Ein glo­ba­les To­le­do

Un­ter dem Ein­druck des da­mals hef­tig to­ben­den »Ka­ri­ka­tu­ren-Streits« schrieb Bo­tho Strauß Mit­te Fe­bru­ar 2006 ei­nen auch heu­te noch höchst in­ter­es­san­ten, ei­gent­lich er­staun­lich we­nig dis­ku­tier­ten, kur­zen Auf­satz im »Spie­gel« mit dem la­ko­ni­schen Ti­tel »Der Kon­flikt«.

Lässt man Strauß’ ge­le­gent­lich un­ter­schwel­lig an­klin­gen­de, pes­si­mi­sti­sche Sicht hin­sicht­lich ei­ner in näch­ster Zeit be­vor­ste­hen­den »Mehr­heits­ver­schie­bung« ein­mal bei­sei­te (frei­lich klar­stel­lend, nicht die Kö­ter­spur des Ras­sis­mus be­die­nen zu wol­len), so bleibt ei­ne prä­gnan­te Dia­gno­se:

Wie oft be­schrie­ben, be­zieht der Is­lam sei­ne stärk­ste Wir­kung aus sei­ner so­zia­len In­te­gra­ti­ons­kraft. Sei­ne dies­sei­ti­gen Vor­tei­le lässt man leicht au­ßer acht, wenn man sich mit dem po­li­tisch-spi­ri­tu­el­len Kon­flikt be­schäf­tigt.



Strauß’ The­se: Die In­te­gra­ti­ons­an­ge­bo­te un­se­rer Ge­sell­schaft (al­so die As­si­mi­lie­rungs­be­din­gun­gen bzw. –for­de­run­gen) kon­kur­rie­ren mit de­nen der in­ner­is­la­mi­schen In­te­gra­ti­on. Da aber der Is­lam tra­di­tio­nel­le Wer­te wie Fa­mi­lie, Zu­sam­men­halt, Nicht-Gleich­gül­tig­keit und Zu­sam­men­halt in Not in Be­dräng­nis un­mit­tel­bar »an­bie­tet« und nicht an mehr oder we­ni­ger ab­strak­te und an­ony­me Kon­struk­te wie bei­spiels­wei­se den Staat (oder auch ent­spre­chen­de kom­mer­zi­el­le Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen) de­le­giert, ist für Strauß klar, zu wes­sen Gun­sten die Ent­schei­dung fällt.

Ne­ben der re­li­gi­ös kon­no­tier­ten Mo­ti­va­ti­on stellt Strauß vor al­lem al­so die so­zia­le Kraft der »Um­ma« als ei­nen we­sent­li­chen (den we­sent­li­chen?) Vor­teil her­aus. Er geht aber noch wei­ter und sein Ur­teil über die ak­tu­el­le La­ge könn­te kaum ver­nich­ten­der sein:

Wir sind ja nicht bloß ei­ne sä­ku­la­re, son­dern weit­ge­hend ei­ne geist­lo­se Ge­sell­schaft.

Wir ha­ben – so Strauß – die Sä­ku­la­ri­tät nicht frucht­bar aus­ge­stal­tet, son­dern weit­ge­hend Weltmärkte[n], technische[n] In­no­va­tio­nen und Sit­ten und Mo­den da­ge­gen ge­hal­ten – kurz­um al­so öko­no­mi­schen Zwän­gen ge­op­fert, die un­ser So­zi­al­ver­hal­ten ra­di­kal ver­än­dert ha­ben. Strauß, der frü­her durch­aus mit dem Kom­mu­ni­ta­ris­mus lieb­äu­gel­te, sieht hier­in den wirk­li­chen Kon­flikt: Die­se sä­ku­lar-geist­lo­se Ge­sell­schaft (mit Sinn für das Vor­über­ge­hen­de) kann gar kei­ne Ge­sprächs­grund­la­ge für mass­ge­ben­de Tei­le der is­la­mi­schen Ge­mein­schaft bil­den, da ihr die Em­pa­thie für tran­szen­den­ta­le (sa­kra­le) Er­leb­nis­wel­ten feh­len.

