Kai Diek­mann: Ich war BILD

Kai Diekmann: Ich war Bild

Kai Diek­mann: Ich war Bild

Ir­gend­wie scheint es in Deutsch­land ei­ne Fi­xie­rung auf den Zeit­ab­schnitt »sech­zehn Jah­re« zu ge­ben. Als wä­re da­mit ei­ne be­son­de­re Form von Qua­li­tät und Lei­stung ver­bun­den. Hel­mut Kohl und An­ge­la Mer­kel et­wa wa­ren sech­zehn Jah­re Bun­des­kanz­ler. Und jetzt kommt Kai Diek­mann mit sei­nem Buch da­her und er­zählt sei­ne sech­zehn Jah­re als Bild-Chef. Um es nicht zu kom­pli­ziert zu ma­chen, wer­den Chef­re­dak­teurs­po­sten, Her­aus­ge­ber­schaft und ein Aus­lands­jahr ein­fach ad­diert. Egal, für den Zeit­raum vom 1.1.2001 bis 31.1.2017 gilt: Ich war BILD. Und das be­schreibt er auf mehr als 500 Sei­ten in zwölf Ka­pi­teln gar­niert mit Fak­si­mi­les von viel­leicht nicht im­mer so be­deu­ten­den Schrift­stücken wie hand­schrift­li­chen Re­de­ent­wür­fen (von sich und an­de­ren), halblu­sti­gen Brie­fen, un­ter an­de­rem ein An­schrei­ben zur Spe­sen­ab­rech­nung an Ma­thi­as Döpf­ner, sei­nem Chef, Dut­zen­den von Bil­dern von Be­geg­nun­gen (und Wid­mun­gen!) mit di­ver­sen US- oder son­sti­gen Prä­si­den­ten oder ein­fach nur Stars und Stern­chen (et­li­che da­von ken­ne ich gar nicht). Tro­phä­en­strecken nach dem Ha­la­li, das jetzt schon sechs Jah­re vor­bei ist.

Da­bei soll es »kei­ne be­lang­lo­se An­ek­do­ten­samm­lung aus dem Bü­ro des BILD-Chef­re­dak­teurs« sein, wie der Au­tor am En­de noch ein­mal be­tont, viel­mehr ei­ne »un­er­war­te­te See­len­rei­se«, wo­bei ich mir so­fort die Fra­ge stel­le, für wen die­ses »un­er­war­tet« gilt – für den Au­tor, die ge­schil­der­ten Per­sön­lich­kei­ten (et­li­che da­von sind tot) oder den Le­ser, aber das ist ei­gent­lich egal.

Diek­mann be­ginnt sein Buch mit den Er­eig­nis­sen um den Bun­des­prä­si­den­ten Chri­sti­an Wulff 2011, die im Fe­bru­ar 2012 zu des­sen Rück­tritt führ­ten. So gibt es ein Tran­skript der omi­nö­sen »Mailbox«-Nachricht, in der von Din­gen die Re­de ist, die über »das Er­laub­te« hin­aus­ge­hen, den »Bruch mit dem Sprin­ger-Ver­lag« an­dro­hen und ei­nen »Krieg« in Aus­sicht stel­len. Diek­mann schil­dert, war­um man die Nach­richt nicht ver­öf­fent­lich­te, wie dann doch ein­zel­ne In­hal­te durch­sicker­ten und ver­passt sich ei­nen Hei­li­gen­schein, in dem er noch ein­mal be­tont, dass er den Fo­kus der De­bat­te lie­ber auf die Fi­nan­zie­rung von Wulffs Haus ge­se­hen hät­te. Und weil das so ist be­rich­tet er im wei­te­ren Ver­lauf dar­über gar nichts – ver­mut­lich des­halb, weil es da we­nig bis nichts zu skan­da­li­sie­ren gab au­ßer ei­ner Un­ge­nau­ig­keit von Wulff.

