass es qualitativ gut ist. Es sagt aber auch nicht per se das Gegenteil aus. Daher verstehe ich solche Reflexe ehrlich gesagt nicht, die jegliche Lektüre von Bestseller-Büchern alleine deswegen ablehnen. Das bewegt sich auf der gleichen ebene wie der Affirmation dieser Bücher.
Es ist ein leichtes, über Roches Buch herzuziehen und es nicht gelesen zu haben – so wie das Jürgs macht. Man hätte es auch vorurteilsfrei lesen können; vielleicht wäre man dann auf ein differenzierteres Urteil gestossen, wie z. B. in dieser sehr sachdienlichen Besprechung hier.
Meine Besprechung von Jürgs’ Buch ist nicht melancholisch, sondern ziemlich ärgerlich (Melancholie ist mir als Zustand viel zu wichtig, um sie einem Cretin wie Jürgs entgegenzubringen). Da maßt sich einer an über etwas zu reden, wovon er keine Ahnung hat oder keine Ahnung haben will und desavouiert dabei die Arbeit von seriösen Medien- und Fernsehkritikern, in dem er deren Gewerbe herunterzieht. Jürgs ist ein Kurpfuscher. Früher haben solche Leute auf den Kirmesmärkten ihre Wundertinkturen angeboten. Heute erhalten sie auch noch eine Plattform. Ich möchte nicht wissen, wie viele seriöse Bücher für diesen Dreck abgelehnt wurden.
sich ärgernd...
Jetzt ärgere ich mich über meinen vorigen Kommentar. -
Den Reflex Bestsellerlisten zu meiden, habe ich tadeln wollen (auch bei mir selbst). Über Bücher, die man nicht gelesen hat, kann man auch kein Urteil fällen, das lag mir fern.. – Da habe ich wohl mal wieder im Trüben (unfruchtbaren Kulturpessimismus) gefischt.
Tut mir leid Ihre Zeit so zu vergeuden mit Kommentaren, die sich besser selbst annihilieren sollten.
Als ich las, dass »[e]s [..] schwer [sei], bei der Kritik zu diesem unsäglichen Machwerk nicht einfach in Jürgs’ primitiven Jargon zu verfallen« dachte ich, Sie hätten sich in Ihrer Kritik noch gebremst, obwohl dieser Satz ja das Gegenteil belegt.
@Phorkyas
Nein, nein – nicht ärgern! Es kann ja auch sein, dass ich Ihren Kommentar falsch verstanden habe.
Und ja, ich hatte mich gebremst um nicht mit »Blöd«-Vokabeln in gleicher Münze um mich zu werfen.
Die Lektüre dieses Buches verstopft offensichtlich den Geist; sehen Sie mir meine Ungeduld nach.
[EDIT 2009-09-02 07:46]
Es sind die Mittel, die den zweck verraten
Ich kenne da Buch zwar nicht (und werde es nach dieser Rezension wahrscheinlich auch nicht kaufen – vielleicht leihe ich es mir irgendwann mal in der öffentlichen Bücherei aus), aber »Seichtgebiete« ist wahrlich nicht das erste Buch, das Holzhammer-Polemik statt differenzierter – und ruhig mal polemisch zugespitzten – Argumente einsetzt. Ich vermute, dass das mit dem berüchtigten Gesinnungsjournalismus zu tun hat. Ich habe den Eindruck, dass für manche Journalisten Journalismus vor allem Sache der Gesinnung, und zwar der »richtigen« Gesinnung (welche das immer sein mag) ist.
Journalisten, die vor allem »Überzeugungsarbeit« leisten wollen, statt zu berichten und das Berichtete sachkundig zu kommentieren, die sich als »Meinungsmacher« verstehen, sind meiner Ansicht nach in einer PR-Agentur besser aufgehoben, als z. B. in einer Zeitschriftenredaktion – aber ich will jetzt nicht das schier unerschöpfliche Thema: »Der Niedergang des Qualitätsjournalismusses und der Siegeszug der Public Relation« anschneiden.