Der Papst kann zwar – wir ha­ben es vor ei­ni­gen Mo­na­ten an­läss­lich sei­nes Be­suchs in der Tür­kei ge­se­hen – mit is­la­mi­schen Ge­lehr­ten in den »Dis­kurs« tre­ten. Bei­de dis­pu­tie­ren auf spi­ri­tu­el­ler Au­gen­hö­he; eben­bür­tig. Aber die Kir­che hat ih­re Wir­kungs­macht längst ver­lo­ren. Der von al­lem be­frei­te, sä­ku­la­re, dem rein öko­no­mi­schen ver­pflich­te Wohl­stands­ver­tre­ter fehlt al­ler­dings im fast wört­li­chen Sinn die Spra­che hier­zu. Der Dis­put zwi­schen den Schrift­kul­tu­ren kann nicht statt­fin­den. Der Is­lam hat buch­stäb­lich kei­nen ad­äqua­ten Dis­kurs­part­ner. Dem spi­ri­tu­ell (oft ge­nug über­frach­te­ten) hei­li­gen Buch setzt der We­sten in sei­ner (selbst auf­er­leg­ten, an­heim­ge­fal­le­nen) in­tel­lek­tu­el­len Ein­di­men­sio­na­li­tät das Scheck­buch ent­ge­gen.

Die zy­kli­schen Hin­wen­dun­gen der sä­ku­lar-ka­pi­ta­li­sti­schen Ge­sell­schaft, wie sie sich bei­spiels­wei­se auf Kir­chen­ta­gen zei­gen, sind nur si­tua­tiv und ver­puf­fen schnell. In Wirk­lich­keit wird das Sa­kra­le nur mehr in Ex­trem­si­tua­tio­nen »nach­ge­fragt« – bei Kind­tau­fen, Hoch­zei­ten, schwe­ren Krank­heits­fäl­len, Be­er­di­gun­gen. Und selbst dann spielt es häu­fig nur ei­ne schmücken­de Rol­le.

Im Ge­gen­satz zur Ato­mi­sie­rung der sä­ku­lar-ka­pi­ta­li­sti­schen Welt sieht Strauß die wir­kungs­mäch­ti­ge Durch­drin­gung is­la­mi­scher Ge­mein­den, die bis in die per­sön­lich­sten Hil­fe­stel­lun­gen der Gläu­bi­gen hin­ein Ge­bor­gen­heit bie­tet.

Ob­wohl er durch­aus für ei­nen Im­pe­ra­tiv für den Schutz der Sa­kral­sphä­re ein­tritt, wä­re es voll­kom­men falsch, Strauß’ Text als An­wei­sung zur Re­stau­ra­ti­on zu ei­ner re­li­giö­sen Ge­sell­schafts­ord­nung zu le­sen. Der Auf­satz for­mu­liert als Al­ter­na­ti­ve ei­ne Art Rück­be­sin­nung auf die Sin­nes- und Gei­stes­ga­ben ba­sie­rend auf Kunst, Re­fle­xi­on und Sen­si­bi­li­tät und Dif­fe­ren­zier­ver­mö­gen – ei­ne Be­schwö­rung be­ster auf­klä­re­ri­scher Wer­te, die – wie Strauß tref­fend for­mu­liert – in der west­li­chen Ge­sell­schaft der Ge­gen­wart von ge­rin­ger Be­deu­tung, ge­rin­gem An­se­hen sind.

Ein ge­wag­tes Un­ter­fan­gen – und et­was Neu­es. Nicht das Lock­an­ge­bot der Teil­nah­me an der öko­no­mi­schen Par­ti­zi­pa­ti­on (das, was wir »Glo­ba­li­sie­rung« nen­nen) schlägt Strauß vor, son­dern ei­ne Be­sin­nung auf un­se­re Sin­nes- und Gei­stes­ga­ben . Für je­den Po­li­ti­ker sind sol­che For­mu­lie­run­gen na­tür­lich voll­kom­men exo­tisch. Aber (gro­sse) Tei­le der is­la­mi­schen Welt (die je­mand wie En­zens­ber­ger mit eu­ro­zen­tri­sti­scher Bril­le als »ra­di­ka­le Ver­lie­rer« pau­schal de­nun­ziert) sind nicht »käuf­lich« (für un­ser Ver­ständ­nis na­tür­lich ab­so­lut un­ver­ständ­lich – kau­fen wir uns in­zwi­schen doch im mo­der­nen Ab­lass­han­del selbst von der Be­la­stung durch Koh­len­di­oxid frei [als lie­sse sich Na­tur durch Geld kor­rum­pie­ren]).