Statt­des­sen wird aus­ge­brei­tet, wie man Wulff und sei­ne Frau Bet­ti­na einst in meh­re­ren Ho­me­sto­rys als die neue, mo­der­ne Patch­work-Fa­mi­lie in­sze­nier­te. Man lud sich ge­gen­sei­tig auch pri­vat ein, und der Bun­des­prä­si­dent frag­te so­gar um ei­nen Rat (den er dann nicht be­folg­te). Ins­ge­heim kann Diek­mann sein Glück heu­te noch nicht fas­sen, dass Wulff sein Ge­win­sel auf die Mail­box sprach. Da­mit er­lang­te Bild schlag­ar­tig den Sta­tus ei­nes se­riö­sen und vor al­lem re­le­van­ten Me­di­ums. Dass mit der scheib­chen­wei­sen Ent­hül­lung der Af­fekt­nach­richt or­dent­lich Öl ins Feu­er ge­gos­sen wur­de, lässt er nicht gel­ten. Wulff ha­be sich eben im Lau­fe des Am­tes »lei­der nicht zum Gu­ten« ver­än­dert und »die Bo­den­haf­tung« ver­lo­ren. Be­grün­det wird dies vor al­lem mit ei­ner hu­mor­lo­sen Re­ak­ti­on auf ei­nen Witz. Im Ne­ben­satz er­fährt man pflicht­schul­dig, dass von den di­ver­sen An­schul­di­gun­gen des Meu­ten­jour­na­lis­mus nur ei­ne Pe­ti­tes­se üb­rig­ge­blie­ben war. Was die Ge­rüch­te über Bet­ti­na Wulffs Ver­gan­gen­heit in ei­nem Rot­licht­lo­kal an­geht – hier gibt sich Diek­mann rit­ter­lich und ver­traut den Ant­wor­ten der Wulffs auf die Fra­gen sei­nes In­ve­sti­ga­ti­v­jour­na­li­sten. Und er war sich si­cher: Wenn Bild die­se Ge­rüch­te nicht wei­ter auf­nimmt, schwei­gen die an­de­ren auch. Er be­hielt recht.

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Diek­mann woll­te un­ter sei­ner Lei­tung die Bild-Zei­tung von ih­rem Schmud­del-Image be­frei­en. Da­her die An­nä­he­rung an Gün­ter Wall­raff, dem er die Auf­ar­bei­tung ei­ner Ab­hör­af­fä­re von 1976 ver­sprach, in der Bild und der BND ver­wickelt wa­ren. Das Pro­jekt schei­ter­te, weil der BND die ent­schei­den­de Ak­ten­ein­sicht ver­wei­ger­te. Statt­des­sen gab es ein paar Es­sen und ein öf­fent­li­ches Tisch­ten­nis­match zwi­schen dem Bild-Chef und dem Mann, der mal Hans Es­ser war. Wall­raff blieb bei sei­nen Vo­ka­beln ge­gen­über dem Or­gan Bild, exkul­pier­te aber so weit es ging Diek­mann. Die­ser be­zich­tigt Wall­raff wei­ter­hin, »Ver­schwö­rungs­theo­rien« zu ver­brei­ten. Im­mer­hin: Die Charme­of­fen­si­ve brach­te Diek­mann die Punk­te, nicht Wall­raff.

Ähn­lich ver­such­te Diek­mann, sei­ne Hass­lie­be zur taz zu re­stau­rie­ren, die von der Straf­an­zei­ge von der Sa­ti­re über sei­nen Pe­nis über die »Fein­des-taz« (Diek­mann über­nahm auf Ein­la­dung der da­ma­li­gen Che­fin Ba­scha Mi­ka mit sei­ner En­tou­ra­ge für ei­nen Tag die Re­dak­ti­on und legt Wert dar­auf, dass es die am be­sten ver­kauf­te taz al­ler Zei­ten sein soll) bis zur Pe­nis-Skulp­tur (Pro­gres­si­ve und ih­re Pe­nis-Fi­xie­rung!) von Pe­ter Lenk am da­ma­li­gen taz-Ge­bäu­de. »Da ist dann im­mer ein gro­ßes Hal­lo und viel Spaß«, sagt schon die Spiel­wa­ren­ver­käu­fe­rin bei Lo­ri­ot. Jour­na­lis­mus am Li­mit.

