Der Atlas der abgelegenen Inseln von Judith Schalansky erschien erstmals 2009 und war nicht zuletzt aufgrund seiner schönen Ausstattung ein großer Erfolg. Er bestand, so der Untertitel, aus Karten und Texten zu »Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde«. Zwei Jahre später erschien eine Taschenbuchausgabe. Und nun, in der neuen Taschenatlasausgabe von Suhrkamp, wurden noch fünf neue Inseln zusammen mit einem neuen, aktualisierten Vorwort der Autorin aufgenommen.
Die Inseln sind geographisch erfasst mit Koordinaten, Größenangabe und Zahl der Be- bzw. Einwohner (etliche sind allerdings unbewohnt). Jede hat ihre eigene Karte im Maßstab 1:200000. Zur besseren Orientierung findet man die Entfernungen zu den nächst erreichbaren Orten. Das können auch schon mal mehr als eintausend Kilometer sein. In einer Zeitleiste werden, falls vorhanden, nachweisbare historische Ereignisse der Insel angegeben. Die Karten sind dann der Hingucker. Das Eiland mag noch so klein und unbewohnt sein – die Berge, Buchten und Anlegestellen haben trotzdem ihre Namen, wie etwa das Kapp Ingrid auf der unbewohnten Peter- I.-Insel, Kapp Ruth auf der Bäreninsel, den Tolstoi-Point bei St. Georg, rund 1600 km von der Kamtschatka entfernt oder Anchorage Bay auf den Antipoden-Inseln – im Pazifischen Ozean. Über die Berge erfährt man zuverlässig die Höhe. Und seien es auch nur 3 Meter.
Auf den nachfolgenden beiden Seiten gibt es dann eine Art Visitenkarte. Wegen des knappen Platzes gibt es keine Absätze sondern orangene Schrägstriche. Die Texte sind häufig historische Reminiszenzen über prägende Ereignisse des jeweiligen Ortes. Das genügt fast immer, lediglich bei der Osterinsel, die längst zu einem umfassenden Forschungsobjekt geworden ist, hat man ein wenig das Gefühl der Unvollständigkeit.
Manche Entdeckung geriet für die Pioniere zur Enttäuschung; häufig aufgrund der Lebensfeindlichkeit der Natur bzw. der klimatischen Umstände. Dies führte bisweilen dazu, Forschungsstationen oder Sträflingslager zu errichten. Fanden sich Bodenschätze, wurden diese ausgebeutet, und wenn es nur Vogelkot war. Bisweilen übertrugen die Entdecker Seuchen oder schleppten Tiere oder Pflanzen ein, die sich zu Plagen entwickelten. Auf der Weihnachtsinsel herrscht, so Schalansky, Krieg, und zwar zwischen der aggressiven Grünen Spinnerameise und den Roten Landkrabben. Die Ameisen, die sich zu einem gewaltigen Superstaat vereinigt haben, lassen ihnen keine Chance. Sogar Vogeljunge fallen ihnen zum Opfer.
Einige Eilande sind durch ihre strategische Lage interessant und es gab oder gibt dort Landebahnen und Militärbasen. Es sind jene, die man am ehesten mindestens namentlich kennt (beispielsweise Diego Garcia, die Midway-Inseln oder Iwojima) Aufgenommen wurden auch einige Atolle und Inseln, in deren Nähe man Atom- und Wasserstoffbomben testete.
Zahlreich die Kuriositäten. Auf Amsterdam leben nur Männer (interessant die Bewohneranzahl: »25–50«). Eigentlich müsste die Robinson-Crusoe-Insel Alexander-Selkirk-Insel heißen, denn hier strandete Dafoes Vorbild Alexander Selkirk (allerdings nur vier statt 28 Jahre). Da die Bewohner jedoch Touristen anlocken wollten, wurde der Name der literarischen Figur gewählt. Zum Ausgleich gibt es 150 km entfernt eine Alexander-Selkirk-Insel, die der Namensgeber jedoch nie betreten hatte.
Auf Pingelap (258 Einwohner) ist die Farbblindheit überproportional verbreitet. Beim neuseeländischen Staat kann man sich für ein einjähriges Freiwilligen-Programm für einen Aufenthalt auf der Raoul-Insel (980 km vom Festland entfernt) bewerben. Trinidade wurde bekannt durch mysteriöse UFO-Fotos. Die Possession-Insel liegt so abgelegen, dass man sie fast nur durch einen Schiffbruch erreichen kann. Man erfährt vom Schicksal des Fabrikantensohnes August Gissler, der das Abenteuer wählte und große Flächen der Kokos-Insel umgegraben haben soll, um dort verborgene Schätze zu finden, die auf Karten eingezeichnet waren, die er in Seemanns-Spelunken erworben hatte. Er starb 1935 in New York, immer noch sicher, dass dies Stevensons Schatzinsel gewesen sein musste (dabei sind die Maße unpassend).
Die 1285 Einwohner auf der 4,7 km² großen Insel Tikopia (Salomonen) haben, wenn man den Schilderungen Glauben schenken darf, ein rigoroses und teilweise gruseliges Bevölkerungsmanagement, denn die Ressourcen sind begrenzt. Dabei ist die Regel, dass Eltern keine Kinder mehr bekommen dürfen, wenn ihr ältester Sohn alt genug zum Heiraten sei, noch die harmloseste. Ähnlich schaurig die Erzählung von einem Neugeborenensterben auf St. Kilda im 19. Jahrhundert; heute ist die Insel unbewohnt.
Neben der Geschichte der Pitcairn-Insel (seit der Ransmayr-Erzählung mit größerer Bekanntheit) hat Schalansky auch North Sentinel aufgenommen, jene offiziell zu Indien gehörende Andamanen-Insel, deren Bewohner 2018 den amerikanischen Missionar John A. Chau töteten und auch sonst schon einmal mit Pfeil und Bogen einen Hubschrauber oder Drohnen angegriffen hatten. Es erstaunt nicht, dass die Karte dieser 60 km² großen Insel die spärlichste ist. Lediglich ein 122 m hoher Berg ist eingetragen. Wege und Flüsse: Fehlanzeige. Niemand weiß, wieviele Menschen dort leben. Schalansky vermutet in der missionarischen Absicht des Amerikaners den Grund für dessen Tötung. Hier zeigt sich immer noch ein wenig die Sehnsucht nach dem »Edlen Wilden«, der, wie Schalansky mutmaßt, »ausreichend Bekanntschaft mit unserer Verdorbenheit gemacht« haben muss, um derart zu reagieren (dabei wird gleichzeitig die Abgeschiedenheit betont). Vielleicht wissen sie intuitiv, dass sie den Krankheiten, die der moderne Mensch bei ihnen einschleppen würden, zum Opfer fallen würden. Immerhin gibt es im Netz ein Video einer Begegnung zwischen den Bewohnern und indischen Wissenschaftlern von 1991, die friedlich verlief.
Der Taschenatlas der abgelegenen Inseln ist ein Buch, dass zu jeder Jahreszeit und an allen Orten vergnüglich und lehrreich zugleich zu lesen ist. In seinem blauen Leinencover erweckt es den Eindruck eines geheimnisvollen Almanachs. Der Leser wird zum Entdecker. Ein bisschen getrübt wird der Genuss durch den ein oder anderen Fakt, der die aufkommende Idyllenfreude zum Platzen bringt. Aber dann blättert man einfach um. Bon voyage!