Ein typisches Motz & Pöbelbuch kombiniert den Hang des Gesinnungsjournalismus, beständig hysterische Warnungen auszustoßen, Befürchtungen zu proklamieren und gegebenenfalls die Tatsachen der »guten Sache« anzupassen, mit dem Hang des Boulevardjournalismus, Häme mit Kritik zu verwechseln, auf jede Form der Differenzierung zu verzichten und einfache »Patentlösungen« anzupreisen.
Diese Mittel üben Verrat am vorgeblichen Zweck solcher Bücher, dem der Aufklärung. Sie Verraten (in der anderen Wortbedeutung) aber auch den wahrscheinlichen Zweck, nämlich den, Aufregung zu generieren und Vorurteile zu zementieren. Da die Leser wahrscheinlich nicht zu den ständigen Konsumenten der »Unterschichtenfernsehens« zählen, können sie, mit diesem Buch in der Hand, mit »gutem Gewissen« auf den Unterschicht-Pöbel herabsehen und dabei nach Herzenslust selber pöbeln.
Mir ist gerade der »Stern« in den letzten Jahren durch Gesinnungsjournalismus aufgefallen, deshalb bin ich nicht überrascht, dass mit Jürgs ein ehemaliger »Stern«-Chefredakteur ein weiteres Motz- & Pöbelbuch geschrieben hat.
Gesinnungsjournalismus trifft es ziemlich genau. Und natürlich ist es nicht das erste Buch. Broder lese ich ja schon gar nicht, wobei da die Gesinnung diskutabel bleibt; auch er lässt sich ja irgendwo in SpOn mal über Mario Barth aus – mit glaube ich ähnlichem Vokabular.
Interessant dahinter finde ich den demokratiefeindlichen Reflex, der in Pauschalisierungen wie »die Blöden« steckt. Man kann ja über die Massendemokratie durchaus ambivalent denken, aber in dem man Millionen von Leuten per se und derart unverblümt als Dumpfbacken darstellt, ist man eigentlich nicht weit von Demokratieverächtern (seien sie rechts oder links). Diese Komponente ist zwar wiederum ein Gesinnungsurteil (daher habe ich es in meiner Besprechung nicht expressis verbis angesprochen), wirft aber schon ein gewisses Licht auf den Schreiber.
Gesinnungsjournalismus
Vielleicht ist es tatsaechlich eine zutreffende Bezeichnung. – Zwar bemuehen sich viele Kritiker, Feuilletonist der geistige Platzhirsch zu sein (zumindest natuerlich die eigene Meinung als die richtige darzustellen), nur sollte er das durch Argumente und Niveau erreichen, nicht bloss dadurch, dass er in dem Bewusstsein schreibt schon der weise Urteilsfaeller und Verdammer zu sein.
Juergs oder andere machen so nichts anderes als Stefan Raabs Erstwaehlercheck: Haha, die anderen! Durch sein Buch liesse sich keine dieser »Dumpfbacken« erleuchten, denn es ist ja nichts Erleuchtendes darin. Polarisieren, Scharfmachen, Ausgrenzen, Verunglimpfen. Das richtet sich gewissermassen an den Bauch des Gehirns (waehrend das Boulevard sich direkt an diesen wendet). Behauptungen vom Hoerensagen, scheinbare Selbstverstaendlichkeiten nachplappernd; damit bleibt man immer im Fahrwasser des ohnehin schon Richtigen.. und auf seine perfide Art und Weise wirkt es trotzdem, so dass man darauf eingehen, dazu Stellung beziehen muss, gerade wenn man dagegen wettern moechte. (»Na, auf welche Seite wollen Sie? Zu den Dumpfbacken, Abendlandsveraettern? – Wollen Sie gegen mich wettern? Dann polemisieren Sie mal los.« und schon hat man genausoviel Schaum vorm Mund.) Obwohl es keine richtigen Argumente behandelt, also eigentlich nur eine Art Simulation von Gedanken, eine Simulation von Journalismus sein duerfte.
@Phorkyas
Exakt: eine Simulation von Journalismus ist das. Das trifft es auf den Punkt.
Das Szenarium, das im ersten Absatz geschildert wird, ist mir noch nie untergekommen (und ich bin kein Jüngling mehr). Baut darauf die folgende Argumentskette auf? (...dann werd’ ich jetzt mal weiterlesen)
#10 – Ein schönes Beispiel für einen Verriss.