Grif­fi­ger sind die Ka­pi­tel, in de­nen sich Diek­mann mit der jüng­sten deut­schen Po­li­tik und de­ren Prot­ago­ni­sten be­schäf­tigt. Wie nicht an­ders zu er­war­ten, gibt es ein aus­führ­li­ches Ka­pi­tel über Hel­mut Kohl, den er im­mer noch vor­be­halt­los ver­ehrt. Es er­staunt, wie stark er mit Kohls Be­er­di­gung und den Trau­er­ze­re­mo­nien be­fasst war. Hier­von ist de­tail- und trä­nen­reich die Re­de. Und da­zu ge­hört, dass die Kohl-Söh­ne bei ihm – freund­lich aus­ge­drückt – sehr schlecht weg­kom­men. Er weist mehr­mals auf de­ren be­ruf­li­che Er­folg­lo­sig­keit hin, be­zich­tigt sie in­di­rekt der Geld­gier (weil sie schon zu Leb­zei­ten grö­ße­re Geld­sum­men er­hal­ten ha­ben sol­len, die ih­nen je­doch nicht aus­reich­ten) und der Ver­brei­tung von Falsch­aus­sa­gen. Der Le­ser nimmt es zur Kennt­nis; über­prüf­bar ist es nicht. Und, ehr­lich ge­sagt, auch ziem­lich ir­rele­vant.

In­ter­es­san­ter ist die Be­schrei­bung, wie es zu der ob­ses­si­ven Ver­eh­rung Diek­manns für Kohl kam, die schließ­lich in die­sen Sua­den von un­er­träg­li­cher Sen­ti­men­ta­li­tät und Hei­li­gen­ver­eh­rung mün­den. Und dann das Sa­kri­leg an »die­sem Herbst­abend 1998«. Er wur­de »nun selbst Zeu­ge da­von, wie bru­tal Po­li­tik sein kann. Ein Jahr­hun­dert­po­li­ti­ker, dem die Deut­schen nicht nur die Ein­heit, son­dern auch die eu­ro­päi­sche Ei­ni­gung ver­dan­ken. Ein gro­ßer Staats­mann, den man jetzt mit Fü­ßen tritt.« Der Herbst­abend ist der 27. Sep­tem­ber 1998 – der Tag, an dem Hel­mut Kohl in der Wahl zum Deut­schen Bun­des­tag ge­gen sei­nen Her­aus­for­de­rer Ger­hard Schrö­der ver­lo­ren hat­te. So et­was nennt sich Macht­wech­sel; ein für ei­ne De­mo­kra­tie nor­ma­ler Vor­gang, weit ent­fernt von Fuß­trit­ten. Die »eu­ro­päi­sche Ei­ni­gung« war ein Pro­zess; wie auch die deut­sche Ein­heit be­trieb Kohl ei­ne wohl do­sier­te und, was die Ein­heit an­geht, leid­lich er­folg­rei­che Scheck­buch­di­plo­ma­tie. Die Feh­ler bei der For­mu­lie­rung und Um­set­zung der Maas­tricht-Ver­trä­ge (Stich­wort: Kon­ver­genz­kri­te­ri­en), die Jahr­zehn­te spä­ter zu schwe­ren, auch po­li­ti­schen Ver­wer­fun­gen in­ner­halb der Eu­ro­zo­ne führ­ten, lie­gen nicht zu­letzt auch in der Re­gie­rungs­ver­ant­wor­tung von Kohl.

Aber es geht wei­ter bei Diek­mann: »Nur ein Jahr spä­ter wird die CDU-Spen­den­af­fä­re sein po­li­ti­sches Er­be in den Dreck zie­hen.« Es ist al­so nicht Hel­mut Kohls ver­mut­lich ge­setz­wid­ri­ges Ver­hal­ten (das Ver­schwei­gen der Spen­der – falls es wel­che ge­ge­ben hat), was Diek­mann hier kri­ti­siert, son­dern die Ver­su­che, dies auf­zu­ar­bei­ten. Am En­de heißt es dann: »Das Le­ben ist so un­ge­recht mit Hel­mut um­ge­gan­gen.«