Im Text schwingt mit, dass der Is­lam auf Dau­er un­se­rer geist- und wer­te­lo­sen Ge­sell­schafts­form kul­tu­rell über­le­gen ist (zum ent­schei­den­den Punkt der de­mo­gra­fi­schen Ent­wick­lung schweigt Strauß; das ist das The­ma von Hein­sohn, der die An­ge­le­gen­heit al­ler­dings im lang­fri­sti­gen Re­sul­tat als ziem­lich un­ge­fähr­lich ein­stuft). Wie sich die­se kul­tu­rel­le Über­le­gen­heit aus­wirkt, bleibt of­fen. Der von ihm pro­pa­gier­te »Kultur‑, Kunst- und Gei­stes­staat« soll in frucht­ba­rem Dis­put mit der is­la­mi­schen Kul­tur ste­hen. Hier­bei ent­stün­den dann Syn­er­gien (hier wird Strauß en­thu­sia­stisch: ein glo­ba­les To­le­do), die sich auf die je­wei­li­gen Kul­tu­ren aus­wir­ken und sie punk­tu­ell auch ver­än­dern wür­den. Strauß ist aus­drück­lich kein Ver­fech­ter ei­ner Ein­heits­kul­tur und steht in Geg­ner­schaft zum ak­tu­el­len ant­ago­ni­sti­schen Den­ken. Das, was der »hel­fen­de We­sten« in Län­dern wie Af­gha­ni­stan oder dem Irak ver­sucht, al­so das Ok­troy­ie­ren »west­li­cher Wer­te« in ei­ner Art neo­ko­lo­nia­ler Be­glückungs­stra­te­gie, lehnt er ab. Sein »mul­ti­kul­tu­rel­les Bild« dürf­te eher das ei­ner mul­ti­po­la­ren Welt sein, in der in ge­gen­sei­ti­gem Re­spekt un­ter­schied­li­che Wer­te­vor­stel­lun­gen par­al­lel exi­stie­ren – oh­ne dass sie sich krie­ge­risch be­kämp­fen. Die Fra­ge, in­wie­weit uni­ver­sa­li­sti­sche Wer­te da­bei ei­ne Rol­le spie­len (und wenn ja, wel­che), bleibt of­fen.

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  1. Vie­len Dank
    für die­sen Bei­trag. Die­ser Denk­an­satz trifft sich mit ei­ni­gen Ein­sich­ten, die ich im Zu­sam­men­hang mit mei­nem gest­ri­gen Bei­trag über die Ehe im Is­lam hat­te, die ich aber für die­sen nicht ver­wen­det ha­be, weil es zu weit vom The­ma weg­ge­führt hät­te. Nun kann ich mich bei der Ver­wen­dung mei­ner No­ti­zen zur Fra­ge des kul­tu­rel­len Kon­flikts auf die­sen Text hier be­zie­hen, das freut mich.

  2. Si­sy­phos’ Auf­klä­rung in sei­ne Ver­geb­lich­keit?
    Mul­ti­po­lar – das ist der Be­griff, den ich aus dem Ar­ti­kel mit­neh­me. Mul­ti­po­la­ri­tät scheint un­aus­weich­lich und auch ver­nünf­tig (und ein fäl­li­ges Ge­gen­ge­wicht zum Druck der „ei­nen“ west­li­chen Welt). Aber ist es rea­li­stisch? Ich glau­be nicht, dass die USA stark ge­nug ist, al­lein die po­li­ti­sche Mul­ti­po­la­ri­tät zu ver­hin­dern, we­der die po­li­ti­sche, noch die wirt­schaft­li­che oder re­li­giö­se. Aber sind die USA stark ge­nug es aus­zu­hal­ten? (Slo­ter­di­jk sag­te ein­mal, das längst die USA – und nicht nur die von Bush – ein „ro­gue sta­te“, al­so ein Schur­ken­staat ist.)

    Wirt­schaft­lich ist es wohl, was ge­ra­de jetzt pas­siert: An den Tisch kom­men neue Mit­spie­ler – was al­lein schon Ver­wir­rung und Zwang zur Neu­ori­en­tie­rung be­deu­tet. Da hat Eu­ro­pa im­mer­hin ge­wis­se Vor­tei­le und Le­gi­ti­ma­tio­nen. Und der Uni­ver­sa­lis­mus wird sich wohl auch nach und nach durch­set­zen (UNO, In­ter­na­tio­na­li­tät, Kli­ma­wan­del, Zwän­ge zum Han­deln... und es gibt ja auch Bei­spie­le (et­wa Ko­rea), wo öko­no­mi­sches Pro­spe­rie­ren auch De­mo­kra­ti­sie­rung nach sich zieht).

