Fritz H. Din­kel­mann: Das Op­fer

Fritz H. Dinkelmann: Das Opfer

Fritz H. Din­kel­mann: Das Op­fer

Ge­richts­re­por­ta­gen von Fritz H. Din­kel­mann lö­sten bei mir im­mer ein ge­stei­ger­tes In­ter­es­se an den Men­schen aus, die Ver­bre­chen aus­üb­ten. Sie rüt­tel­ten da­bei an die schein­bar so fest in­stal­lier­te „Rechts­ord­nung“, die glaubt, mit der Be­stra­fung ei­ner Straf­tat die­se nach­träg­lich „aus­zu­glei­chen«. Zwar ist al­len Be­tei­lig­ten klar, dass bei­spiels­wei­se bei ei­nem Mord oder Tot­schlag der je­weils Ge­tö­te­te nicht mehr le­ben­dig wird, aber das in uns al­len we­sen­de Ge­fühl der Ra­che (oder ist es der Süh­ne?) muss be­frie­digt wer­den.

Hier­für dient das Straf­recht. Aber es kommt stets zu spät: Die Tat ist längst ge­sche­hen und meist ist das Ge­sche­he­ne un­um­kehr­bar. Dem Pro­zess kommt da­bei die Rol­le des Voll­streckers des Süh­ne­ge­dan­kens zu. In ei­nem Rechts­staat muss es ei­nen Pro­zess ge­ben, um zwei­fels­frei fest­zu­stel­len, ob die Tat vom An­ge­klag­ten tat­säch­lich aus­ge­übt wur­de.


Her­kömm­li­che Ge­richts­re­por­ta­gen be­schäf­ti­gen sich mit dem Her­gang des Ver­fah­rens, er­läu­tern ju­ri­sti­sche Spitz­fin­dig­kei­ten, die von der Ver­tei­di­gung ins Feld ge­bracht wer­den, er­klä­ren die Min­dest- und Höchst­stra­fe, die es für die­ses De­likt ge­ben muss/kann und schil­dern die De­tails der Be­weis­füh­rung. Durch das star­ke In­ter­es­se steht für die Öf­fent­lich­keit bei den spek­ta­ku­lä­ren Fäl­len in der Re­gel be­reits der Schul­di­ge fest, die Fron­ten sind ab­ge­steckt. Je­der hat ei­ne Mei­nung; meist die der „BILD“-Zeitung oder ähn­li­cher Po­stil­len.

Fritz H. Din­kel­mann in­for­miert über all dies auch. Aber er geht wei­ter: Er sieht den An­ge­klag­ten als Mensch, oh­ne ihn zu psy­cho­lo­gi­sie­ren (und über die Hin­ter­tür „Ent-Schul­di­gun­gen“ ein­zu­brin­gen). Der fragt nach dem Mo­tiv, oh­ne es zu recht­fer­ti­gen. Er fragt, was das Op­fer wohl für ein Mensch ge­we­sen sein mag. Und er stellt die Fra­ge al­ler Fra­gen, die gröss­te Ta­bu-Fra­ge un­se­rer Ge­sell­schaft: Wo­zu gibt es ein Straf­recht? Brau­chen wir die „Ra­che“ so nö­tig? Wel­che an­de­ren Va­ria­ti­ons­mög­lich­kei­ten gä­be es, um mit Ver­bre­chen um­zu­ge­hen?

Gibt es nicht trotz al­ler mög­li­chen Ge­set­ze und Straf­an­dro­hun­gen Mord, Tot­schlag, Dieb­stahl, Bank­über­fäl­le, Ent­füh­rung, Se­xu­al­straf­ta­ten? Wenn die Tä­ter ei­ne po­ten­ti­el­le Ver­ur­tei­lung nicht ab­hal­ten, ih­re Straf­ta­ten zu voll­brin­gen, ist das Straf­recht bzw. die Straf­an­dro­hung ob­so­let, ja ge­ra­de­zu lä­cher­lich. In den Staa­ten der USA, in de­nen es die To­des­stra­fe für Mord gibt, ist kei­ne ge­rin­ge­re Zahl von Tö­tungs­de­lik­ten fest­zu­stel­len als bei­spiels­wei­se in Deutsch­land; eher im Ge­gen­teil.