Loya­li­tät, Be­wun­de­rung, Ver­eh­rung – in al­len Eh­ren. All das kann man ger­ne im trau­ten Zu­sam­men­sein mit Mai­ke Rich­ter-Kohl oder wem auch im­mer pfle­gen. Aber die­se Je­re­mia­den strei­fen nicht nur den Kitsch – sie sind es. Ei­nen ähn­li­chen Ton wird er spä­ter bei Ger­hard Schrö­der an­schla­gen, ob­wohl hier kei­ne Ver­eh­rung im Spiel ist (auf die Rei­be­rei­en zwi­schen Bild und ihm zu des­sen Kanz­ler­zei­ten wird na­tür­lich aus­gie­big re­fe­riert). So wird Schrö­ders Ka­me­ra­de­rie mit Wla­di­mir Pu­tin als ei­ne Fort­set­zung der »auf Freund­schaft und Hand­rei­chen ba­sier­ten« Po­li­tik von Kohl und Gor­bat­schow in­ter­pre­tiert. Der rus­si­sche An­griffs­krieg ge­gen­über der Ukrai­ne ha­be, so Diek­mann, »nicht nur Ger­hard Schrö­ders Re­pu­ta­ti­on, son­dern im Grun­de sein Le­bens­werk zer­stört.« Der Un­fug die­ser Aus­sa­ge wird auch nicht da­durch ge­mil­dert, dass er spä­ter im Rah­men ei­ner Rei­se nach Mos­kau und Kiew mit dem öster­rei­chi­schen Bun­des­kanz­ler Ne­ham­mer (Diek­mann ist »Be­ra­ter« – wo­zu auch im­mer) auch But­scha be­su­chen wird und er­schüt­tert ist. Statt­des­sen rä­so­niert er über »Pu­tin 1« und »Pu­tin 2« und sucht ei­nen Aus­weg aus der selbst­ver­schul­de­ten Fehl­ein­schät­zung. Zu Be­ginn rühmt er sich noch, Pu­tin 2001 nackt ge­se­hen zu ha­ben. Es ist die­se Mi­schung aus Ein­falt und dumm­drei­stem Nar­ziss­mus, der ei­nem im­mer wie­der die Lek­tü­re ver­gällt. Da nimmt es kaum Wun­der, dass die Dis­kus­si­on um die fahr­läs­si­ge Fi­xie­rung auf Russ­land in der En­er­gie­ver­sor­gung von ihm ei­ne »ab­sur­de De­bat­te« ge­nannt wird.

Ge­trübt ist auch Diek­manns Blick­win­kel in Be­zug auf Gor­bat­schow und des­sen Aus­sa­ge, dass man ihn 1990 ge­täuscht ha­be, in dem man ver­spro­chen hat­te, die NATO nicht nach Osten zu er­wei­tern. Zwei Mal lässt Diek­mann Gor­bat­schow dies er­klä­ren, al­ler­dings oh­ne dar­auf hin­zu­wei­sen, dass »Gor­bi« hier durch­aus un­ter­schied­li­che In­ter­views ge­ge­ben hat­te. Die Aus­sa­ge ent­behrt, soll­te sie so ge­tä­tigt wor­den sein (Über­set­zung!), je­der Grund­la­ge. Ei­ne »Ost­erwei­te­rung« kann gar nicht aus­ge­schlos­sen wor­den sein, weil sie geo­po­li­tisch gar kein The­ma ge­we­sen sein kann. Denn 1990 exi­stier­ten so­wohl die So­wjet­uni­on als auch der War­schau­er Pakt noch; kein west­li­cher Po­li­ti­ker wä­re auf die Idee ge­kom­men, über die da­ma­li­gen Sa­tel­li­ten­staa­ten der UdSSR zu ver­fü­gen. Tat­säch­lich wur­de zu­nächst zu­ge­sagt, dass kei­ne aus­län­di­schen (NATO-)Truppen vor ei­nem end­gül­ti­gen Ab­zug der So­wjet­trup­pen ein­rück­ten. Da­mit soll­ten po­ten­ti­el­le Kon­flik­te ver­mie­den wer­den. Ver­geb­lich wird man bei Diek­mann et­was über das »Bu­da­pe­ster Me­mo­ran­dum« oder den »NA­TO-Russ­land­rat« le­sen; Do­ku­men­te und Ver­trä­ge, in de­nen Russ­land die staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät der ein­sti­gen UdSSR-Re­pu­bli­ken ga­ran­tiert hat­te. Statt­des­sen schwa­dro­niert er über »Ver­trau­en oh­ne das es nie zur Ei­ni­gung und Ein­heit ge­kom­men wä­re«. Die Re­sul­ta­te die­ses »Ver­trau­ens« kann man seit 2014 se­hen und sieht sie jetzt in der Ukrai­ne.