Aber eine Simulation von Journalismus wäre doch eher eine geschickt verfasste Scheinargumentation, die versucht bestimmte Interessen unter’s Volk zu bringen, nicht eine wüste »Polemik«, oder?
@Metepsilonema
Simulation trifft es dahingehend, dass er sich mit einer Problemlöserattitüde umgibt (man denke an seine »Vorschläge« für die Reformierung der ARD). Dabei will er zwei Leute in Positionen bringen, die schon längst in diesen Positionen sind.
Polemik ist das nicht. Es gibt Leute, die können ein Haus so sprengen, dass es geordnet zusammenfällt. Das wäre, um im Bild zu bleiben, Polemik (= auch Ästhetik). Dieses Geschreibe ist das wütende Fuchteln mit der Abrissbirne. Mit Glück trifft man, aber meistens nicht.
Polemik ist das nicht. Deswegen habe ich das Wort auch unter Anführungszeichen gesetzt.
Ja, pardon. Es ist schlichtweg: Wortkrawall.
Michael Jürgs: Seichtgebiete
Ich hatte mir Jürgs’ »Schwarte« gekauft wegen des Untertitels »Warum wir hemmunglos verblöden«. Doch die Antwort fand ich dort nicht. Hat er seine Analyse geschickt in seinen verschwurbelten Schachtelsätzen versteckt? Dieser Stil ist furchtbar!! Schade ums Papier. Dieses »Werk« wird sich einreihen in die Unzahl der Besserwisser-Bücher, nach denen in ein paar Monaten kein Hahn mehr kräht. Jürgs war einst als »Stern«-Leitartikler Spitzenklasse. Doch jetzt?
Die Schere zw. »Arm und Reich an Geist«
Ich würde den Ansatz Jürgs’ durchaus auch noch aufnehmen, ich habe auch das Gefühl, dass es mit der Gesellschaft bergab geht (Es reicht m.E. wie erwähnt schon, dass jemand wie Mario Barth ganze Hallen mit seinen, auf Sexismus und primitive Sexualität basierenden, Witzen füllen kann):
Ich würde jedoch einfach nur sagen, dass das Streben nach Intellekt außer Mode geraten ist. Wie man von einer sozialen Schere zwischen Arm und Reich spricht, so würde ich das auch auf Arm und Reich an Verstand und Wissen beziehen. Ich denke, die Bildungselite wird dank Forschung immer klüger und die Menge bleibt wie sie ist, wird vielleicht geringfügig dümmer (wegen den modernen Medien). Das Dazwischen wird auch aufgrund von einer »Polarisation« zu den Extrema hin immer weniger.
Und ich möchte mich noch explizit dafür entschuldigen, dass ich hiermit etwas süffisant wirke.
Den Begriff der Bildungselite halte ich nicht für süffisant, sondern eher für obsolet. Er insinuiert, dass Bildung in direktem Verhältnis mit Geld steht, was ich bestreite. Es gibt bspw. Studien über vietnamesische Einwanderer, die das Gegenteil sagen: Die Familien stammten größtenteils aus ärmlichen Verhältnissen, ermöglichten jedoch ihren Kindern eine gute Schul- und sogar Universitätsausbildung. Um es etwas polemisch-verkürzt zu sagen: Das ist alles eine Sache der Prioritäten. In einer Familie, in der Bücher, Bildung und Wissen keinen Stellenwert haben und stattdessen »Bild«, Privatfernsehen und Fußball dominieren, wird die Saat nicht gelegt werden können. Der Staat hat in der Vergangenheit versäumt, durch flankierende Maßnahmen das Bewusstsein für Bildung zu verdeutlichen. Statt Sozialleistungen pekuniär zu erhöhen, hätte man eine bessere Infrastruktur anbieten müssen. Dann wäre übrigens ein Schwachkopf wie Mario Barth höchstens Autoverkäufer geworden.
»Der Staat hat in der Vergangenheit versäumt, durch flankierende Maßnahmen das Bewusstsein für Bildung zu verdeutlichen. «
Eine Aussage, von der ich mir wünschen würde, dass sie nicht wahr wäre...