    ***

    Zu der In­te­gra­ti­ons­kraft des Is­lam fällt mir aber noch et­was ein, das schwie­rig zu ver­all­ge­mei­nern oder in ei­ne Theo­rie zu brin­gen ist. Es be­zieht sich auch auf per­sön­li­che Er­fah­run­gen, die ich früh und oft und im­mer wie­der wäh­rend ei­ner Zeit des Rei­sens mach­te, die aber eben un­ter dem Aspekt des Ein­zel­nen viel­leicht ein­mal er­zäh­lens­wert sind. (Ich tu es hier nicht, es wür­de zu lang).

    Ich den­ke näm­lich, dass wir die­se in­te­grie­ren­de Kraft über­schät­zen und – un­ter dem Ver­lust ei­ge­ner Bin­dungs­kräf­te viel­leicht ein biss­chen nost­al­gisch und neid­voll – ver­klä­ren.

    Als Ein­zel­ner al­so der dort Rei­sen­den bin ich auch im­mer wie­der vor­zugs­wei­se mit Ein­zel­nen in Be­rüh­rung ge­kom­men. Das ist nicht nur der Ty­pus der „faux gui­des“, der fal­schen Füh­rer, die man aus den ein­schlä­gi­gen Tou­ri­sten­or­ten kennt. Es gibt im­mens vie­le Leu­te dort – ich spre­che hier vor al­lem vom is­la­mi­schen Nord‑, West- und Ost­afri­ka; es gibt die­se Leu­te aber auch in Ma­lay­sia et­wa, in In­do­ne­si­en, selbst in den rei­chen Emi­ra­ten -, die hung­rig auf Au­ßen­kon­tak­te sind, neu­gie­rig auf die Welt und Per­spek­ti­ven auf sie aus an­de­ren Sich­ten als de­nen ih­nen auf­er­leg­ten. Der Druck der „ber­gen­den“ Ge­mein­schaft, der An­pas­sungs­druck in je­der Form ist sehr groß, da wird im­mens viel nie­der­ge­hal­ten (was die Is­la­mi­sten dann auf­fan­gen: das ist nur schein­bar pa­ra­dox: Die, die ei­nen ver­bind­li­cher ein­bin­den [knech­ten], ge­ben ei­nem zu­min­dest un­be­dingt Ge­wiss­heit und Selbst­ach­tung). Aber da ist die in­ter­na­tio­na­le Ju­gend­kul­tur, da sind teils gu­te Aus­bil­dung, teils Kon­tak­te „in den We­sten“, da sind die un­ab­läs­sig strö­men­den Me­di­en­bil­der vom Hol­ly­wood­le­ben des We­stens; und da sind die­se schreck­li­che Kon­for­mi­tät des ei­ge­nen Frömm­ler­tums, die schreck­li­che Heuch­le­rei, der po­li­ti­sche Nes­po­tis­mus und due Un­ge­rech­tig­keit, die schreck­li­che Aus­sichts­lo­sig­keit auf Ver­än­de­rung. All das muss nie­der­ge­hal­ten wer­den und wird auch nie­der­ge­hal­ten; und ge­ra­de die herr­schen­de Recht­lo­sig­keit macht vie­le Leu­te da sehr sehr „bö­se“.