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Diek­mann war sich sei­ner Rol­le sehr wohl be­wusst. Es war sei­ne Ent­schei­dung, »wer auf die XXL-Bühne…darf«, wer »die hel­len Schein­wer­fer be­kommt, um mit sei­nen Bot­schaf­ten ein Mas­sen­pu­bli­kum zu er­rei­chen.« Er war, und das gibt er zu, »nicht mehr nur journalistische[r] Be­ob­ach­ter«, son­dern Ak­teur. Da­bei schaut man »dem Volk aufs Maul – aber wir re­den ihm nicht nach dem Mund.« So war er und dem­nach auch Bild 2003 für den Irak-Krieg von Ge­or­ge W. Bush (was in ei­nem Halb­satz schüch­tern ver­merkt wird). Und auch in der Flücht­lings­kri­se 2014 folg­te das Blatt nicht den Kri­ti­kern der un­kon­trol­lier­ten Ein­wan­de­run­gen, son­dern ver­tei­dig­te Mer­kels Maß­nah­men (an­son­sten er­scheint die ehe­ma­li­ge Bun­des­kanz­le­rin ver­blüf­fend sel­ten im Buch, ver­mut­lich des­we­gen, weil sie sich den un­kon­trol­lier­ba­ren Um­ar­mun­gen des Bild-Trom­pe­ters im­mer ent­zo­gen hat­te).

Je nach Ein­schät­zung ist man über Diek­manns Vor­bil­der ver­wun­dert – oder eben nicht. Im Wall­raff-Ka­pi­tel gibt es ei­nen kur­zen Ein­schub zu Gün­ter Prinz, dem Bild-Chef zwi­schen 1971 und 1981. Es ist die Zeit, als Hein­rich Böll Die ver­lo­re­ne Eh­re der Ka­tha­ri­na Blum schrieb. Prinz trieb, wie es heißt, »die Auf­la­ge auf schwin­del­erre­gen­de fünf Mil­lio­nen.« Aber: »Das hat­te sei­nen Preis. ‘Wenn du die BILD quer hältst, fließt Blut raus’, war da­mals ein ge­flü­gel­ter Satz.« Diek­mann nennt die­se zehn Jah­re die »dun­kel­ste Ver­gan­gen­heit des Blat­tes«. Prinz sei »Men­schen­fän­ger und Men­schen­ver­äch­ter in ei­ner Per­son« ge­we­sen, aber »ein ge­nia­ler und ge­fürch­te­ter Blatt­ma­cher.« Als Jour­na­list ist er für ihn »ein Idol«. Um die Kur­ve zu be­kom­men, wird er­gänzt: »Sei­nen Blick auf Men­schen kann ich nicht tei­len.« Auch in sei­nem (kur­zen) Ka­pi­tel über »Pe­pe«, Pe­ter Bo­e­nisch (mit dem Lap­sus, Bo­e­nisch ha­be »rus­si­sche Wur­zeln«, denn sei­ne Mut­ter kam aus Odes­sa), der zehn Jah­re vor Prinz die Bild lei­te­te, kommt Diek­manns Jour­na­lis­mus-Ide­al zum Vor­schein. Für ihn ist Bo­e­nisch, der »die Auf­la­ge auf sa­gen­haf­te vier Mil­lio­nen Ex­em­pla­re« pusch­te (be­vor dann Prinz – sie­he oben – noch ein­mal ei­ne Mil­li­on mehr schaff­te), ei­ne Le­gen­de, was sich über sei­ne An­fein­dun­gen zu de­fi­nie­ren scheint: »Zeit sei­nes Le­bens ist Pe­pe die Ga­li­ons­fi­gur ei­nes kon­ser­va­ti­ven Jour­na­lis­mus und als Front­kämp­fer des Ver­le­gers Axel Sprin­ger ei­ner der meist­ge­hass­ten Jour­na­li­sten des Lan­des.« Erst al­so der »Front­kämp­fer«, dann der »Men­schen­ver­äch­ter«. So se­hen al­so die be­ruf­li­chen Ido­le des Kai Diek­mann aus.

In­zwi­schen ist die Auf­la­ge der Bild-Zei­tung kon­ti­nu­ier­lich ab­ge­stützt. Aber die Wahr­heit ist, dass auch al­le an­de­ren Print­me­di­en ste­tig Auf­la­ge ver­lie­ren. Den­noch ist be­mer­kens­wert, dass in den 1980er Jah­ren, als Bild 5 Mil­lio­nen Ex­em­pla­re täg­lich druckt, der An­teil an der Ge­samt­auf­la­ge der Zei­tun­gen (rd. 33 Mil­lio­nen) we­sent­lich hö­her war als heu­te (1 Mio. Bild zu rd. 11 Mio. Druckerzeug­nis­se ge­samt). Auch die Reich­wei­te der Bild-Er­zeug­nis­se sinkt.

