Fritz J. Raddatz ist tot. Wirklich? Oder ist es nur Spiel von ihm, die heuchlerischen Nachrufe für ein neues Buch zu sammeln? Man kennt das von Kindern, die sich nicht genügend geliebt fühlen und dann erleben möchten, wie Eltern und Freunde sie auf ihrer Beerdigung beweinen. Die Lektüre der Tagebücher von Raddatz vermittelte mir einen ähnlichen Eindruck: Hier war ein Mensch, der geliebt werden wollte für das, was er der Literatur gegeben hatte – als Kritiker, Mit-Verleger, Herausgeber, Autor. Eine Vielseitigkeit, die verstörte und durchaus offene Flanken bot. Gerne krittelte man an ihm herum und wenn nichts mehr ging, dann eben an seinem Habitus. Er erinnerte eher an einen Protagonisten aus dem 19. Jahrhundert. Raddatz war einer der Letzten einer rapide aussterbenden Zunft. Einer Zunft, die man inzwischen nur noch Betrieb nennt. Seine Exaltiertheit, sein Berserkertum, sein Salon-Sozialismus – Gegensätze, die Schubladendenkern unheimlich waren. Akzeptiert sah er sich mehr in Frankreich als in Deutschland. Was einiges über Deutschland aussagt.
Raddatz bestand darauf: Er ist ein Intellektueller. Er wollte sich nicht gemein machen mit Massenmedien und überließ das Feld anderen, etwa seinem Antipoden Marcel Reich-Ranicki. Aber im Gegensatz zu Reich-Ranicki verriss Raddatz nie Autoren, sondern maximal deren Literatur. Angriffe auf die Autorenperson gab es bei ihm nicht. Schwierig in einer Welt, in der Literatur nur noch personalisiert rezipiert und bewertet wird und ästhetische Kriterien wenig zählen.
Besonders gerührt in seinen Tagebüchern haben mich die Stellen, in denen er große Romane der Literatur wiedergelesen hatte. Das erstaunliche daran: Kaum eines dieser Bücher, die sein Leben so nachhaltig prägten, hielten der Lektüre im Alter stand. Bei Montaigne machte er noch ein Fragezeichen, eindeutig dagegen die Verdikte zu Virginia Woolf (»seelische Spitzenklöppelei«), Tolstoi, Proust (»schwer erträgliche geschmäcklerische Zierlichkeit« bzw. »etwas Frisörhaftes«), Balzac (»mickrig«), Döblin, Walter Benjamin (Zweifel an dessen »Beträchtlichkeit«), Joseph Conrad und Thomas Bernhard (»Literatur-Clown«). Selbst das Monument Thomas Mann, dessen Tagebücher er genussvoller findet als einen »Coitus« (mit »C«!), bleibt nicht ganz verschont. Die »Buddenbrooks« bestehen noch, aber den »Felix Krull« findet er doch arg »Rokoko-verzuckert« und erkennt, dass der Ich-Erzähler unmöglich die Bildung haben kann, die sich in dessen Wortwahl zeigt. Die »Wahlverwandtschaften« sind für ihm nur ein Unterhaltungsroman; Goethe wird bei ihm zum »Stephen King avant la lettre«. Typisch Raddatz dann das Gran Selbstkritik: »Oder liegt das Desinteresse nur an mir?«
In seiner Autobiographie »Unruhestifter« legte Raddatz seine Kindheit und Jugend offen. Dabei nannte er Namen; die Menschen sollten einstehen für das, was sie ihm – im Guten und im Bösen – angetan hatten. Dabei teilte sich die Rezeption seiner autobiographischen Werke: Die einen unterstellten ihm Wehleidigkeit und Larmoyanz. Die anderen bewunderten die Schonungslosigkeit auch sich selbst gegenüber. Tatsächlich habe ich verglichen mit dem, was in der Betroffenheitslounge so mancher Medien reüssiert, in seinen Schilderungen kaum ein Jammern vernommen. Die Erzählungen all dieser Kränkungen und auch körperlichen Nötigungen in seiner Jugend wirkten immer eher unterkühlt, deskriptiv. Mitleid wollte Raddatz nicht.