    Dann gibt es noch den Ty­pus der „kal­ten Ka­nail­le“, Leu­te, die – oft her­aus per­sön­li­chen Um­stän­den – ge­lernt ha­ben, bei­de Sy­ste­me zu ver­ach­ten: Das, das sie zu die­sem Le­ben zwingt, wie das, das für sie un­er­reich­bar bleibt und sie auch nicht will. Da se­he ich ein an­de­res, viel­leicht eben­so mäch­ti­ges Wirk­po­ten­zi­al: Die­se Leu­te stel­len oft die Funk­ti­ons­leu­te der „Or­ga­ni­sa­tio­nen“ jed­we­den Un­ter­grunds, egal ob Schlep­per, Kri­mi­nel­le, Dji­ha­di­sten... oder son­sti­ge „Po­li­ti­sche“. Das Stam­mes­den­ken, be­son­ders im nord­öst­li­chen Afri­ka po­ten­ziert das noch: Ich ha­be ge­se­hen, wie in Äthio­pi­en und Dschi­bou­ti und So­ma­lia al­le Stäm­me und Klans an­nä­hernd die­sel­ben Struk­tu­ren aus­bil­de­ten: Da sind Kri­mi­nel­le, da sind Gläu­bi­ge und da sind „po­li­ti­sche Zwei­ge“, oft un­durch­schau­bar ver­mischt. (Wenn man hier an IRA und ETA und ähn­li­che denkt, liegt man nicht so falsch, nur ist noch ein­mal al­les kom­pli­zier­ter, ar­chai­scher auch, viel­fäl­ti­ger mo­ti­viert und nach in­nen ge­ord­net.)

    Es liegt mir fern hier ir­gend­ei­nen Teil da­von zu de­nun­zie­ren. Aber man muss eben die Kom­pli­ziert­heit se­hen. Und au­ßer­dem, dass dort auch ei­ne Art In­te­gra­ti­on pas­siert (wie ja auch mit den Kin­der­sol­da­ten, die die Fa­mi­li­en­nö­te er­leich­tern und an­ders­wo zu Es­sen be­kom­men und ei­nem „Zwecke“ die­nen, wo sonst Sinn- und Per­spek­tiv­lo­sig­keit herrscht). Lang­fri­stig aber ha­ben die­se Struk­tu­ren ein Be­har­rungs­ver­mö­gen wie et­wa ... die Ma­fia. Und die ist be­kant­lich nicht nur nicht aus­rott­bar, son­dern un­auf­halt­sam auf dem Vor­marsch.

    ***

    Da­mit bin ich bei dem an­de­ren Teil, wor­auf mich der Ar­ti­kel brach­te: Ei­nem ita­lie­ni­schen Film näm­lich, der im Si­zi­li­en des zwei­ten Welt­kriegs spiel­te.

    Ich hat­te ihn mir ei­gent­lich an­se­hen wol­len in Be­zug auf Pa­so­li­ni, der ja die Ur­sprüng­lich­keit im Den­ken der „klei­nen Leu­te“ fei­er­te, der dort ei­ne Hoff­nungs­kraft sah, ei­ne be­son­de­re In­te­gra­ti­ons­kraft ge­gen­über der vor­herr­schen­den öko­no­mi­schen Bür­ger­lich­keit, die wir heu­te über­all ha­ben: Die Vul­ga­ri­tät, näm­lich des Gel­des, der Kul­tur­lo­sig­keit (trotz im­mensen Spek­tak­len ei­ner durch-even­ti­sier­ten Kul­tur).

    Um das gleich zu er­le­di­gen: Es scheint, als ha­be sich Pa­so­li­ni da zum Teil doch er­heb­lich ge­irrt: Al­le po­si­ti­ven Kräf­te sind im­mer auch zu ver­füh­ren. Und mir kam mal wie­der die Fra­ge, ob nicht al­le Ideen der Uto­pien bis­her Selbst­ver­füh­run­gen wa­ren: (Schö­ne) Il­lu­sio­nen der Hoff­nung sel­ber, um das Le­ben her­aus des ei­ge­nen po­si­tiv Ver­stan­de­nen auch po­si­tiv an­ge­hen zu kön­nen.

    Der Film leg­te aber ganz an­de­re Schwer­punk­te, dra­ma­ti­sche, tra­gik­ko­mi­sche: Es zeig­te die – durch­aus dich­te, d.h. in­tak­te, ka­tho­lisch ge­re­gel­te, sämt­li­che Kräf­te in Par­ti­zi­pa­ti­on an ih­rer Or­dung ein­bin­den­den – Ge­sell­schaft Si­zi­li­ens an­hand ei­ner schö­nen Frau. („Der Zau­ber von Malè­na“, so der Film­ti­tel, Mo­ni­ca Bel­luc­ci spielt sie, und sie trägt den Film auch). Der Ehe­mann die­ser Frau ist im Krieg ver­schol­len, und die se­xu­el­le Schön­heit der Wit­we ver­dreht al­len Män­nern den Kopf. Sie ver­kör­pert kraft ih­rer Se­xua­li­tät al­so das klas­sisch Au­ßer­bür­ger­li­che, das Na­tür­lich-Un­bän­di­ge, das die Ord­nung Spren­gen­de... das dann auch fol­ge­rich­tig von den ei­gent­li­chen Kräf­ten der Ge­sell­schaft, den Mam­mas, ver­sto­ßen wird (kraft de­ren Ideen der Ord­nung üb­ri­gens, ih­rer Pro­jek­tio­nen, denn tat­säch­lich ist das Bö­se an­fangs un­schul­dig, ent­steht erst aus dem Druck der blind in Gang ge­setz­ten [Reinigungs-]Prozessen die­ser Ord­nung her­aus).