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Es ist nur fol­ge­rich­tig, dass Diek­mann Hanns Joa­chim Fried­richs Dik­tum vom Nicht-Ge­mein-Ma­chen mit ei­ner Sa­che ab­lehnt. Hier fin­den sich die Ge­mein­sam­kei­ten mit den sich pro­gres­siv-links ver­ste­hen­den Jour­na­li­sten. Bei Diek­mann mün­det es in das all­ge­mei­ne Be­kennt­nis: »Es gibt nicht nur ei­ne Wahr­heit. Ver­schie­de­ne Wahr­hei­ten kön­nen sich dia­me­tral ge­gen­über­ste­hen.« Man kann leicht ar­gu­men­tie­ren, dass die Aus­sa­ge, dass es kei­ne Wahr­hei­ten gibt, sel­ber vor­gibt, wahr zu sein. Aber mit sol­chen Spitz­fin­dig­kei­ten kommt man nicht wei­ter. Die Aus­sa­ge, dass es »ver­schie­de­ne Wahr­hei­ten« gibt, ist na­tür­lich kom­plet­ter Un­fug. Tat­sa­chen un­ter­lie­gen kei­nem Er­mes­sens­spiel­raum; den gibt es höch­stens im Fuß­ball bei der Be­wer­tung von Spiel­si­tua­tio­nen durch den Schieds­rich­ter. Der Ein­druck, dass es ver­schie­de­ne Wahr­hei­ten gibt, kommt im­mer dann auf, wenn ein­zel­ne Aspek­te, die ein um­fas­sen­des Bild ver­mit­teln sol­len, weg­ge­las­sen oder falsch wie­der­ge­ge­ben wer­den und nur ei­ne Sicht der Din­ge pro­pa­giert wird, die als die ein­zig »rich­ti­ge« In­ter­pre­ta­ti­on gilt, oh­ne dass die­se Ma­ni­pu­la­ti­on dem Re­zi­pi­en­ten oh­ne wei­te­res er­kennt­lich ist.

Am Bei­spiel von Gor­bat­schows Aus­sa­ge zur NA­TO-Ost­erwei­te­rung kann man dies il­lu­strie­ren. Selbst­ver­ständ­lich kann Diek­mann im Rah­men ei­nes In­ter­views die Aus­sa­ge, dass USA und Eu­ro­pä­er ihr Ver­spre­chen, die NATO nicht nach Osten aus­zu­wei­ten, ge­bro­chen ha­ben, auf­neh­men und pu­bli­zie­ren. Wenn er nicht in der La­ge war oder es nicht sein woll­te, die­se Aus­sa­ge zu be­fra­gen, ist er auch nicht ver­pflich­tet, dies im Rah­men ei­nes In­ter­views nach­träg­lich zu er­gän­zen oder gar zu kor­ri­gie­ren. Im Sin­ne, dass die Aus­sa­ge von Gor­bat­schow ge­trof­fen wur­de, bleibt sie »wahr«. Aber sie ist kei­ne hi­sto­ri­sche »Wahr­heit«, son­dern ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on des Ge­sprächs­part­ners Gor­bat­schow, die nicht nur im Wi­der­spruch zu Äu­ße­run­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter steht, son­dern zu­dem den da­mals geo­po­li­ti­schen Ge­ge­ben­hei­ten wi­der­sprach (sie­he oben).

