Unter dem Eindruck des damals heftig tobenden »Karikaturen-Streits« schrieb Botho Strauß Mitte Februar 2006 einen auch heute noch höchst interessanten, eigentlich erstaunlich wenig diskutierten, kurzen Aufsatz im »Spiegel« mit dem lakonischen Titel »Der Konflikt«.
Lässt man Strauß’ gelegentlich unterschwellig anklingende, pessimistische Sicht hinsichtlich einer in nächster Zeit bevorstehenden »Mehrheitsverschiebung« einmal beiseite (freilich klarstellend, nicht die Köterspur des Rassismus bedienen zu wollen), so bleibt eine prägnante Diagnose:
Wie oft beschrieben, bezieht der Islam seine stärkste Wirkung aus seiner sozialen Integrationskraft. Seine diesseitigen Vorteile lässt man leicht außer acht, wenn man sich mit dem politisch-spirituellen Konflikt beschäftigt.
Strauß’ These: Die Integrationsangebote unserer Gesellschaft (also die Assimilierungsbedingungen bzw. –forderungen) konkurrieren mit denen der innerislamischen Integration. Da aber der Islam traditionelle Werte wie Familie, Zusammenhalt, Nicht-Gleichgültigkeit und Zusammenhalt in Not in Bedrängnis unmittelbar »anbietet« und nicht an mehr oder weniger abstrakte und anonyme Konstrukte wie beispielsweise den Staat (oder auch entsprechende kommerzielle Hilfsorganisationen) delegiert, ist für Strauß klar, zu wessen Gunsten die Entscheidung fällt.
Neben der religiös konnotierten Motivation stellt Strauß vor allem also die soziale Kraft der »Umma« als einen wesentlichen (den wesentlichen?) Vorteil heraus. Er geht aber noch weiter und sein Urteil über die aktuelle Lage könnte kaum vernichtender sein:
Wir sind ja nicht bloß eine säkulare, sondern weitgehend eine geistlose Gesellschaft.
Wir haben – so Strauß – die Säkularität nicht fruchtbar ausgestaltet, sondern weitgehend Weltmärkte[n], technische[n] Innovationen und Sitten und Moden dagegen gehalten – kurzum also ökonomischen Zwängen geopfert, die unser Sozialverhalten radikal verändert haben. Strauß, der früher durchaus mit dem Kommunitarismus liebäugelte, sieht hierin den wirklichen Konflikt: Diese säkular-geistlose Gesellschaft (mit Sinn für das Vorübergehende) kann gar keine Gesprächsgrundlage für massgebende Teile der islamischen Gemeinschaft bilden, da ihr die Empathie für transzendentale (sakrale) Erlebniswelten fehlen.
Der Papst kann zwar – wir haben es vor einigen Monaten anlässlich seines Besuchs in der Türkei gesehen – mit islamischen Gelehrten in den »Diskurs« treten. Beide disputieren auf spiritueller Augenhöhe; ebenbürtig. Aber die Kirche hat ihre Wirkungsmacht längst verloren. Der von allem befreite, säkulare, dem rein ökonomischen verpflichte Wohlstandsvertreter fehlt allerdings im fast wörtlichen Sinn die Sprache hierzu. Der Disput zwischen den Schriftkulturen kann nicht stattfinden. Der Islam hat buchstäblich keinen adäquaten Diskurspartner. Dem spirituell (oft genug überfrachteten) heiligen Buch setzt der Westen in seiner (selbst auferlegten, anheimgefallenen) intellektuellen Eindimensionalität das Scheckbuch entgegen.
Die zyklischen Hinwendungen der säkular-kapitalistischen Gesellschaft, wie sie sich beispielsweise auf Kirchentagen zeigen, sind nur situativ und verpuffen schnell. In Wirklichkeit wird das Sakrale nur mehr in Extremsituationen »nachgefragt« – bei Kindtaufen, Hochzeiten, schweren Krankheitsfällen, Beerdigungen. Und selbst dann spielt es häufig nur eine schmückende Rolle.