    Es gibt dann so et­was wie ei­ne „Stei­ni­gungs-Sze­ne“ in dem Film – die Nä­he zu den heu­te prak­ti­zier­ten Stei­ni­gun­gen im Is­lam ist zwar nicht in­ten­diert, aber mehr als of­fen­bar: Da wirkt die glei­che Ar­cha­ik. (Man be­den­ke auch die geo­gra­phi­sche Nä­he Süd­ita­li­ens zu Afri­ka. To­le­do lag da­mals noch nä­her zum „Mau­ri­schen Reich“.)

    Was eben­falls of­fen­bar wird, ist, dass Je­sus auch heu­te von sei­nen ei­ge­nen An­hän­gern sei­ne Stell­ver­tre­tung ab­zu­lei­sten hät­te: Ei­ner muss aus­ge­sto­ßen wer­den, auf ei­nen muss al­les ab­ge­la­den wer­den, ei­ner muss bü­ßen! Und zwar im Na­men des Gu­ten!(Der Film er­scheint wie ei­ne Be­stä­ti­gung der Sün­den­bock-The­sen Re­ne Girards.)

    Wor­auf ich hin­aus­will ist aber noch et­was an­de­res: Die­ses in­te­gra­ti­ve Mo­ment. (Ich weiß, es ist nicht iden­tisch mit dem, was Bo­tho Strauß meint: Er zielt wohl ei­ner­seits auf das Prag­ma­ti­sche an Hil­fe für die hier und dort re­al Un­ver­bun­de­nen, an­de­rer­seits über­haupt auf ei­ne Idee ideel­ler Ge­mein­schaft, die wir bei uns kaum mehr ha­ben. [Auch dann nicht, setz­te man für „un­se­ren“ ver­schwun­de­nen Glau­ben die blo­ße Bür­ger­lich­keit, die al­so auch ei­ne zer­fal­le­ne ist, oder sol­che Groß­kon­struk­te wie „den We­sten“.])

    Wor­aus be­steht das In­te­gra­ti­ve aber sonst? Was ist sei­ne Funk­ti­on? Ist es viel­leicht nur „Schick­sal“? (Ich se­he (und set­ze hier) statt In­te­gra­ti­on die „sym­bo­li­sche Ord­nung“.)

    Ein­schub 1:
    „Das Sa­kra­le ist die Ge­walt, doch wenn das Re­li­giö­se die­se Ge­walt ver­ehrt, dann im­mer nur des­halb, weil es an­nimmt, daß sie den Frie­den brin­ge; das Re­li­giö­se ist gänz­lich auf den Frie­den aus­ge­rich­tet, aber die We­ge zu die­sem Frie­den sind nicht von ge­walt­sa­men Op­fe­run­gen frei.« (Re­ne Girard)

    Ein­schub 2:
    Aus Eng­land ka­men letz­tens Stim­men, die von „ei­nem Staat mit zwei Sy­ste­men“ spra­chen, was statt auf Ko­exi­stenz wohl eher auf ge­gen­s­eig­ti­ge Igno­ranz hin­aus­lau­fen wür­de. Das wird wohl nicht nur Leu­ten à la Blair und Beck­stein nicht ge­fal­len, De­fi­ni­ti­ons­macht ab­zu­ge­ben und – oh­ne Dia­log­part­ner – ih­ren po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­raum mit dif­fu­sen Kräf­ten zu tei­len. Es wä­re ja, statt Mul­ti­po­la­ri­tät wie­der das al­te Mul­ti­kul­ti un­ge­bun­de­ner Kräf­te und ge­gen­sei­ti­gen Un­ver­ste­hens.