Ich kenne so einige Leute jenseits der 60, 70, 80, die – obwohl ohne Migrationshintergrund – gravierende Probleme mit komplexeren bzw. weniger gebräuchlichen Wörtern der deutschen Sprache haben. Dieselben Personen wissen zwar, dass Angela Merkel in unserem Staat eine tragende Rolle spielt, sind aber zu einer konkreten Benennung des betreffenden Amtes nicht in der Lage.
Feldpostbriefe aus den beiden Weltkriegen lösen regelmäßig ein germanistisches Unbehagen aus, das bei der Lektüre von Aufsätzen, die in Problemschulen verfasst wurden, wohl kaum größer sein könnten.
Würde man es wagen, die besagten älteren Mitbürger oder die Autoren der Kriegsnachrichten als blöd zu bezeichnen? Wohl kaum. Beim Blöden denkt man eher an den gecheckten, aber nichts checkenden Erstwähler, allenfalls noch an den Unterschichtler mittleren Alters.
Um es mal ganz platt zu formulieren: Geringstgebildete hat es schon immer gegeben – ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war früher sogar noch größer als heute. Bevor höhere Bildung zu einem Allgemeingut wurde, war es normal und somit nicht der Rede wert, dass es Leute gab, die wenig gelernt hatten.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass man in meiner Kindheit, um die formale Qualifikation eines geistig eher schlicht wirkenden Zeitgenossen herauszustreichen, die Worte »Der Mann / Die Frau hat Abitur!« verwendete. Heute reißt eine erfolgreich abgeschlossene Gymnasiallaufbahn die Öffentlichkeit nicht mehr vom Hocker.
Die heutigen Blöden wirken nur so blöd, weil die Gebildeten in gewisser Weise immer gescheiter werden: einerseits formal wegen der Vulgarisierung höherer Bildungsabschlüsse, andererseits aber auch inhaltlich dank der nicht wegzudiskutierenden Instruktion durch die Massenmedien, nicht zuletzt auch dank der Müllhalde Internet.
Hihi ...
... ich bin auch blöd, ich kann nicht einmal ein Verb im Numerus an sein Subjekt angleichen.
Korrektur: [...] ein germanistisches Unbehagen aus, das bei der Lektüre von Aufsätzen, die in Problemschulen verfasst wurden, wohl kaum größer sein könnte.
#18 – @Gregor
Das häufig verwendete Beispiel der vietnamesischen Einwanderer scheint mir sehr instrumentalisiert. Schaut man etwas genauer hin, muss man dann auch akzeptieren, dass sich die Eltern dieser Kinder nach konfuzianischer Sitte bis zur völligen Selbstaufgabe dem Ziel unterstellen. Dadurch haben die Kinder ständige Schuldgefühle nicht genug zu leisten und werden noch dazu noch als Jugendliche als Strafe z.B. mit dem Gesicht vor die Wand gestellt, wenn die schulischen Leistungen nicht zu den besten gehören. Das wird hier keiner wirklich wollen.
Nein, das Beispiel halte ich für zu einfach. Wir sind schlicht auf dem Weg zu einer Elitegesellschaft nach anglo-amerikanischem /französischem Vorbild in der der gesellschaftliche Kontext durch kommerzielle Medien banalisiert wird. Wenn Steinmeier immer wieder darauf hinwies, dass sein Lebenslauf nur mit der Bildungspolitik der 70er-Jahre möglich war, dann ist da schon etwas Wahres dran. Heute geht der Weg wieder direkt zur Bildungselite durch Entwertung der bisherigen Bildungsabschlüsse der Masse. Das G8-Abitur mit anschließendem Bachlor-Studiengang wird sich als katastrophaler Fehler für die Gesellschaft als Ganzes herausstellen.
P.S.: Dennis Scheck (ich weiß, du magst ihn nicht) hatte Jürgs’ Buch mächtig verrissen, worauf der Autor sich nicht entblödete Scheck einen Beschwerdebrief zu schreiben. Peinlich.
@Zehner – #20 und #21
Im Echolot von Walter Kempowski über Januar und Februar 1943 wird aus Feldpostbriefen von Soldaten aus Stalingrad zitiert. In sehr vielen Fällen war es ihr letzter Brief, ihr letztes Zeichen nach Hause (und sie wussten das). Diese Briefe fallen zweifach auf: Zum einen gab es sehr viele, die in diesen letzten Worten immer noch die NS-Ideologie hochleben liessen. Dies mussten sie ganz sicher nicht (sie hätten es einfach auslassen können). Zum zweiten wurden die Briefe mit ihren teilweise katastrophalen Rechtschreibefehlern abgedruckt. In beiden Fällen denkt sich der Leser: Wie blöd müssen die eigentlich gewesen sein?