Im Gegensatz zur Atomisierung der säkular-kapitalistischen Welt sieht Strauß die wirkungsmächtige Durchdringung islamischer Gemeinden, die bis in die persönlichsten Hilfestellungen der Gläubigen hinein Geborgenheit bietet.
Obwohl er durchaus für einen Imperativ für den Schutz der Sakralsphäre eintritt, wäre es vollkommen falsch, Strauß’ Text als Anweisung zur Restauration zu einer religiösen Gesellschaftsordnung zu lesen. Der Aufsatz formuliert als Alternative eine Art Rückbesinnung auf die Sinnes- und Geistesgaben basierend auf Kunst, Reflexion und Sensibilität und Differenziervermögen – eine Beschwörung bester aufklärerischer Werte, die – wie Strauß treffend formuliert – in der westlichen Gesellschaft der Gegenwart von geringer Bedeutung, geringem Ansehen sind.
Ein gewagtes Unterfangen – und etwas Neues. Nicht das Lockangebot der Teilnahme an der ökonomischen Partizipation (das, was wir »Globalisierung« nennen) schlägt Strauß vor, sondern eine Besinnung auf unsere Sinnes- und Geistesgaben . Für jeden Politiker sind solche Formulierungen natürlich vollkommen exotisch. Aber (grosse) Teile der islamischen Welt (die jemand wie Enzensberger mit eurozentristischer Brille als »radikale Verlierer« pauschal denunziert) sind nicht »käuflich« (für unser Verständnis natürlich absolut unverständlich – kaufen wir uns inzwischen doch im modernen Ablasshandel selbst von der Belastung durch Kohlendioxid frei [als liesse sich Natur durch Geld korrumpieren]).
Im Text schwingt mit, dass der Islam auf Dauer unserer geist- und wertelosen Gesellschaftsform kulturell überlegen ist (zum entscheidenden Punkt der demografischen Entwicklung schweigt Strauß; das ist das Thema von Heinsohn, der die Angelegenheit allerdings im langfristigen Resultat als ziemlich ungefährlich einstuft). Wie sich diese kulturelle Überlegenheit auswirkt, bleibt offen. Der von ihm propagierte »Kultur‑, Kunst- und Geistesstaat« soll in fruchtbarem Disput mit der islamischen Kultur stehen. Hierbei entstünden dann Synergien (hier wird Strauß enthusiastisch: ein globales Toledo), die sich auf die jeweiligen Kulturen auswirken und sie punktuell auch verändern würden. Strauß ist ausdrücklich kein Verfechter einer Einheitskultur und steht in Gegnerschaft zum aktuellen antagonistischen Denken. Das, was der »helfende Westen« in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak versucht, also das Oktroyieren »westlicher Werte« in einer Art neokolonialer Beglückungsstrategie, lehnt er ab. Sein »multikulturelles Bild« dürfte eher das einer multipolaren Welt sein, in der in gegenseitigem Respekt unterschiedliche Wertevorstellungen parallel existieren – ohne dass sie sich kriegerisch bekämpfen. Die Frage, inwieweit universalistische Werte dabei eine Rolle spielen (und wenn ja, welche), bleibt offen.
Vielen Dank
für diesen Beitrag. Dieser Denkansatz trifft sich mit einigen Einsichten, die ich im Zusammenhang mit meinem gestrigen Beitrag über die Ehe im Islam hatte, die ich aber für diesen nicht verwendet habe, weil es zu weit vom Thema weggeführt hätte. Nun kann ich mich bei der Verwendung meiner Notizen zur Frage des kulturellen Konflikts auf diesen Text hier beziehen, das freut mich.
Sisyphos’ Aufklärung in seine Vergeblichkeit?
Multipolar – das ist der Begriff, den ich aus dem Artikel mitnehme. Multipolarität scheint unausweichlich und auch vernünftig (und ein fälliges Gegengewicht zum Druck der „einen“ westlichen Welt). Aber ist es realistisch? Ich glaube nicht, dass die USA stark genug ist, allein die politische Multipolarität zu verhindern, weder die politische, noch die wirtschaftliche oder religiöse. Aber sind die USA stark genug es auszuhalten? (Sloterdijk sagte einmal, das längst die USA – und nicht nur die von Bush – ein „rogue state“, also ein Schurkenstaat ist.)