    Am En­de die­ses ita­li­en­schen Films aus der Zeit ei­ner ver­traut schei­nen­den, noch nicht lan­ge, aber doch schon weit­ge­hend un­ter­ge­gan­ge­nen Ge­sell­schaft – der „Span­nungs­bo­gen“ war nun auch zu En­de, viel­leicht fiel der ver­söhn­lich zu ver­ste­hen­de Schluss des­we­gen be­son­ders auf – gibt es ein paar Sze­nen, die zei­gen, wie die Aus­ge­sto­ße­ne in die Ge­mein­schaft wie­der auf­ge­nom­men wird. Je­mand er­kennt sie auf „der Ago­ra“, dem Markt­platz, grüßt sie laut, an­de­re fal­len ein, auch die, die ihr als Hu­re, die sie, dar­in den sie erst da­hin brin­gen­den Ver­leum­dun­gen schließ­lich er­lie­gend, ge­wor­den war, die Haa­re ge­scho­ren hat­ten: Blicke wer­den ge­wech­selt, ein Lä­cheln pas­siert – vor der Un­durch­dring­lich­keit des Schmer­zes hin­ter dem wah­ren Ge­sicht.

    Und man be­greift auf ein­mal: Die­se Ord­nung sel­ber ist das Schreck­li­che! Sie ist es wohl, oh­ne die es nicht geht. Aber tat­säch­lich ist sie der be­ru­hig­te Krieg. (Man den­ke hier auch ein­mal an In­ge­borg Bach­mann, die das früh for­mu­liert hat, nicht nur in „Ma­li­na“. Ich ha­be al­ler­dings kei­ner­lei In­for­ma­ti­on, ob et­wa die Na­mens­ähn­lich­kei­ten da et­was na­he le­gen sol­len, oder ob al­les nur Zu­fall ist.)

    Ich will dar­auf hin­aus, wie Ar­cha­ik und im­mer wie­der neu her­zu­stel­len­den Ord­nung sel­ber im­mer wie­der Op­fer for­dern, an­schei­nend in ei­nem un­be­wuss­ten sich un­ab­läs­sig wie­der­ho­len­den, er­neu­ern­den Pro­zess – und wie sie das wohl auch wei­ter­hin tun wer­den.

    Wenn man Mul­ti­po­la­ri­tät als neue Ord­nung – ei­ne le­dig­lich hö­her­kom­plex or­ga­ni­sier­te – be­greift, so wird es zwei­fel­os auch wie­der Ver­lie­rer ge­ben, Rand­gän­ger, nicht ein­zu­ge­mein­den­de Ein­zel­ne. Und die Ge­mein­schaft wird es auch mit dem be­sten Wil­len nicht schaf­fen, al­le in sich auf­zu­neh­men. Ich se­he da ei­ne Fa­ta­li­tät selbst: Näm­lich wie man nur im­mer wie­der die Ver­bes­se­rung ver­su­chen kann, und das an­ge­sichts der Ein­sicht, dass sie letzt­lich nicht zu schaf­fen ist.

    Die Fra­ge ist, ob „Uni­ver­sa­lis­mus“ die­ses Camus’sche Mo­ment an Fa­ta­li­tät hin­ein­neh­men kann und trotz­dem mensch­lich-hoff­nungs­voll an die­sem Pro­jekt der Um­ma (me­ta­pho­risch auf al­le be­zo­gen ge­dacht) fest­hal­ten. Je­sus war der Ra­di­ka­le. Und das Ra­di­ka­le braucht in je­der zu re­gle­men­tie­ren­den Ge­sell­schaft ei­nen „Er­lass“. Der Ein­zel­ne aber, den ich im­mer wie­der an ei­nem stau­bi­gen Stadt­rand von Ca­sa­blan­ca oder Ad­dis ge­trof­fen ha­be, der wird sich dar­un­ter nicht fal­len se­hen. Er, sei­ne Spreng­kraft und die Geist­lo­sig­keit sind viel­leicht Eck­punk­te des­sen, was dann mit in­te­gra­ti­ven Ele­men­ten, al­so der Ver­nunft, nicht mehr er­reich­bar ist. Der „ato­mi­sti­sche“ Ein­zel­ne, der das – un­ver­stan­de­ne – Gu­te will, und die Men­ge, die ihn da­für nie­der­hal­ten muss, um die be­herr­schen­de Idee der Ge­mein­schaft wei­ter an der Ge­walt zu hal­ten: Da­mit wä­re man wie­der bei der Tra­gö­die.