Die Nachrufe werden triefen vor Bigotterie und Verlogenheit. Die Adjektive »umstritten« oder »streitbar« werden Hochkonjunktur haben; Euphemismen, die zumeist von Leuten benutzt werden, die entweder keine Ahnung haben oder Pharisäer sind. Man wird seine Tucholsky-Arbeit loben, die Erfindung der »rororo«-Reihe herausstellen, seine zahlreichen Interviews preisen. Vielleicht sogar sein Romanwerk entdecken. Eines wird unterbleiben: Die Aufzählung seiner Preise. Es sind nur zwei – einer aus Frankreich und dann 2010 der Hildegard-von-Bingen-Preis. Raddatz hat das gekränkt. Dabei hätte es ihn eigentlich stolz machen müssen.
Schön!
anrührend, tief, intelligent. danke, auch für die texte zu den tagebüchern.
Ein Mensch, der aus der aus Kunst alles heraus geholt hat, was rein gesteckt worden ist. Der ideale Leser, an Talent manchen Autoren gleich.
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Anhand oben stehenden Quatsches sieht man, dass der Autor der deutschen Sprache ungefähr so mächtig ist, wie Raddatz es war: kaum.
Nur ein offensichtliches Beispiel: »Kaum einer dieser Bücher...«.
Lassen Sie es in Zukunft mit dem Schreiben bitte ganz bleiben, es bringt doch wirklich nichts, wenn die Ungebildeten sich andauernd auf fremdem Terrain ausleben wollen und dabei nur schlechte Sprache für ihre Nichtgedanken finden.
Vielen Dank und mit herzlichen Grüßen,
LW
Danke für den Hinweis. Den Schreibfehler habe ich korrigiert. Ihre Texte zu lesen bleibt leider keine Zeit. Sie sind mir zu läppisch.
Griebes Polemiken haben wenigstens Stil; und er kennt den Unterschied zwischen treffen und schimpfen. Aber egal.
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Ich habe beide anfangs gleichermaßen gehasst: Raddatz und Reich-Ranicki. Dann verschoben sich die Gewichte: Reich-Ranicki hasste ich immer mehr, Raddatz immer weniger. Ersterer wurde nämlich in seinen Urteilen immer bedrohlicher, letzterer immer albener, ungefährlicher. Die Eisenbahngeschichte war schließlich nur eine matte Bestätigung dessen, was ich schon immer geahnt hatte: Ein Blender.
Es lohnt eigentlich nicht, ist eigentlich Zeitverschwendung, sich nochmals mit Raddatz zu beschäftigen. Robert Gernhardt hat es ja schon endgültig 1984 in seinem »Raddatzong, Raddatzong« auf den Punkt gebracht.
Ich sah ihn als Student anläßlich eines Forschungsprojekts. Er rauschte mit wehendem Mantel durch einen der Flure der ZEIT an mir vorbei. Nicht dieser Lächerliche war dabei lächerlich, lächerlich war der Rattenschwanz der ihm Nachfolgenden. Keiner traute sich, den Führer zu überholen. Ich habe mir alle ihre Gesichter gemerkt.
Das Leben, das Lääben – roundabout dreißig Jahre später landet in meinem Weinladen ein Brief, ein Fehlläufer. Unzustellbar, sagt der Stempel auf dem Umschlag. Der Inhalt: Letzte Mahnung an Raddatz. Bezahlen Sie bitte Ihre Rechnung. Ansonsten ...
Allerletzte Erinnerung an Raddatz: Ich las die ZEIT, und schließlich auch noch das, was Raddatz geschrieben hatte. Da war zu lesen: Ein ondit sagt, dass Thomas Mann ein Eisenbahnunglück ... Das wars.
Sie sehen so bedeutend aus. Muss man Sie kennen?, fragte mich neulich eine Frau, die ich heiraten werde.
Sie sehen so bedeutend aus – schlimm, dass das einstmals reichte, Kulturchef der ZEIT zu werden.
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