Der Diek­mann, der die »Wahr­heit« als mul­ti­ples, in­dif­fe­ren­tes We­sen dar­stellt, ist der glei­che Diek­mann, der im Brust­ton der Über­zeu­gung der Fo­to­gra­fie das Wort re­det: »Oh­ne Bil­der kein Se­hen. Oh­ne Se­hen kein Be­grei­fen.« Er zi­tiert aus­ge­rech­net Ju­li­an Rei­chelt, wenn es dar­um geht, ob ein Fo­to ge­zeigt wer­den soll oder nicht: »Nicht das Fo­to, das mensch­li­ches Leid do­ku­men­tiert, ver­letzt die Wür­de von Men­schen – son­dern der Krieg, der Ter­ror oder un­se­re Feig­heit, ein­zu­schrei­ten. Das Fo­to do­ku­men­tiert bloß die Welt.« Und Diek­mann wei­ter: »Fo­tos be­wei­sen und be­we­gen.« Letz­te­res ist ein­deu­tig, und weil dies so ist, ist ge­ra­de bei Fo­tos die al­ler­größ­te Vor­sicht ge­bo­ten. Sie be­wei­sen – ins­be­son­de­re in der Zeit der »Pho­to­shops« – zu oft gar nichts. Sie müs­sen nicht ein­mal ge­fälscht sein; der se­lek­ti­ve Aus­schnitt (sei es in der zeit­li­chen Ab­fol­ge oder auch nur bild­lich) ge­nügt schon, um den Sach­ver­halt in ei­ne ge­wünsch­te Rich­tung zu ma­ni­pu­lie­ren. Bil­der – wie auch Tex­te – ge­hö­ren im­mer in Kon­tex­te ein­ge­bun­den und ge­zeigt. Lässt man die­se weg, ist der Weg zur Ver­fäl­schung frei.

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Und sonst? Diek­mann be­rich­tet über sei­ne Be­dro­hung und die dann fol­gen­de Dau­er­über­wa­chung. Sen­sa­ti­ons­be­richt­erstat­tung am ei­ge­nen Leib er­lebt er, als vor sei­nem Haus sein Wa­gen ab­ge­fackelt wird. Er nimmt ei­nen sy­ri­schen Flücht­ling mit sei­nen zwei Kin­dern auf – das Re­sul­tat ist am En­de er­nüch­ternd. Neue, über­ra­schen­de Er­kennt­nis­se oder Ein­blicke aus dem Re­dak­ti­ons­all­tag ei­nes »Thea­ter­di­rek­tors« (Diek­mann über sich als Bild-Ma­cher), sind eher sel­ten. Er­staun­lich da­bei, wie pi­kiert man re­agiert, wenn ein­mal nicht ge­nü­gend Platz für ei­nen Ver­tre­ter der Bild-Grup­pe im Re­gie­rungs­flie­ger ist. So­fort wähnt man die Pres­se­frei­heit in Ge­fahr. In­ter­es­sant ist im­mer­hin, wenn er bi­lan­ziert, dass Des­po­ten, Au­to­kra­ten oder Po­pu­li­sten im Um­gang mit Jour­na­li­sten (un­ter an­de­rem auch Au­to­ri­sie­rung von In­ter­views) »ein­fa­cher und un­kom­pli­zier­ter als vie­le de­mo­kra­tisch ge­wähl­te Re­gie­rungs­chefs« agier­ten (in die­se Rie­ge ord­net er auch sein In­ter­view mit Do­nald Trump kurz vor des­sen In­au­gu­ra­ti­on ein). Der Grund ist ein­fach: De­mo­kra­tisch ge­wähl­te Staats­ober­häup­ter ha­ben »viel mehr zu ver­lie­ren« und müs­sen sich »nach al­len Sei­ten hin ab­si­chern.« Wel­che Ab­sur­di­tä­ten dies an­nimmt, wird an ei­nem »In­ter­view« mit dem ehe­ma­li­gen fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Hol­lan­de ge­zeigt.

Das Ka­pi­tel über Pro­mis ist ent­täu­schend. Man ahn­te es im­mer schon: »Vie­le ex­klu­si­ve Pro­mi-Ge­schich­ten müs­sen wir gar nicht müh­sam re­cher­chie­ren, die wer­den uns frei Haus ge­lie­fert.« Ei­ni­ge ma­chen dann ein Dop­pel­spiel, stel­len sich öf­fent­lich als Op­fer dar, und schimp­fen auf die Zei­tung, die sie sel­ber ge­füt­tert ha­ben. Die Bei­spie­le, die Diek­mann bringt, sind an­ony­mi­siert (Quel­len­schutz!) und auch in ih­rer Schil­de­rung eher be­lang­los, so dass man sich nicht be­müht her­aus­zu­fin­den, wer jetzt »Ni­na van Bell­huis« und »Ger­lin­de Grö­ben­ha­gen« in Wirk­lich­keit sind. Über­haupt ist der ehe­ma­li­ge Bild-Chef recht dis­kret. Wäh­rend er sich über Wit­ze von Ha­rald Schmidt und Ger­hard Hen­schel är­gert, blei­ben die ver­ächt­li­chen Tex­te von »Kol­le­gen« an­onym; man muss über das Me­di­um und Zi­ta­te den Ur­he­ber her­aus­fin­den. Da­zu passt sei­ne Wort­karg­heit be­züg­lich sei­ner Nach­fol­ger. Ein klei­ner Ne­ben­satz bleibt: »Auch wenn ich mir oh­ne Fra­ge ei­ne glück­li­che­re Ent­wick­lung ge­wünscht hät­te.« Und Diek­mann droht mit ei­nem neu­en Buch.