Mit der Wir­kungs­lo­sig­keit der Ab­schreckung des Straf­rechts muss je­doch ei­ne Ge­sell­schaft ak­zep­tie­ren, dass in der (mei­stens nicht be­wusst re­flek­tier­ten) „In­ter­es­sen­ab­wä­gung“ des Straf­tä­ters stets der Aspekt der Straf­tat (des­sen „Vor­teil“) hö­her ein­ge­stuft wird als die „Angst“ vor der Be­stra­fung (der „Nach­teil“). Das be­deu­tet, dass das Mo­tiv ei­ner Straf­tat (ei­nes Mor­des bei­spiels­wei­se – des­je­ni­gen De­likts, wel­ches seit je­her fas­zi­nie­rend und ab­sto­ssend gleich­zei­tig wirkt) die Be­dro­hung, die von der Ge­sell­schaft aus­geht, die­se Tat zu sank­tio­nie­ren, über­la­gert. Da­bei dürf­te es noch nicht ein­mal die gro­sse Rol­le spie­len, dass die Tä­ter von sich glau­ben nicht „er­wischt“ zu wer­den; Be­fra­gun­gen zei­gen, dass sie durch­aus ins Kal­kül zie­hen, frü­her oder spä­ter über­führt zu wer­den und nicht we­ni­ge stel­len sich ir­gend­wann frei­wil­lig.

Wenn je­doch der Straf­ka­ta­log ei­ner Ge­sell­schaft der­art an sei­ner ur­sprüng­li­chen In­ten­ti­on vor­bei­zielt, ist er dann nicht so­zu­sa­gen nur noch für die „Be­strafer“ da? Zu­ge­spitzt for­mu­liert: Fei­ert sich nicht der „recht­schaf­fe­ne Teil“ der Be­völ­ke­rung mit der „har­ten“ Ver­ur­tei­lung ei­nes Tot­schlä­gers oder Mör­ders letzt­lich nicht nur sel­ber?

Ge­ra­de in die­sen Zei­ten, wo an­ders­far­bi­ge Mit­bür­ger zu Op­fern von blind­wü­ti­gen Schlä­gern in Deutsch­land wer­den: Wel­che Ge­nug­tu­ung ver­spü­ren Po­li­ti­ker ei­gent­lich, wenn sie die le­bens­lan­ge Haft­stra­fe ei­nes nicht reu­mü­ti­gen Tä­ters ei­ner Mord­tat aus­stel­len (und par­al­lel hier­zu Geld für Ju­gend­pro­jek­te strei­chen)? Aber: Wel­che an­de­re Mög­lich­keit gibt es denn? Und ist es nicht be­ein­druckend, wie ein In­tel­lek­tu­el­ler wie Reemts­ma in sei­nem Buch „Im Kel­ler“ von der Ge­nug­tu­ung der Be­stra­fung sei­ner Tä­ter schreibt, die es ihm wie­der er­mög­licht, sei­nen „Frie­den“ mit der Ge­sell­schaft, den Men­schen ge­ne­rell, zu schlie­ssen?

Ein schwie­ri­ges Feld al­so. Fritz Din­kel­manns Ge­richts­re­por­ta­gen ha­ben mich mehr als ein­mal rat­los zu­rück­ge­las­sen. Die „Här­te des Ge­set­zes“: Ja (be­son­ders bei Hab­gier). Aber dann der Mensch da­hin­ter, ein viel­leicht jah­re­lang Ge­de­mü­tig­ter, Ge­quäl­ter, der ein­fach kei­nen an­de­ren Weg mehr ge­se­hen hat. Und was nutzt die Stra­fe, wenn der Tä­ter un­ein­sich­tig ob sei­nes Ver­ge­hens bleibt? Was hilft es, je­man­den ein­zu­sper­ren, der sei­ne Tat be­reut und so­zu­sa­gen durch „gu­te“ Ta­ten wie­der ein Mit­glied die­ser Ge­sell­schaft wer­den möch­te, und zwar ein an­de­res?