Viele Seiten später erfährt man von kleinen Handzetteln, die in Hausfluren einer Stadt geworfen wurden (ich habe so schnell den Namen nicht mehr parat). Auf diesen Zetteln stand meist nur ein Satz, der sich gegen den Krieg und gegen das NS-Regime aussprach; eine Parole, die aufrütteln sollte. Die Zettel waren handgeschrieben – und voller Rechtschreibefehler. Man fand die Schreiber und brachte sie um.
Diese Episode soll verdeutlichen: Ja, es gab immer schon Dumme, oder, wie Jürgs dann sagt: Blöde. Sie haben grosses Unheil angerichtet, weil sie clever genug waren, sich in Positionen zu bringen, in denen sie ihr Unheil ausbreiten konnten. Aber der vermeindlich Dumme / Blöde ist es auch nicht immer. Die NS-Ideologie hätte ohne die Unterstützung von Teilen der intellektuellen Elite keine Chance gehabt.
–
Die Gymnasiallaufbahn interessiert heute deshalb niemanden mehr, weil sie (1.) Grundbedingung geworden ist für sehr viele Lehrberufe (was ich falsch finde) und (2.) so nivelliert wurde, dass man schon tatsächlich ein Depp sein muss, um sein Abitur nicht mindestens mit Hauen und Stechen zu bestehen. Statt das Bildungssystem zu stabilisieren, wurde dem Fetisch Abiturquote gehuldigt, in dem man einfach die Voraussetzungen vereinfachte. Heutige Abiturienten haben sehr oft die Allgemeinbildung von schwachen Realschülern von vor zwanzig oder dreissig Jahren. Die Hauptschule ist vielerorts zur Sonderschule verkommen.
Insofern wirken die Blöden nicht so blöd, weil die Klugen so klug sind, sondern weil es noch genug Leute gibt, die in der Lage sind, diese Blöden als blöd zu erkennen. Was diese nicht davon abhält, damit Geld zu scheffeln. Es dürfte jedoch eine Frage der Zeit sein, wann diese Entwicklung auch zu Ende geht. Und dann droht tatsächlich die sanfte Diktatur der Blöden, die natürlich als solche nur noch eine Minderheit wahrnehmen wird.
@Peter42 – #22
Die Vietnamesen gelten allgemein als die »Preussen Asiens«. Aber was bedeutet denn »instrumentasiliert«? Bedeutet es nicht auch, dass die wohlfeile Rede vom nicht vorhandenen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten bei entsprechender Konditionierung eben nicht ein unausweichliches Schicksal sein muss? Ich kenne einige Familien, die aus sogenannten einfachen Verhältnissen kommen, aber dennoch sehr wohl auf die Ausbildung ihrer Kinder achten. Und ich kenne auch Familien, in denen ein Buch nichts zählt, die schon Achtjährigen einen Fernsehapparat ins Kinderzimmer stellen und die lieber mir ihren Kindern auf die Kirmes oder ins Fußballstadion gehen. Kann man im letzten Fall das Bildungssystem alleine dafür verantwortlich machen? Ich glaube nicht. Man macht es sich damit ein bisschen zu einfach.
@Gregor – #24
Natürlich kenne ich auch Familien beider Couleur und wahrscheinlich hat es sie immer gegeben. Die Frage ist nur warum die unterschiedlichen Verhaltensweisen auftreten und ob sie selbstverschuldet sind. Ich denke, dass der Wunsch nach Aufstieg durch Bildung und Fleiß nicht ex nihilo kam, sondern geradezu der Gründungsmythos der Bundesrepublik nach der Katastrophe war (z.B. die Schröder und Steinmeier) und lange Zeit das kanonisierte Lebensmotto darstellte.
