In der vergangenen Woche gab es im Feuilleton der ZEIT ein Stürmchen im Latte-macchiato-Glas. Florian Kessler, freier Autor und Journalist, beklagt, dass sich die deutsche (sic!) Gegenwartsliteratur fast nur aus Akademikerhaushalten rekrutiert, was naturgemäss Auswirkungen auf die Literatur selbst habe. Dies gelte sowohl für die Schreibenden wie für das Rezeptions‑, Preis- und Funktionärswesen des Betriebs. Salopp gesagt: Akademikersöhne und –töchter schreiben wie Akademikerväter und –mütter dies schon immer gewollt haben. Alles andere, abseitige, proletarische (dieses Wort fehlt, wird aber suggeriert) habe keine Chance. Um seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, versucht er es mit einer guten Portion Selbstironie. Zum einen beschreibt er durchaus humorig, wie er selber in den Betrieb eingedrungen ist (die Brille!), zum anderen »outet« er sich (!) selber als Professorensohn (ich habe dieses »oder auch ich« tatsächlich zwei Mal überlesen). Selbstbezichtigung zur rechten Zeit ist ja aus diversen Revolutionen bekannt, kostet aber heute noch nicht einmal mehr den Kopf.
Kessler findet in Enno Stahl in der taz einen Fürsprecher. Stahl ist seit Jahren Pfahl im Fleisch der Literaturkritik (naja, jenseits der bürgerlichen Zeitungen). Unlängst ist seine Aufsatzsammlung »Diskurspogo« erschienen. Sein Programm lässt sich – mit seinen eigenen Worten – ungefähr so zusammenfassen: »Die idealistisch-romantische Perspektive auf künstlerische Elaborate, die – speziell im Feuilleton – unverändert auf die werkimmanente Methode pocht, impliziert ein konkurrierendes Wertungsdispositiv, eines, das meiner Meinung nach im Zeichen der gravierenden Umgestaltungsprozesse der westlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation ausgedient hat«. Kurz – und womöglich nicht dialektisch ausgewogen: Literatur muss politisch sein, alles andere ist kapitalistischer Mist.
Kessler und Stahl geht es um die Literatur, nicht um die Protagonisten selber. Ich werde immer skeptisch, wenn mir Leute versichern, dass es ihnen »um die Sache« gehe. Das erinnert ein bisschen an übervorsichtige Eltern, die einem mit ihrem Paternalismus vor der bösen Welt glauben beschützen zu müssen. Das Wohl des Kindes, das sie im Blick zu haben vorgeben, ist nichts anderes als die möglichst lange Fortsetzung von Einfluss und Macht. Hier scheint es ähnlich. Die Sorge um das Wohl der Literatur entspringt entweder dem Wunsch, den eigenen Einfluss zu zementieren oder es geht darum, die Strukturen in seinem Sinn zu verändern. Hier geht es darum, die Literatur zu politisieren. Literatur habe, so der Gedanke, einer bestimmten, »richtigen« Idee zu dienen. Bedingung dafür wäre, dass man selber in Besitz dieser »richtigen« Idee ist. Das wird wohlwollend vorausgesetzt.
Der Gedanke, dass Literatur politischen oder sozialen Zielen zu dienen oder mindestens didaktisch zu begleiten habe, ist nicht neu. Die Lager, die diese Idee befürworten und diejenigen, die sie ablehnen, stehen sich seit mindestens 200 Jahren unversöhnlich gegenüber. Goethe meinte, die literarische Potenz eines Autors würde unter politischem Engagement leiden. Andere Autoren, insbesondere der Moderne, gründeten ihren Ruf darauf. Immer wieder gab es politisch-revolutionäre Autoren – von faschistisch bis stalinistisch. In Osteuropa kursierte länger der heute belächelte sozialistische Realismus (die Straflager für die Abweichler war dann weniger belächelnswert). Aber auch heute noch klopft das Feuilleton belletristische Bücher auf (unan)genehme soziale oder politische Gesinnung(en) ab. Wer nicht im »richtigen« politischen Mainstream mitschwimmt erhält mindestens das Etikett »umstritten«, das ihn zumeist ein Leben lang stigmatisiert aber Ordnung auf dem Rezensentenschreibtisch schafft. Es gibt hiervon nur zwei Ausnahmen: Entweder ist die Vernetzung des Schreibenden extraordinär (dann kann beispielsweise auch noch ein Plagiat als intertextuelles Kunstwerk deklariert werden). Oder das inkriminierte Stück Literatur hat ein extrem großes Skandalpotential.