Wirtschaftlich ist es wohl, was gerade jetzt passiert: An den Tisch kommen neue Mitspieler – was allein schon Verwirrung und Zwang zur Neuorientierung bedeutet. Da hat Europa immerhin gewisse Vorteile und Legitimationen. Und der Universalismus wird sich wohl auch nach und nach durchsetzen (UNO, Internationalität, Klimawandel, Zwänge zum Handeln... und es gibt ja auch Beispiele (etwa Korea), wo ökonomisches Prosperieren auch Demokratisierung nach sich zieht).
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Zu der Integrationskraft des Islam fällt mir aber noch etwas ein, das schwierig zu verallgemeinern oder in eine Theorie zu bringen ist. Es bezieht sich auch auf persönliche Erfahrungen, die ich früh und oft und immer wieder während einer Zeit des Reisens machte, die aber eben unter dem Aspekt des Einzelnen vielleicht einmal erzählenswert sind. (Ich tu es hier nicht, es würde zu lang).
Ich denke nämlich, dass wir diese integrierende Kraft überschätzen und – unter dem Verlust eigener Bindungskräfte vielleicht ein bisschen nostalgisch und neidvoll – verklären.
Als Einzelner also der dort Reisenden bin ich auch immer wieder vorzugsweise mit Einzelnen in Berührung gekommen. Das ist nicht nur der Typus der „faux guides“, der falschen Führer, die man aus den einschlägigen Touristenorten kennt. Es gibt immens viele Leute dort – ich spreche hier vor allem vom islamischen Nord‑, West- und Ostafrika; es gibt diese Leute aber auch in Malaysia etwa, in Indonesien, selbst in den reichen Emiraten -, die hungrig auf Außenkontakte sind, neugierig auf die Welt und Perspektiven auf sie aus anderen Sichten als denen ihnen auferlegten. Der Druck der „bergenden“ Gemeinschaft, der Anpassungsdruck in jeder Form ist sehr groß, da wird immens viel niedergehalten (was die Islamisten dann auffangen: das ist nur scheinbar paradox: Die, die einen verbindlicher einbinden [knechten], geben einem zumindest unbedingt Gewissheit und Selbstachtung). Aber da ist die internationale Jugendkultur, da sind teils gute Ausbildung, teils Kontakte „in den Westen“, da sind die unablässig strömenden Medienbilder vom Hollywoodleben des Westens; und da sind diese schreckliche Konformität des eigenen Frömmlertums, die schreckliche Heuchlerei, der politische Nespotismus und due Ungerechtigkeit, die schreckliche Aussichtslosigkeit auf Veränderung. All das muss niedergehalten werden und wird auch niedergehalten; und gerade die herrschende Rechtlosigkeit macht viele Leute da sehr sehr „böse“.
Dann gibt es noch den Typus der „kalten Kanaille“, Leute, die – oft heraus persönlichen Umständen – gelernt haben, beide Systeme zu verachten: Das, das sie zu diesem Leben zwingt, wie das, das für sie unerreichbar bleibt und sie auch nicht will. Da sehe ich ein anderes, vielleicht ebenso mächtiges Wirkpotenzial: Diese Leute stellen oft die Funktionsleute der „Organisationen“ jedweden Untergrunds, egal ob Schlepper, Kriminelle, Djihadisten... oder sonstige „Politische“. Das Stammesdenken, besonders im nordöstlichen Afrika potenziert das noch: Ich habe gesehen, wie in Äthiopien und Dschibouti und Somalia alle Stämme und Klans annähernd dieselben Strukturen ausbildeten: Da sind Kriminelle, da sind Gläubige und da sind „politische Zweige“, oft undurchschaubar vermischt. (Wenn man hier an IRA und ETA und ähnliche denkt, liegt man nicht so falsch, nur ist noch einmal alles komplizierter, archaischer auch, vielfältiger motiviert und nach innen geordnet.)