Die Quint­essenz all die­ser boh­ren­den Fra­gen hat Din­kel­mann in sei­nem Ro­man „Das Op­fer“ noch­mals aus­ge­brei­tet und ge­bün­delt. Ein jun­ger, eif­ri­ger, et­was schrul­li­ger Rechts­an­walt wird ei­nes Abends er­mor­det. Man er­fährt im er­sten Teil des Bu­ches durch die Schil­de­rung die­ses Sach­ver­hal­tes über sei­ne Frau sehr viel über die-sen Mann, das Ver­hält­nis der bei­den zu­ein­an­der und über sei­nen An­walt­stil (ein we­nig hat Din­kel­mann viel­leicht sein Ide­al­bild ei­nes An­walts in die Fi­gur hin­ein­pro­ji­ziert). Im zwei­ten Teil des Bu­ches stellt sich der Mör­der we­ni­ge Ta­ge nach der Tat der Po­li­zei. Die Wit­we hat kei­ne Ru­he: An­ge­sta­chelt durch das Nach­den­ken dar­über, wie ihr Mann wohl die­sen Mör­der ver­tei­di­gen wür­de (er plä­dier­te stets – auch bei noch so hoff­nungs­lo­sen Fäl­len – auf „Frei­spruch“), be­ginnt sie, Kon­takt mit ihm auf­zu­neh­men. In vie­len Be­su­chen, die oft durch vor­zei­ti­ge Be­en­di­gung des ei­nes oder des an­de­ren zu schei­tern dro­hen, be­ginnt Chri­sta (die Wit­we) die Tat „zu ver­ste­hen“.

Ob­wohl: Zu ver­ste­hen gibt es rein nichts. Die Tat ge­schah nicht aus Hab­gier, nicht vor­sätz­lich, son­dern ein­fach so; ab­sichts­los und doch nicht „zweck­los“ oder gar sinn­los. Die­se merk­wür­di­ge Am­bi­va­lenz und die Ein­sicht, dass ihr Mann den Mord qua­si dem Mör­der „ab­ge­for­dert“, ihn ge­ra­de­zu er­sehnt hat, lässt Chri­sta vor Ge­richt auf „nicht schul­dig“ er­klä­ren – ob­wohl man es ihr ver­bie­ten will und sie für ver­rückt oder ver­liebt in den Mör­der er­klärt. Chri­stas Spiess­ru­ten­lauf durch die ge­sell­schaft­li­che Eti­ket­te be­ginnt (aus­ge­löst durch ent­stel­lend wie­der­ge­ge­be­ne Äu­sse­run­gen in ei­nem In­ter­view ei­ner Bou­le­vard­zei­tung). Sie je­doch stört sich nicht dar­an; ei­ni­ge we­ni­ge Freun­de, die sie ver­ste­hen, ver­blei­ben ihr.

Das Zu­ge­hen auf den Mör­der, das dann spä­ter ent­spann­te Ver­hält­nis zu ihm (was nur noch an­ge­deu­tet wird) und die Be­schäf­ti­gung mit ih­rem Mann und sei­nem Le­ben, was sie nicht mehr ver­steht – Chri­stas Weg aus der Spi­ra­le der Ra­che hin­aus er­mög­licht ihr, Frie­den zu fin­den. Die blo­sse Be­stra­fung al­lei­ne und die Ge­nug­tu­ung hier­über, hät­te dies – so die Bot­schaft die­ses Ro­mans – nicht ver­mocht: wie oft gibt es dann ge­ra­de in sol­chen Fäl­len den „Neid“, die­sen Mör­der auch noch auf „Staats­ko­sten“ „durch­füt­tern“ zu müs­sen – bis zu sei­nem To­de.

Din­kel­manns Fi­gur ge­lingt das Wei­ter­le­ben nach der Mord­tat an ih­rem Mann. Die Ge­sell­schaft, das wird ein­drück­lich (al­ler­dings oh­ne fal­sches Mo­ra­li­sie­ren) ge­zeigt, ver­steht dies nicht und „ver­langt“ das gän­gi­ge Bild der ver­zwei­fel­ten, kla­gen­den, ra-che­süch­ti­gen Wit­we.