Noch mehr Biographismus
Kessler reicht der gängige Biographismus des Feuilletons nicht aus. Tatsächlich wird der jeweilige literarische Text ja fast nur noch mit bzw. nach der Biographie des Autors abgescannt. Dazu kommen dann einige Äußerungen, die in Interviews oder Vorschauprospekten abgedruckt werden. Das war’s dann meistens schon mit der »Rezension«. Stahl thematisiert dies ebenfalls und meint, dass die Literatur langweilig sei, »da sie zu großen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wird, die nichts erlebt und nichts zu erzählen haben«. Aber warum ausgerechnet die dann von ihm genannten Goetz, Roeggla und Jirgl als leuchtende Beispiele angeführt werden, von denen Goetz und Roeggla nie etwas anderes erlebt haben, als mit Texten umzugehen (kein Vorwurf!) und die vom Betrieb seit Jahren mit Preisen überhäuft werden, ist wirklich lustig.
Neulich hatte Joachim Zelters Novelle »Einen Blick werfen« dieses Verfahren (er nennt es »Curricularismus«) wunderbar leicht aber treffend persifliert, aber vermutlich ist sowohl Herrn Kessler als auch Herrn Stahl dieser Text unbekannt. Ich sehe in schon auf den Verlagsseiten unter der Rubik »Einreichung von Manuskripten« einen entsprechenden Disclaimer aufpoppen:
»Bei gleicher Qualität der eingegangenen Manuskripte werden diejenigen von Töchtern oder Söhnen von Arbeitern und Nicht-Akademikern bevorzugt. Entscheidungen zu Gunsten von aus Akademikerfamilien stammenden Schreibenden sind nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen schwer wiegender individueller Gründe möglich« (nur unwesentlich gängige Kriterien paraphrasierend).
Dabei hat Kessler durchaus einen Nerv getroffen. Der Betrieb ist sehr hermetisch und sozusagen inzüchtig. Nur in Sonderfällen wird auf den Stallgeruch verzichtet. (Ich weiss, wovon ich rede; die wenigen Ausnahmen gibt es natürlich immer.) Ähnliche Strukturen kann man übrigens in allen anderen möglichen Berufsverbänden, »Betrieben« oder auch Subkulturen entdecken. Die aus dem Boden schießenden Schreibschulen verstärken das Rottendenken der Literaturszene noch. Die Konformität, die Kessler zu Recht beklagt, wird ja gerade dort erzeugt – politische und vor allem ästhetische Konformität. Stillschweigend geht Kessler allerdings davon aus, dass der Literaturnachwuchs ausschließlich aus diesen Trainingslagern kommt, die sich mit dem euphemistischen Begriff »Kreatives Schreiben« (wahlweise in englischer Verklausulierung) schmücken.
In Wirklichkeit geht es nämlich um marktkonformes, den ökonomischen Gesichtspunkten des schnellen Konsums gehorchendes Verfassen von fiktionalen bzw. semi-fiktionalen Texten. In den USA gibt es dies schon seit Jahrzehnten und die deutschen Verlage bedienen sich regelmässig hieraus, in dem sie Erstlinge junger Debutanten aufkaufen und mit lautem Getöse und schnellen Übersetzungen auf den Markt werfen. Entsprechend fällt dann zumeist die Literatur aus: Wohlgeformte, »handwerklich vorbildliche« (Enno Stahl), auf leichte Eingänglichkeit gedrillte Sätze in einfachen Plots, in denen schon Binnenerzählungen oder Rückblenden als avantgardistisch verkauft werden. Lesefutter, dass zu oft keinen Nachhall geschweige denn ein episches Gefühl beim Leser erzeugt.
Nur noch Marketingknecht für die üblichen Verdächtigen
Das Feuilleton hat sich allzu bereitwillig auf den Status des Marketingknechts der großen Verlage reduzieren lassen. Redakteure werden mit Rezensionsexemplaren und Fahnen geradezu überhäuft. Wie genau manchmal Sprache sein kann, zeigt sich daran, dass man den Begriff »Leseexemplar« immer seltener findet – zum Lesen kommt man nämlich bei einer derartigen Flut von Neuerscheinungen und sich hieraus ergebenden Verpflichtungen kaum noch. In der Szene wird dies seit langem beklagt. Daher wird der Weg des geringsten Widerstands begangen: Man bespricht die hochglanzbeworbenen Neuerscheinungen der üblichen Verdächtigen. Der »neue« Roman von X ist da (es muss immer ein Roman sein). Vorbesprechung, Interview, Besprechung – kein Feuilleton kann bzw. will es sich leisten, über die Neuerscheinung eines prominenten Autors einfach mal zu schweigen, weil vielleicht schon alles darüber gesagt wurde. Im günstigen Fall gibt es unter den Kollegen einen kleinen geschmacklichen Disput. Ästhetische Punkte spielen kaum eine Rolle (hier liegt einer der Hauptirrtümer von Enno Stahl). Hat man als potentieller Leser alle Rezensionen über den »neuen« von X verfolgt, hat man oft genug keine Lust mehr, den Primärtext zu lesen. Da gibt es nämlich schon das nächste, neue Buch – von Y.