Es liegt mir fern hier irgendeinen Teil davon zu denunzieren. Aber man muss eben die Kompliziertheit sehen. Und außerdem, dass dort auch eine Art Integration passiert (wie ja auch mit den Kindersoldaten, die die Familiennöte erleichtern und anderswo zu Essen bekommen und einem „Zwecke“ dienen, wo sonst Sinn- und Perspektivlosigkeit herrscht). Langfristig aber haben diese Strukturen ein Beharrungsvermögen wie etwa ... die Mafia. Und die ist bekantlich nicht nur nicht ausrottbar, sondern unaufhaltsam auf dem Vormarsch.
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Damit bin ich bei dem anderen Teil, worauf mich der Artikel brachte: Einem italienischen Film nämlich, der im Sizilien des zweiten Weltkriegs spielte.
Ich hatte ihn mir eigentlich ansehen wollen in Bezug auf Pasolini, der ja die Ursprünglichkeit im Denken der „kleinen Leute“ feierte, der dort eine Hoffnungskraft sah, eine besondere Integrationskraft gegenüber der vorherrschenden ökonomischen Bürgerlichkeit, die wir heute überall haben: Die Vulgarität, nämlich des Geldes, der Kulturlosigkeit (trotz immensen Spektaklen einer durch-eventisierten Kultur).
Um das gleich zu erledigen: Es scheint, als habe sich Pasolini da zum Teil doch erheblich geirrt: Alle positiven Kräfte sind immer auch zu verführen. Und mir kam mal wieder die Frage, ob nicht alle Ideen der Utopien bisher Selbstverführungen waren: (Schöne) Illusionen der Hoffnung selber, um das Leben heraus des eigenen positiv Verstandenen auch positiv angehen zu können.
Der Film legte aber ganz andere Schwerpunkte, dramatische, tragikkomische: Es zeigte die – durchaus dichte, d.h. intakte, katholisch geregelte, sämtliche Kräfte in Partizipation an ihrer Ordung einbindenden – Gesellschaft Siziliens anhand einer schönen Frau. („Der Zauber von Malèna“, so der Filmtitel, Monica Bellucci spielt sie, und sie trägt den Film auch). Der Ehemann dieser Frau ist im Krieg verschollen, und die sexuelle Schönheit der Witwe verdreht allen Männern den Kopf. Sie verkörpert kraft ihrer Sexualität also das klassisch Außerbürgerliche, das Natürlich-Unbändige, das die Ordnung Sprengende... das dann auch folgerichtig von den eigentlichen Kräften der Gesellschaft, den Mammas, verstoßen wird (kraft deren Ideen der Ordnung übrigens, ihrer Projektionen, denn tatsächlich ist das Böse anfangs unschuldig, entsteht erst aus dem Druck der blind in Gang gesetzten [Reinigungs-]Prozessen dieser Ordnung heraus).
Es gibt dann so etwas wie eine „Steinigungs-Szene“ in dem Film – die Nähe zu den heute praktizierten Steinigungen im Islam ist zwar nicht intendiert, aber mehr als offenbar: Da wirkt die gleiche Archaik. (Man bedenke auch die geographische Nähe Süditaliens zu Afrika. Toledo lag damals noch näher zum „Maurischen Reich“.)
Was ebenfalls offenbar wird, ist, dass Jesus auch heute von seinen eigenen Anhängern seine Stellvertretung abzuleisten hätte: Einer muss ausgestoßen werden, auf einen muss alles abgeladen werden, einer muss büßen! Und zwar im Namen des Guten!(Der Film erscheint wie eine Bestätigung der Sündenbock-Thesen Rene Girards.)
Worauf ich hinauswill ist aber noch etwas anderes: Dieses integrative Moment. (Ich weiß, es ist nicht identisch mit dem, was Botho Strauß meint: Er zielt wohl einerseits auf das Pragmatische an Hilfe für die hier und dort real Unverbundenen, andererseits überhaupt auf eine Idee ideeller Gemeinschaft, die wir bei uns kaum mehr haben. [Auch dann nicht, setzte man für „unseren“ verschwundenen Glauben die bloße Bürgerlichkeit, die also auch eine zerfallene ist, oder solche Großkonstrukte wie „den Westen“.])