Das Buch ist stel­len­wei­se et­was aus­la­dend, be­sitzt je­doch über den rei­nen Im­pe­tus hin­aus durch­aus auch li­te­ra­ri­sche Qua­li­tä­ten. Die Schil­de­rung des Mör­ders (im Ge­fäng­nis) ist sehr ge­lun­gen und er­in­nert manch­mal an Sjöwall/Wahlöö. Kri­tik ha­be ich fast al­lei­ne hin­sicht­lich des Ti­tels: „Das Op­fer“ ist kei­nes­wegs ein Ro­man, der die Di­cho­to­mie Tä­ter / Op­fer, die zur po­li­ti­cal cor­rect­ness un­se­rer Zeit ge­hört, über-nimmt. Er ist nur dann tref­fend, wenn man ihn nach­träg­lich als Mög­lich­keit ver­steht, die (ge­sell­schaft­lich ab­ge­for­der­te) Op­fer­rol­le so­zu­sa­gen ab­zu­le­gen; sie ab­zu­le­gen zu Gun­sten ei­nes em­pha­ti­schen Men­schen­be­griffs, der jen­seits der Schwarz-Weiss-Denk­mu­ster liegt.

Zu­ge­ge­be­ner­ma­ssen ein schwie­ri­ges Den­ken. Aber ein wich­ti­ges. Es führt uns viel­leicht end­lich in ei­ne an­de­re Welt.

Ge­schrie­ben 2000; leicht über­ar­bei­tet. Das Buch dürf­te nicht mehr lie­fer­bar sein. Auf Floh­märk­ten fin­det man es als Suhr­kamp Ta­schen­buch aber noch recht oft.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Herrn Din­kel­mann ken­ne ich lei­der nicht. Wo wur­den oder wer­den sei­ne Re­por­ta­gen ver­öf­fent­licht? Aber na­tür­lich ha­ben Sie recht, ei­ne Ge­richts­re­por­ta­ge ist nur dann le­sens­wert, wenn sie den Men­schen hin­ter dem Ver­bre­chen kennt­lich macht. Der ver­stor­be­nen Spie­gel­re­por­ter Ger­hard Mauz z.B., aber auch sei­ne Nach­fol­ge­rin Gi­se­la Fried­rich­sen schrei­ben ih­re Be­rich­te mei­ner Mei­nung nach eben­falls un­ter die­sem Aspekt und sind oft­mals die in­ter­es­san­te­sten Ar­ti­kel im Spie­gel.

  2. Ich ha­be
    ein al­tes Suhr­kamp Ta­schen­buch (No. 1436 aus 1987) mit dem Ti­tel »Nach ei­ge­ner Aus­sa­ge«. Es sam­melt sei­ne Ge­richts­re­por­ta­gen. Din­kel­mann ist Schwei­zer und 1950 ge­bo­ren. Er ist Jour­na­list und Schrift­stel­ler, Thea­ter­re­gis­seur und auch Ly­ri­ker.

    Was Sie über den SPIEGEL und sei­ne Ge­richts­re­por­ta­gen schrei­ben, un­ter­schrei­be ich voll. Ir­gend­wann wer­de ich mir die­se noch ein­mal bzw. end­lich ein­mal zu Ge­mü­te füh­ren. Vor ei­ni­gen Jah­ren ha­be ich auf­ge­hört, den SPIEGEL zu le­sen. Die Ge­richt­re­por­ta­gen ha­be ich am mei­sten ver­misst.

  3. Auch ich...
    ...ha­be ab ir­gend­ei­nem Zeit­punkt, er liegt schon Jah­re zu­rück, auf­ge­hört den Spie­gel re­gel­mä­ßig zu le­sen. War’s die Lei­tungs­über­nah­me durch Ste­fan Aust, oder die an­bie­dern­de Um­ori­en­tie­rung an die Kon­kur­renz des Fo­cus? Ich weiß es nicht. Je­den­falls ver­lor der Spie­gel plötz­lich sei­nen bit­ter – iro­ni­schen Biss, ließ sich die The­men von der Bild­zei­tung dik­tie­ren, und wur­de lang­wei­lig. Hier in Süd­afri­ka al­ler­dings sind wir im­mer recht an­ge­tan, wenn Be­su­cher aus Deutsch­land ei­nen Spie­gel mit­brin­gen. Der wird dann von der er­sten bis zur letz­ten Sei­te stu­diert. Manch­mal wird uns auch der Fo­cus an­ge­dient. Der, al­ler­dings, wan­dert un­ge­le­sen zum Alt­pa­pier.