Dieses Hamsterrad spricht Kessler nicht an, obwohl es sehr viel mit seiner suggestiven Forderung nach einer Art Proletarierquote zu tun hat. Marc Reichwein hat es in seiner Replik auf Florian Kessler treffend formuliert:
»Wer als Literaturkritiker wie Florian Kessler die Literatur fördern will, die ihm institutionell fehlt, könnte sie suchen gehen. Die Selfpublishing-Literaturszene wartet.«
In diesem Satz entdecke ich zwei Provokationen. Zum einen die Bezeichnung Kesslers als »Literaturkritiker«. Zum anderen der Verweis auf die Selfpublishing-Szene – für die institutionell verkrustete Feuilletonschickeria eine nahezu blasphemische Brüskierung. Das ist in etwa so als empfehle man dem FC Bayern ein Scouting in der Regionalliga West. Direct-Publishing gilt immer noch mehr oder weniger als Untergang des Abendlandes; Texte mit entsprechendem Tenor platziert man immer noch sehr gerne im Feuilleton (es ist ja auch schick gegen Amazon zu sein). Aber Reichweins Hinweis ist eine Metapher. Neben den auf Bestseller- oder Bestenlisten gedrillten Büchern und dem von einigen Verlagen schlampig auf den Markt geworfenen Schrott gibt es ganz sicher Entdeckungen zu machen.
Aber dies geschieht nicht. Das Feuilleton vernachlässigt sträflich seine Aufgabe, sich auch abseits der ausgetretenen Wege um die Kunst- und Literaturszene zu bemühen. Stattdessen werden billige Affekte bedient oder die immergleichen Namen repliziert. Der Bildungs- bzw. Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Medien wird längst nur noch mangelhaft wahrgenommen. Lediglich einige Nischenplätze werden zugestanden. Die Redakteure arbeiten unter Zeit- und Konformitätsdruck; glauben, dem Publikum nicht mehr allzu viel zumuten zu können. Hierin liegt meines Erachtens auch einer der Gründe für den rapiden Bedeutungsverlust des Feuilletons: Es ist einfach langweilig geworden auf die neuesten literarischen Publikationen von vielleicht 30 oder auch 50 Dauercampern des Betriebs zu warten, die dann routiniert »abgehandelt« werden. Es wäre längst angesagt, sich mit der breiten deutschsprachigen literarischen Szene jenseits der großen Namen und außerhalb der so gut geschmierten Netzwerke auseinanderzusetzen. Blogs und Internetportale könnten hier hilfreich für Kooperationen eingebunden werden. Das ist im Einzelfall mühsam und womöglich oft ernüchternd. Aber die Nadeln im Heuhaufen gibt es. Man muss sie nur suchen. Und bereit sein, ins Heu zu gehen. Dann ändert sich im übrigen auch der Stallgeruch.
Pauschalisierungen sind praktisch immer falsch. Kessler muss man immerhin zugute halten, dass er sich auf persönliche Beobachtungen bezieht, wo Enno Stahl sich ja eigentlich nur beklagt, dass die genormte Ware falschen Normen folgt, weswegen ich dem guten Jungen raten würde, sich doch einfach nur noch mit TV zu beschäftigen, das müsste ihm doch eigentlich reichen. Da geht es ja immer proletarischer zu, die bildungsbürgerliche Szene ist da ja praktisch komplett außen vor, auch die Kultursendungen sind doch angenehm anti-elitär und bewegen sich in ihren Vermuttlungsbemühungen durchaus auf dem Niveau von Nicht-Akademikern. Also bitte, kommt doch keiner zu kurz, kann sich jeder auf seinem Niveau amüsieren.
Was bei diesem Thema unberücksichtigt bleibt: das Publikum. Es stimmt ja gar nicht, dass es keine Literatur unterhalb der Bildungselite gibt. Es gibt sie bergeweise. Sie wird verschlungen, erobert die Bestsellerlisten, wird von Metzgertöchtern wie Nele Neuhaus geschrieben oder von irgendwelchen Funk-&TV-Prominenten mit Scheibhilfe vom Verlag und an diesen Büchern gehen die Lorbeerkränze meistens vorbei, was bei näherem Hinsehen wohl nicht einmal Enno Stahl ungerecht, sondern nur verdient findet.