Woraus besteht das Integrative aber sonst? Was ist seine Funktion? Ist es vielleicht nur „Schicksal“? (Ich sehe (und setze hier) statt Integration die „symbolische Ordnung“.)
Einschub 1:
„Das Sakrale ist die Gewalt, doch wenn das Religiöse diese Gewalt verehrt, dann immer nur deshalb, weil es annimmt, daß sie den Frieden bringe; das Religiöse ist gänzlich auf den Frieden ausgerichtet, aber die Wege zu diesem Frieden sind nicht von gewaltsamen Opferungen frei.« (Rene Girard)
Einschub 2:
Aus England kamen letztens Stimmen, die von „einem Staat mit zwei Systemen“ sprachen, was statt auf Koexistenz wohl eher auf gegenseigtige Ignoranz hinauslaufen würde. Das wird wohl nicht nur Leuten à la Blair und Beckstein nicht gefallen, Definitionsmacht abzugeben und – ohne Dialogpartner – ihren politischen Handlungsspielraum mit diffusen Kräften zu teilen. Es wäre ja, statt Multipolarität wieder das alte Multikulti ungebundener Kräfte und gegenseitigen Unverstehens.
Am Ende dieses italienschen Films aus der Zeit einer vertraut scheinenden, noch nicht lange, aber doch schon weitgehend untergegangenen Gesellschaft – der „Spannungsbogen“ war nun auch zu Ende, vielleicht fiel der versöhnlich zu verstehende Schluss deswegen besonders auf – gibt es ein paar Szenen, die zeigen, wie die Ausgestoßene in die Gemeinschaft wieder aufgenommen wird. Jemand erkennt sie auf „der Agora“, dem Marktplatz, grüßt sie laut, andere fallen ein, auch die, die ihr als Hure, die sie, darin den sie erst dahin bringenden Verleumdungen schließlich erliegend, geworden war, die Haare geschoren hatten: Blicke werden gewechselt, ein Lächeln passiert – vor der Undurchdringlichkeit des Schmerzes hinter dem wahren Gesicht.
Und man begreift auf einmal: Diese Ordnung selber ist das Schreckliche! Sie ist es wohl, ohne die es nicht geht. Aber tatsächlich ist sie der beruhigte Krieg. (Man denke hier auch einmal an Ingeborg Bachmann, die das früh formuliert hat, nicht nur in „Malina“. Ich habe allerdings keinerlei Information, ob etwa die Namensähnlichkeiten da etwas nahe legen sollen, oder ob alles nur Zufall ist.)
Ich will darauf hinaus, wie Archaik und immer wieder neu herzustellenden Ordnung selber immer wieder Opfer fordern, anscheinend in einem unbewussten sich unablässig wiederholenden, erneuernden Prozess – und wie sie das wohl auch weiterhin tun werden.
Wenn man Multipolarität als neue Ordnung – eine lediglich höherkomplex organisierte – begreift, so wird es zweifelos auch wieder Verlierer geben, Randgänger, nicht einzugemeindende Einzelne. Und die Gemeinschaft wird es auch mit dem besten Willen nicht schaffen, alle in sich aufzunehmen. Ich sehe da eine Fatalität selbst: Nämlich wie man nur immer wieder die Verbesserung versuchen kann, und das angesichts der Einsicht, dass sie letztlich nicht zu schaffen ist.