Ich war BILD ist ein schmis­sig ge­schrie­be­nes Poe­sie­al­bum mit deut­li­chen Spu­ren von Selbst­be­weih­räu­che­rung und reich­lich Be­trof­fen­heits­kitsch. Ähn­lich wie Jan Böh­mer­mann kein Sa­ti­ri­ker und Gün­ter Wall­raff kein Schrift­stel­ler ist, so wird deut­lich, dass Kai Diek­mann kein Jour­na­list ist. Er ist ein Ar­ran­geur, ein Kam­pa­gnen­schrei­ber, der sein je sub­jek­ti­ves Ur­teil zu Gun­sten ei­ner, näm­lich sei­ner »Sa­che« pro­pa­giert und vor al­lem aus »Scoops« aus ist. Dass Jour­na­li­sten ei­ne welt­an­schau­li­che Sicht und po­li­ti­sche Prä­fe­ren­zen he­gen, ist das ei­ne. Das an­de­re ist, wenn die­se Sicht päd­ago­gisch-mis­sio­na­risch den Re­zi­pi­en­ten ser­viert wird. Diek­manns ge­such­te Nä­he zu den Dau­er­fein­den des Sprin­ger-Ver­lags war nur fol­ge­rich­tig: Ge­nau wie die­se ih­ren schrei­be­ri­schen Ak­ti­vis­mus pfleg(t)en, so rotz­te er als Bild-Chef sei­ne »L’État-c’est-moi«-Kampagnen in die Öf­fent­lich­keit. Die »Stär­ke« sei­nes Agen­da­set­tings war, dass der Aus­schlag ei­nes Pen­dels für Freund und Feind we­ni­ger kal­ku­lier­bar war. Und doch: Nach der Lek­tü­re fragt man sich, war­um man glaub­te, dass ei­nem die­ses Buch in­ter­es­sie­ren könn­te.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ei­ni­ges stimmt: de­mo­kra­tisch ge­wähl­te Staats­ober­häup­ter sind im­mer auf der Flucht vor der Pres­se. Und die mo­ra­lisch über­mo­ti­vier­te Ge­sin­nungs­pres­se hat eben­so we­nig mit der Wahr­heit am Hut wie der Scoop-Pa­pa­raz­zi. Dass sich häu­fig ver­schie­de­ne Wahr­hei­ten »dia­me­tral ent­ge­gen ste­hen«, stimmt auch, wenn man be­reit ist, die­se Sach­ver­hal­te als »vor­läu­fi­ge Wahr­hei­ten« zu klas­si­fi­zie­ren. Ganz am Schluss soll­te sich al­les fü­gen... Was gar nicht stimmt, ist die BILDTHEORIE. Mei­ne Gü­te, die­se un­ter­stell­te Nütz­lich­keit von bild­haf­ten Dar­stel­lun­gen ist psy­cho­lo­gisch voll­kom­men falsch, weil Bil­der lü­gen. Weil Bil­der im­mer lü­gen! Wir sind kei­ne ob­jek­ti­ven Be­ob­ach­ter, wir sind kei­ne op­ti­schen Wahr­heits­fi­scher, wir se­hen im­mer, was nicht da ist, und ver­pas­sen vi­ve ver­sa den »Mann im Bä­ren­ko­stüm un­ter dem Bas­ket­ball­korb« (wit­zi­ges Wahr­neh­mungs­expe­ri­ment).

  2. Na­ja, ein Chef­re­dak­teur ei­ner Zei­tung, die »Bild« heißt, muss na­tür­lich am Dog­ma des Bil­des hän­gen.

    Es war wie fast im­mer mit sol­chen Bü­chern: Ei­gent­lich Zeit­ver­schwen­dung. Ich kann wohl nicht an­ders, als im­mer wie­der neu her­ein­zu­fal­len.