Das Drama ist ja nicht, dass die Literatur ein Phänomen ist, das nur in bürgerlichen Haushalten vorkäme. Das Drama ist, dass sie selbst da kaum noch Platz hat. Die Lektüre schwieriger Sachen zeigt doch eher abwärts. Die Bücher mit anderer Ambition als nur einer finanziellen landen, Passig hat neulich darüber geschrieben, meist nur auf der »Wunschliste«, dringen nur manchmal bis auf den Fußboden neben dem Bett vor – dort haben sie aber nur nur Prio 2 oder 3, während die Unterhaltungsware ohne Bildungsschranke sich lässig davor schiebt.
Aber beklagen muss sich trotzdem niemand, der gerne liest. Es gibt genug. Es muss ja nicht immer das Neueste oder angeblich Wichtigste, auch nicht unbedingt von deutschen Schreibtischen produziert sein.
Insofern möchte ich vor allem das bei Ihnen unterstreichen: »Das Feuilleton vernachlässigt sträflich seine Aufgabe, sich auch abseits der ausgetretenen Wege um die Kunst- und Literaturszene zu bemühen.« Das würde ich sogar in rot und mit Edding doppelt unterstreichen, und dann noch mal mit Leuchtfarbe markieren. Ich fürchte sogar, das Feuilleton bleibt in dieser Hinsicht hinter seiner Kundschaft zurück, die vielleicht auch nicht besonders aufgeweckt ist, aber dann doch weniger auf die Hypes fixiert ist, als die redaktionellen Verlagsvertreter meinen. Leser sind auf der Suche nach Büchern, die sie beschäftigen, ergreifen, bewegen, begeistern ...
@Fritz Iversen
Richtig ist: Es gibt Literatur »unterhalb der Bildungselite«. Das sind dann zumeist die Bücher, die Denis Scheck bei seinem Bestsellergericht aufs Förderband zur Mülltonne schmeisst. Das wirkt anfangs noch befreiend, nach den vielen Jahren jedoch meist nur noch hohl: Man zeigt dem anderen, dass dieser schmutzige Fingernägel hat. Kann man machen, aber bringt auch niemanden dazu, einen Grass aufzuschlagen.
Was Sie zum Publikum schreiben, ist interessant. Ich glaube ja auch, dass man insbesondere im Fernsehen (was die Vermittlung von Kultur angeht) als auch im Feuilleton das Publikum unterschätzt bzw. glaubt in vorauseilendem Legitimationszwang das Abseitige, vermeintlich Schwierige, dem Publikum nicht (mehr) zumuten zu können. Manchmal frage ich mich dann, ob dies ein Paternalismus ist oder ob die Protagonisten vielleicht längst selber halbwegs verblödet sind.
Nichts gegen Denis Scheck: Einer zumindest muss auch mal laut sagen (dürfen), was in die Tonne gehört! Vielleicht wird um der liebgewonnenen »Pluralität« willen viel zu viel Rücksicht genommen, statt Feindschaft dort klar zu äußern, wo das überfällig ist. Wieso sollen da nicht ein paar Gegen-Affekte erlaubt sein?
Wie eben, als ich bei »Buchreport« sehe, dass jetzt RTL die Stiftung lesen »unterstützt«.
Hätte sich das einer je ausdenken können? Und dann auch noch mit dem Gesicht der alten Promi-Schreckschraube, die eine Art König Ludwig aller Illiteraten in Deutschland ist?
Ausgerechnet der hassenswerteste Sender also, der, der uns Kohls geistig-moralische Wende mit »Tutti-Frutti« und einer offenen Berlusconisierung avant tout lettre versüßte, die wir heute, da auch schon „historisch“, alle so putzig finden, dass sich zu einer grundlegenden Kritik an der normal gewordenen Korruptheit eines solchen Markt-Führers niemand mehr aufschwingen mag? (Stattdessen kriege ich tagtäglich auf Feuilleton- und Medienseiten gemeldet, wie es in unser aller Camp um „Larissa“ (?) steht.)
Vielleicht sollte man die Literatur, die einem lieb ist, doch lieber weiter tot schweigen lassen, statt sie dem schleichenden Gift solcher »Unterstützung« auszuliefern.
Ja, natürlich: Feindschaften artikulieren. Aber gehört zum »Feind« nicht auch eine gewisse Satisfaktionsfähigkeit? Wie billig ist es doch, die Twilight-Bücher über Monate und Jahre mit einer gewissen Lust in die Tonne zu schmeißen. Oder sich über Precht lustig zu machen (über die »Entdeckerin«, der man diese Figur Precht zu verdanken hat, macht sich leider niemand lustig; sie sitzt mit ihrem Hintern in einer Literaturdiskussionssendung). Ein Sternekoch probiert doch auch nicht laufend Tütensuppen, nur um sie dann mit Ekelgesicht ins Klo zu schütten. Was will Scheck damit zeigen? Dass er lesen kann?