Die Frage ist, ob „Universalismus“ dieses Camus’sche Moment an Fatalität hineinnehmen kann und trotzdem menschlich-hoffnungsvoll an diesem Projekt der Umma (metaphorisch auf alle bezogen gedacht) festhalten. Jesus war der Radikale. Und das Radikale braucht in jeder zu reglementierenden Gesellschaft einen „Erlass“. Der Einzelne aber, den ich immer wieder an einem staubigen Stadtrand von Casablanca oder Addis getroffen habe, der wird sich darunter nicht fallen sehen. Er, seine Sprengkraft und die Geistlosigkeit sind vielleicht Eckpunkte dessen, was dann mit integrativen Elementen, also der Vernunft, nicht mehr erreichbar ist. Der „atomistische“ Einzelne, der das – unverstandene – Gute will, und die Menge, die ihn dafür niederhalten muss, um die beherrschende Idee der Gemeinschaft weiter an der Gewalt zu halten: Damit wäre man wieder bei der Tragödie.
(Sorry, dass bei mir immer alles so lang gerät: Aber wenn ich schon mal Zeit habe, will ich auch alle Aspekte einbeziehen.)
Multipolarität
»Multipolarität« kann fast nur eine Illusion sein – denn das, was sich im Moment abspielt, ist eher das Gegenteil dazu: Ob nun acht oder zwölf oder fünfzehn Mitspieler in den Gipfelkonferenzen sitzen – das Prinzip bleibt das gleiche: ‘Den Kapitalismus in seinem Lauf…’ Ach ja: In Südamerika wird etwas anderes versucht? Aber bitte was denn anderes? Ist eine Enteignung schon »revolutionär« per se? Oder ist sie nur das Wegnehmen von etwas, um es exakt so benutzen zu können, wie es derjenige getan hat, dem man es abgenommen hat?
Was mich an China so fasziniert, ist die Grandezza, mit der dort alle systemimmanenten Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, um sich dem Kapitalismus anzupassen. Mimikry at his best! Und was niemand sehen will: Wie lange wird das noch so weitergehen können? Stichwort: Wanderarbeiter; soziale Ungleichheit; sezessionistische Bestrebungen einzelner chinesischer Provinzen (bspw. die Uiguren [auch das ein religiös motivierter Konflikt]). Aber wenn selbst der Kommunismus schon »geschluckt« wird – in Vietnam geschieht ja ähnliches, nur ist dieses Land homogener als China, was evtl. einmal ein entscheidender Vorteil sein könnte – was bleibt dann? (Lassen wir den Steinzeit-Despotismus in Nordkorea einmal weg.)
Mein Hinweis auf die universalistischen Werte war vielleicht ein bisschen bösartig. »Echte« Multipolarität definiert wohl auch universalistische Werte anders bzw. verunmöglicht sie sogar. Damit meine ich nicht unbedingt eine neue (oder alte) Archaik. Ist das Beharren auf »unseren« Universalismus fundamentalistisch – oder ist es nur Ausdruck eines (neuen!) Selbstbewusstseins? Falls letzteres: Worauf gründet sich dieses Selbstbewusstsein? Oder ist es nur auf Aufbäumen?
Wenn ich die Bootsflüchtlinge sehe, die aus Afrika herüberkommen, so bin ich fast beschämt, weil ihre Erwartungen in dieses Europa, den Westen, so gross sind – und das, was sie von uns sehen und wissen derart übermächtig zu sein scheint, dass sie dafür alle Unbill Kauf nehmen, ihre Heimat verlassen, usw. Und dann diffamiert man sie als »Wirtschaftsflüchtlinge«. Ja, was denn sonst! Statt sich ob der ungebrochenen Faszination, die wir noch zu haben scheinen, zu freuen, werden diese Menschen beschimpft – nur, weil sie so leben möchten wie wir selber. Wenn diese Leute also »Wirtschaftsflüchtlinge« sind, dann sind wir »Wirtschaftssesshafte«? Und unsere Antwort auf derartige Flüchtlingsströme: Wir versuchen, unsere ökonomischen »Gewissheiten« (die inzwischen zerbröseln wie altes Toastbrot) auf die Herkunftsländer zu transformieren – so, dass keine Notwendigkeit zur »Flucht« mehr erscheint. Eine gute Lösung – aber vermutlich nur die zweitbeste.