Das gibt es heute so nicht mehr. Einerseits durch die Spaßgesellschaft, die jegliche Werte in der Masse ironisiert oder besser veralbert. Andererseits durch die Globalisierung, die persönliches Engagement auch bei bester Veranlagung nicht mehr immer zu belohnen weiß. Sicherlich war der Bildungsstand früher durchschnittlich schlechter. Wenn man aber bedenkt welche Möglichkeiten heute zu Verfügung stehen, muss man den Unterschied relativieren.
Ich frage mich, ob diese Entwicklung zur Elitegesellschaft ein Prozess ist, der passiert oder ob dies auch gewollt ist. Ich glaube mittlerweile an Zweiteres. Einen Bildungsaufstand von unten wird es auf jeden Fall nicht geben.
Das von Ihnen besprochene Werk ist kein revolutionäres, philosophisches Werk. Meines Erachtens spiegelt Jürgs in einer bitter- sarkastischen Sprache dieses Landes wider. Mehr nicht. Die Form- darüber kann man sich streiten. Die Inhalte sind (leider) so beschrieben, wie sie sind- flach und »blöd«. Da stimme ich durchaus dem Autor zu und habe vereinzelt mich auch verstanden gefühlt, wenn ich in meinen pädagogischen Alltag auf das Klientel sehe, mit dem ich arbeiten darf (siehe Seite 85). Ich weiß nicht, wo Sie wohnen. Ich weiß nicht, ob Sie jemals mit Kindern aus Hartz 4- Familien zu tun hatten, wobei es da natürlich auch Unterschiede gibt (...es gibt auch Familien, die noch ihren Kindern etwas vorlesen können...) Ich weiß nicht, ob Sie jemals in Essen- Katternberg, Berlin- Kreuzberg oder Hamburg- St. Georg unterwegs waren und ob Sie jemals mit Jugendlichen (mit Bindungsstörungen) zu tun hatten.... Ich habe den Eindruck, dass man in Deutschland sehr gerne die Folgeprobleme einer grenzenlosen, individualisierten Gesellschaft nieder redet. Das man sich vor der Verantwortung drückt, teifgreifende Reformen vorzunehmen, nachdem jahrelang »individualisiert« und »dezentralisiert« wurde. Ich habe den Eindruck, dass zum Beispiel der Begriff »Inklusion« mehr zum Sparen dient, als zum Inkludieren selbst. Familien brechen heute schnell auseinander, in Familien wird oft nicht mehr miteinander gesprochen- man lässt sich berieseln (die Folgen hat z. Bsp. Herr Prof. Spitzer ausgemacht und nachdrücklich beschrieben...), die Lehrer sind resigniert, in vielen Unis und FH´s werden pädagogischen Studenten immer noch aus den 68ern vorgeschwärmt... (...wobei die 68er Revolution wichtig war!) Man könnte ewig weiter fortfahren. Natürlich hilft ein Werk von Jürgs nicht unbedingt weiter. Aber es nieder zu reden bzw. zu schreiben bringt auch nichts. Provokation ist durchaus wichtig- dafür ist es wiederum gut.
Mit freundlichen Grüßen,
ein (manchmal nahezu verzweifelter) Pädagoge...
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@Pädagoge
Vielen Dank für diesen Kommentar.
ich bezweifle diese von Ihnen genannten Probleme mit keinem Wort. Ich bezweifle nur, das sie ausschließlich auf Fernseh- und/oder Medienkonsum zurückzuführen sind. Natürlich hat Jürgs kein tiefschürfendes Werk geschrieben, aber ein bisschen mehr Differenzierung sollte man doch erwarten dürfen.
In Wortwahl und Duktus passt sich Jürgs zu sehr denen an, die er so vehement kritisiert. Die Attitüde des Kindes, der sagt, dass die Kaiser nackt seien, ist in Anbetracht des Geschreis um die »Nackten« gar nicht mehr notwendig. Medienkritik sollte sich längst nicht mehr darin erschöpfen, das Bestehende mit Jargon zuzudecken. Dann noch »Panorama« oder »Monitor« als Flagschiffe des Journalismus zu feiern ist mir zu wenig (auch diese Magazinsendungen sind tendenziös). Und so spielt Jürgs den Hofnarren, der in Talkshows seine Gemeinplätze absondern darf. Vor solchen Leuten habe ich noch nicht einmal Respekt. Nur Ekel.