Und wer soll eigentlich von RTL da wirklich erreicht werden? Natürlich ist es ein lächerliches Manöver, ein paar Kulturpünktchen einzuheimsen. Masturbation vor dem Spiegel. Wobei man sich dann selber noch den Höhepunkt simulieren muss. Geschenkt. Lesen »lernt« man nicht durch Fernsehschauen oder Werbespots gucken. Da existieren Prägungen im Elternhaus. Oder/und später im Freundeskreis.
Die anderen schauen längst Dschungelcamp wie weiland unsere Vorfahren sich an den »Wilden« in den »Völkerschauen« delektiert haben. Nur umgekehrt: Wir machen unsere Wilden jetzt selber. Soviele Ausschaltknöpfe gibt es gar nicht, wie man gleichzeitig drücken möchte.
Kessler versucht wohl eine Art Ursachenanalyse unter möglichst schmaler empirischer Basis, also: (fast) ohne Belege; — das gilt sowohl für die Zustandsthese als auch die Erklärung. Und Konsequenzen für den durchaus involvierten – immerhin, das wird thematisiert – Feuilleton-und Literaturjournalismus werden auch keine gezogen (siehe Reichwein).
Stahl begeht schon im dritten Satz einen logischen Fehler: »Die deutsche Literatur, vornehmlich die jüngere, werde nahezu ausschließlich von Abkömmlingen des Großbürgertums verfasst, sagt er. Es käme darauf an, Mitglied einer bestimmten In-Crowd zu sein, um in Deutschland literarisch erfolgreich zu sein.«
Die In-Crowd ist nicht mit der angesprochenen sozialen Schicht ident, sie muss sich auch keineswegs ausschließlich aus ihr rekrutieren. Damit entgeht ihm, dass nicht (nur) die Sozialität entscheidet, sondern eher, dass man auf einer bestimmten Klaviatur spielen kann und will (um eine Metapher zu verwenden). Insofern verwundert es auch nicht, dass er die Rezensenten und ihren Betrieb (beinahe) in Schutz nimmt — er muss es eigentlich. Und auf die ökonomische Logik vergisst er völlig.
Mein Empfinden: Kessler spielt mit dem sozialkritischen Impetus nach dem Motto. Stahl meint es Ernst.
Hier ist die länger angekündigte Antwort von Knipphals auf Stahl. Merkwürdig hierin die Stelle, in der er appelliert bei den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten etwa, im akademischen Raum oder auch immer noch im Printjournalismus den Fokus zu legen. Der »akademische Raum« ist doch das Milieu, das Kessler und Stahl als verkrustet attackieren.
Und die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten haben ihre Literatursendungen längst zu Nischenprodukten gemacht (sieht man einmal vom Deutschlandradio/Deutschlandfunk ab).
Viel zu wenig wird dies berücksichtigt: Im Literaturbetrieb dagegen ist letztlich viel zu wenig Geld drin, um tatsächlich relevant zu sein – selbst arrivierte Autoren müssen sich ordentlich anstrengen, um auf ein Lehrergehalt zu kommen. Ich glaube, dass das stimmt. Daran tragen dann jedoch o. g. Medien einen gerüttelt Anteil daran: Sie beschäftigten – bspw. bei den obligatorischen Buchmessenbeilagen und ‑sendungen – nur »äußerlich«, scheinbar mit Literatur. In Wirklichkeit sind es Berichte, in denen mehr oder weniger gnadenlos die Bestseller generiert und dann abgespult werden.
Ich glaube Knipphals meint mit akademischem Raum die Universitäten: Über die wurde tatsächlich nicht gesprochen. Und ich glaube, dass sein Einwand in ästhetischer Richtung wichtig ist und in der Diskussion zu kurz kommt (oder für Stahl zu wenig Relevanz hat); ebenso, dass oft zu viel behauptet und zu wenig belegt wird; auch das scheint mir richtig: Ich glaube jedenfalls, der klassische bildungsbürgerliche Weg für Professorentöchter und Richtersöhne besteht eher darin, mal ein paar Jahre in den Literaturbetrieb hineinzuschnuppern und dann doch was »Richtiges« zu machen. Schriftsteller, Literat, das sind keine klassisch bürgerlichen Berufe.
Stahl ist es ernst, richtig, er lässt sich aber m.E. zu sehr von seinen grundlegenden und vom Thema unabhängig existierenden Thesen leiten.