Und schon bin ich beim Islam. Vielleicht wird die Integrationskraft überschätzt? Wenn alle Gläser leer sind, fällt natürlich ein halbvolles Glas auf. Ihren Anschauungen durch das Reisen vermag ich nichts entgegen zu setzen. Höchstens meine Lektüre- und Fernseh»erlebnisse«. Wie neulich aus Ägypten, als gezeigt wurde, wie sich bis in die letzte Wohneinheit hinein die religiösen Würdenträger um die Menschen kümmern; um so etwas wie Arztbesuche oder ihnen bei Behördengängen helfen. Ich wurde – paradox? – an die ostdeutsche PDS erinnert, die in den 90er Jahren (jetzt auch noch?) in ähnlicher Weise die Bürger mit dem Neuen bekannt machten und sie unterstützten. Nicht umsonst bekam man dort diese hohen Stimmenanteile.
Ob da was überschätzt wird – ich bitte um Stimmen von denjenigen, die hierzu eine Anschauung haben!
Und natürlich darf man das nicht verklären. Die Desillusionierungen des Christentums, dessen, was man »Gemeinde« nennt bzw. nannte haben wir ja alle hinter uns (nicht zuletzt in zahlreichen entsprechenden literarischen Verarbeitungen). Und über die neue / alte Archaik des »Dorflebens« hier (aber man spürt die neue Faszination). Und ein halbvolles Glas ist besser als ein leeres.
Aber je mehr Entitäten zusammengedrückt werden – der Eindruck einer einzigen Welt entsteht – um so grösser wird der Wunsch nach Diversifikation; nach Unterscheidung. Man sieht es doch auch an der EU. Dieses Gebilde ist viel zu gross, viel zu abstrakt – was passiert: Es gibt einen unbändigen Trend zur Regionalisierung. Der Nationalstaat wird noch seziert; ich bin kein Deutscher mehr, sondern ein Bayer oder ein Westfale, usw. (Handke sinngemäss wiedergegeben im Gespräch mit Peter Hamm: Die EU hat den Nationalismus weitgehend ausgetrieben und die schlimmere Form, den Chauvinismus, bekommen!).
Warum steigt das religiöse Bewusstsein in Deutschland bei den türkischen Mitbürgern? Hängt es nicht damit zusammen, dass integrative Bestandteile fehlen und der Rekurs auf die eigene Kultur wieder (tatsächlich wieder?) eine Alternative ist? Und da hat doch Strauß mit seinem harten Wort der »geistlosen« Gesellschaft recht: Der Individualismus ist doch letztlich nur ein hohler Schokoladenhase: schön anzusehen, grosse Vorfreude – und nachher Bauchweh.
Diese Diagnose bedeutet ja noch lange nicht, dass es in einer »Umma« keine Konflikte gibt und dass dort alles golden glänzt. Aber es ist eine Alternative. Für viele ist es die Alternative. Man darf nicht verkennen: Die Attentäter des 11. September waren bei uns »angekommen«; hatten »unsere« Werte kennengelernt und mit ihnen gelebt. Wie gross muss dieser Zorn, nein: Hass, gewesen sein? Kann man sich so etwas bei uns noch vorstellen? (Die Betonung liegt auf noch – die europäische Geschichte liefert ja zahlreiche Beispiele hierfür.)
Integration fand ja bei uns kaum (wenig) statt. Paradox ist, dass dies ausgerechnet die Schuld (keine katholische Schuld!) derer ist, die es gut meinten. Denen, die »Toleranz« mit Gleichgültigkeit verwechselten. Und interessant ist, dass ausgerechnet von denjenigen heute wütende Reden kommen, die vorher alle offensiv vertretenen integrativen Bemühungen desavouiert (und denunziert) hatten.
Und neulich im »Presseclub« Heribert Prantl (Diskussion um Integration): Auf einmal nahm er das Wort »Leitkultur« in den Mund (beim ersten Mal zögerlich, dann, fast wie eine Selbstvergewisserung gleich noch einmal wiederholend).
Ich finde ausführliche Antworten gut – insbesondere wenn sie Substanz haben. Sie regen zum Nachdenken an. Wider die Schlagzeilendiktatur! Also: Kein Grund zur Entschuldigung.