Ist der akademische Raum in den Universitäten nicht irgendwie begrenzt? Nicht jeder kann Dozent werden...
Schon, gemeint war, glaube ich, die soziale Repräsentation bestimmter Milieus, ähnlich wie bei den Geschlechtern: In vielen Studien überwiegt deutlich der Anteil weiblicher Studenten, der sich aber, sozusagen, nicht bis in die Spitzenpositionen durchschlägt, warum auch immer (ich habe selbst einmal bei der Bestellung einer Professorenstelle, auf Grund eines freud’schen Versprechers, mitbekommen, dass der eine oder andere, der in Bestellungskommissionen sitzt, keine Frauen haben möchte, wobei es in dem Artikel gar nicht um Absicht geht, sondern um die Vorteile in bestimmten Milieus aufzuwachsen, Vorteile die andere, aus anderen Milieus nicht haben).
Für Stürmchen (im Haifischbecken Literaturbetrieb) ist Florian Kessler ja imgrunde der richtige Mann, sozusagen als der erste wirklich serienreife Kulturjournalist aus der Kulturjournalistenmanufaktur Hildesheim. Vor Zeiten hatte er sich ja schon einmal in der Süddeutschen Zeitung weitgehend kenntnisfrei zum Phänomen des literarischen Bloggens geäußert. Insofern habe ich seiner Klage über die deutsche Akademikerliteratur keine große Bedeutung beigemessen, doch wer es in die Süddeutsche und die Zeit schafft, wird beachtet. Logo. Interessant finde ich aber, daß er und viele andere offensichtlich davon ausgehen, die aktuell erscheinende und dann auch noch deutsche Literatur habe überhaupt und per se eine besondere Aufmerksamkeit verdient, und zwar trotz der ja nicht von der Hand zu weisenden Tatsache, daß die in den großen und auch kleinen Verlagen zu findende deutschsprachige Literatur aus einer Weltgegend stammt, in der sich Wohlstandsverwahrlosung nicht selten kulturell und künstlerisch in Mittelmäßigem manifestiert – aus existentieller und künstlerischer Notwendigkeit heraus geschriebene Literatur für den großen Markt ist hierzulande, zur Zeit jedenfalls, eben nicht mehr aus einer kollektiven Betroffenheit heraus möglich, die der Autor mitlebt, wie etwa nach den Weltkriegen, sondern nur als Überlebensbericht oder Sterbeselbstbegleitung, quasi aus der je eigenen Krankheit geboren. Letzteres nehmen die Verlage (von zuvor schon halbwegs prominenten Schreibern) gerne, weil es in jeder Hinsicht ernst ist und sich eben trotzdem angemessen verkauft, alles andere, das »nur« Erfundene, muß aber auch und besonders ins kaufmännische Schema passen, und da sind die Akademikerkinder eben die, die sich in Hildesheim oder Leipzig schulen lassen können, ohne ihr eigenes Milieu zu verraten und die hart für den angestrebten Wohlstand arbeitenden Eltern vor den Kopf zu stoßen. Die gute Nachricht aber ist, daß die im weiteren Sinne moderne deutschsprachige (sic) Literatur seit über 200 Jahren ihr Unwesen treibt, mal ganz abgesehen davon, daß es ausgehend von (zum Beispiel) Hesiod oder meinethalben auch Dante oder Jean Paul ausreichend gute Bücher gibt, die lesenswert sind, weil der Leser sie lesend aktualisiert.
Diese feine, aber leider so zutreffende Süffisanz überliest man schnell:
doch wer es in die Süddeutsche und die Zeit schafft, wird beachtet
Aber warum eigentlich? Es kann nicht nur an der Brille liegen. (Kessler bedient den Feuilleton-Mainstream eben. Selbst da, wo er scheinbar dagegen bürstet.)
Ich habe Florian Kessler mal im Literaturhaus in der Fasanenstraße in Berlin gesehen, er sprach Alban Nikolai Herbst nach einer Lesung an und bekannte, derjenige zu sein, der in der Süddeutschen Zeitung über literarische Blogs geschrieben hatte, sehr zum Ärger ANHs. Kessler wirkte dabei wie ein Praktikant, der sich seine ersten Sporen verdient; so einem, so mein Eindruck, kann man nicht wirklich böse sein, vielleicht auch deswegen, weil Kessler durchaus ein wenig wie (Hergés) Tim wirkt – fehlt nur noch Struppi an seiner Seite, der sich in Hundesprache seinen Teil denkt.
Mein asoziales Wesen bringt es mit sich, dass ich gerade solchen »Praktikanten-Typen« immer besonders böse bin, da ihre bräsige Arroganz in großem Missverhältnis zu ihrem tatsächlichen Intellekt steht. Ihnen fehlt aus Dummheit oder Ignoranz zwar der Vorsatz, aber das macht es noch schlimmer als mit einem Ideologen zu diskutieren, der wenigstens Kenntnis seinem Glauben hat.
Ich kann gut nachvollziehen, was Sie meinen. Ich für meinen Teil habe den Vorteil, daß ich für diese »Praktikanten-Typen« uninteressant bin und sie also Angst vor mir haben (müssen), weil sie mich mit ihren Mitteln nicht einschätzen können. Witold Gombrowicz bezeichnete solche Typen ja als die »Kultur-Tanten von der Literaturkritik«, ein Bezeichnung, die mir auch heutigentags ganz gut zu passen scheint.
Muss der (kritische) Beobachter nicht auch das beachten, was in einem sogenannten Qualitätsmedium erscheint, obwohl es diesen Anspruch nicht erfüllt?
Von einem Beachtenmüssen kann meines Erachtens eigentlich keine Rede sein, so lange ein qualitativ weniger guter Artikel (egal in welchem Medium) sich einfach »versendet« – tut er das aber nicht, dann hat der Schreiber einen wie auch immer gearteten Einfluß, der mich und andere zwingt, ihm Beachtung und Zeit zu schenken. Ich bin somit durchaus dafür, die Kultur des Totschweigens öfter mal zum Einsatz zu bringen, was, wie man sieht, schwierig ist, wenn etwas an herausragender Stelle auftaucht und Aufmerksamkeit erheischt / erzwingt / fordert … Aber vielleicht sind wir ja auch einfach nur Zeugen, wie sich das Feuilleton selbst abschafft.
Besteht nicht eher die Gefahr, dass, bevor sich das Feuilleton sich abschafft, die Literatur schon abgeschafft ist bzw. sich in vorauseilender Servilität abgeschafft hat? Will sagen: Das Feuilleton wird immer seine Scheindebatten und Wattebauschweitwurf-Aktionen zelebrieren. Hierin sehe ich ein großes Problem: Die Literatur ist dann bestenfalls noch Kulisse für Gesinnungspoltereien. Das hat aber zunächst Einfluss auf die Literatur selber: sie wird entweder stromlinienförmiger (das ist ja das, was Kessler richtig erkannt hat) oder einfach nur banaler Unterhaltungskitsch für gelangweilte Zahnarztfrauen. Die Schuld liegt natürlich beim Kulturjournalismus, der meint, dem Publikum mehr als drei Sätze aus einem Buch nicht mehr zumuten zu können und stattdessen lieber mit dem Autor in einem isländischen Geysir mit Anzug badet. Das hat nichts mit Feuilleton – aber auch nichts mehr mit Literatur zu tun. Am Ende geht es nur noch um in Buchform (oder in Dateien) gegossenes Lesefutter. Nebenbei scheinerregen sich Redakteure wie weiland Dorfbauern am Stammtisch. Nach dem dritten Gedeck ist dann wieder Versöhnung.
Die zu befürchtende oder auch schon eingetretene Stromlinienförmigkeit der Literatur ist ja nicht zuletzt auch eine Folge der Schreibstudiengänge, wo ja nicht nur das Schreiben von (Kurz-)Romanen, Kurzgeschichten und Kurzgedichten gelehrt, sondern vor allem der Kontakt zu Verlagen und der Kulturpresse hergestellt wird, was dann eine zu frühzeitige Verbandelung erzeugt, die durch und durch marktorientiert ist. Zuerst gibt es zwar ein paar Jahre Krabbelgruppe, doch dann werden die einen im besten Falle Schriftsteller und die anderen Kulturredakteure und Verlagsmitarbeiter. So etwas nennt man wohl »im eigenen Saft schmoren«. Nicht etwa, daß die Literatur keinen Markt bräuchte, aber es sind eben vor allem hochqualitative Bücher für jede Art Lesevorliebe nötig als Kern des Ganzen, die erstens geschrieben werden können müssen und zweitens auch den Leser erreichen sollten, den man sich natürlich neugierig, kritisch und risikofreudig denken sollte statt, wie üblig, unmündig. Welche Aufgabe hätte dabei also nun das Feuilleton, zu dem ja auch etwa Radiosendungen zählen wie der Büchermarkt im Deutschlandfunk – das ist die Frage! Ich selbst verlasse mich nur äußerst selten auf Rezensionen (das letzte Mal bei Christian Krachts ‘Imperium’ – quelle catastrophe!) und suche lieber eigenständig nach Lesenswertem aus allen Epochen. Allerdings sagte mir der Verleger eines kleinen, sehr guten Verlages hier in Berlin, eine einzelne Rezension in der FAZ oder der SZ brächte oft spürbaren Umsatz, wenn auch nur auf Kleinverlagsniveau. Solche Artikel zu »kleinen« Büchern sind nun aber selten, während sich das Feuilleton ansonsten ja an Bücher heranmacht, die ohnehin schon von den großen Verlagen und Konzernen umfänglich beworben und bald dann auch von Heerscharen von Privat-Rezensenten auf Amazon oder sonstwo besprochen worden sind, wodurch sich das Qualitäts-Feuilleton ja angespornt sehen könnte, ein Alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten, indem es jenseits dieses Hauptstromes herumfischte. Tut es aber nicht, denn Rezensenten bzw. Kulturjournalisten sind ja auch nur Menschen, die zusehen, daß sie an die Honigtöpfe herankommen und schön Karriere machen – wer träumte nicht davon, in aller Öffentlichkeit Bücher in den Mülleimer zu werfen! Gegen solch ein schecksches Tun war ja die preußische Zensur geradezu literaturfördernd, denn immerhin konnte sie umgangen werden, indem der Autor nur möglichst dicke Bücher schrieb oder sich einen Kater als Protagonisten wählte. Vorbei, der Kulturjournalismus hat uns am Wickel!
Womit sich dann der Kreis wieder schließt.
Vielleicht ketzerische Frage. Ist das dann alles überhaupt noch »Kulturjournalismus«? oder einfach nur Bäckerblume mit Bücherecke? Und was ist von Buchelis Gedanke zu halten, das ausgiebige und detailgenaue Feuilleton ins Netz zu verlagern? (War er nicht damals schon weiter: »Redaktionen können, um es zugespitzt auszudrücken, genau jene Zeitung produzieren, die der Werbemarkt zulässt«.) Aber wer bezahlt dann diese Schreiber, Entdecker, »Idioten«?
(Dass mit dem ökonomischem Schub bei Besprechungen von FAZ oder SZ kenne ich nur umgekehrt: als Illusion. Es geht vordergründig erst einmal um das »Hineinkommen« in den Betrieb. Erst wenn der Autor, der so entdeckt würde, von dem kleinen Verlag zu einem »großen« Verlag gegangen ist, kommt die pekuniäre Ausbeute. Wie gesagt, so habe ich es gehört.)
Ja, schon seltsam, daß in einer Welt, in der Effektivität das höchste Marktwirtschaftsgesetz ist, immer wieder darauf gebaut wird, daß sich schon jemand aufrafft, erst einmal quasi zur Probe umsonst zu arbeiten, also etwa als Schriftsteller sozusagen sein eigener unbezahlter Praktikant zu sein. Am Buch an sich verdienen viele ja ganz gut, auch indirekt im Netz durch Schaltung von Werbung, der Autor von egal wo publizierten Texten aber nur dann, wenn er wirklich marktkonform daherkommt oder einen Prominentenbonus hat und die Werbeindustrie einen Mehrwert erschnuppert. Ergo werden wie bekannt die meisten Autoren nicht oder schlecht bezahlt, wie auch sehr viele »uneffektive« Geisteswissenschaftler, was allerdings schon immer so war. Zur Wahrheit über den Literaturbetrieb und den Literaturmarkt gehört allerdings auch, daß es viel zu viele Autoren und zu wenige Leser gibt, außer natürlich für Krimis.
(Das mit dem ökonomischen Schub bei Besprechungen von FAZ oder SZ bezog sich allein auf den kleinen Verlag selbst, der so rote Zahlen vermied – dem Autor nutzt dies, da haben Sie recht, tatsächlich erst, wenn er mit dem nächsten Buch zu einem großen Verlag »aufsteigt«.)
@Norbert W. Schlinkert
Klar, wer aus einer Mücke einen Elefanten macht, der fördert womöglich das, was er nicht fördern will, aber – das Müssen war nicht streng gemeint – wenn wir schon einen Qualitätsverlust beklagen, dann sollte der doch aus Gründen der Korrektur (oder auch weil ihn nicht jeder bemerkt) aufgezeigt werden.
@metepsilonema
Über einige Thesen selbst des miesesten Artikels kann man natürlich, denke ich, immer noch ganz trefflich diskutieren, indem man die Sache selbst eigenständig aufgreift und so den Artikel immer mehr in den Hintergrund drängt. So macht man das Beste draus. (Im Moment könnte ich kaum noch sagen, was Kessler eigentlich genau geschrieben hat – die Taktik scheint also zu funktionieren!)
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