    (Sor­ry, dass bei mir im­mer al­les so lang ge­rät: Aber wenn ich schon mal Zeit ha­be, will ich auch al­le Aspek­te ein­be­zie­hen.)

  3. Mul­ti­po­la­ri­tät
    »Mul­ti­po­la­ri­tät« kann fast nur ei­ne Il­lu­si­on sein – denn das, was sich im Mo­ment ab­spielt, ist eher das Ge­gen­teil da­zu: Ob nun acht oder zwölf oder fünf­zehn Mit­spie­ler in den Gip­fel­kon­fe­ren­zen sit­zen – das Prin­zip bleibt das glei­che: ‘Den Ka­pi­ta­lis­mus in sei­nem Lauf…’ Ach ja: In Süd­ame­ri­ka wird et­was an­de­res ver­sucht? Aber bit­te was denn an­de­res? Ist ei­ne Ent­eig­nung schon »re­vo­lu­tio­när« per se? Oder ist sie nur das Weg­neh­men von et­was, um es ex­akt so be­nut­zen zu kön­nen, wie es der­je­ni­ge ge­tan hat, dem man es ab­ge­nom­men hat?

    Was mich an Chi­na so fas­zi­niert, ist die Gran­dez­za, mit der dort al­le sy­stem­im­ma­nen­ten Hin­der­nis­se aus dem Weg ge­räumt wer­den, um sich dem Ka­pi­ta­lis­mus an­zu­pas­sen. Mi­mi­kry at his best! Und was nie­mand se­hen will: Wie lan­ge wird das noch so wei­ter­ge­hen kön­nen? Stich­wort: Wan­der­ar­bei­ter; so­zia­le Un­gleich­heit; se­zes­sio­ni­sti­sche Be­stre­bun­gen ein­zel­ner chi­ne­si­scher Pro­vin­zen (bspw. die Ui­gu­ren [auch das ein re­li­gi­ös mo­ti­vier­ter Kon­flikt]). Aber wenn selbst der Kom­mu­nis­mus schon »ge­schluckt« wird – in Viet­nam ge­schieht ja ähn­li­ches, nur ist die­ses Land ho­mo­ge­ner als Chi­na, was evtl. ein­mal ein ent­schei­den­der Vor­teil sein könn­te – was bleibt dann? (Las­sen wir den Stein­zeit-Des­po­tis­mus in Nord­ko­rea ein­mal weg.)

    Mein Hin­weis auf die uni­ver­sa­li­sti­schen Wer­te war viel­leicht ein biss­chen bös­ar­tig. »Ech­te« Mul­ti­po­la­ri­tät de­fi­niert wohl auch uni­ver­sa­li­sti­sche Wer­te an­ders bzw. ver­un­mög­licht sie so­gar. Da­mit mei­ne ich nicht un­be­dingt ei­ne neue (oder al­te) Ar­cha­ik. Ist das Be­har­ren auf »un­se­ren« Uni­ver­sa­lis­mus fun­da­men­ta­li­stisch – oder ist es nur Aus­druck ei­nes (neu­en!) Selbst­be­wusst­seins? Falls letz­te­res: Wor­auf grün­det sich die­ses Selbst­be­wusst­sein? Oder ist es nur auf Auf­bäu­men?

    Wenn ich die Boots­flücht­lin­ge se­he, die aus Afri­ka her­über­kom­men, so bin ich fast be­schämt, weil ih­re Er­war­tun­gen in die­ses Eu­ro­pa, den We­sten, so gross sind – und das, was sie von uns se­hen und wis­sen der­art über­mäch­tig zu sein scheint, dass sie da­für al­le Un­bill Kauf neh­men, ih­re Hei­mat ver­las­sen, usw. Und dann dif­fa­miert man sie als »Wirt­schafts­flücht­lin­ge«. Ja, was denn sonst! Statt sich ob der un­ge­bro­che­nen Fas­zi­na­ti­on, die wir noch zu ha­ben schei­nen, zu freu­en, wer­den die­se Men­schen be­schimpft – nur, weil sie so le­ben möch­ten wie wir sel­ber. Wenn die­se Leu­te al­so »Wirt­schafts­flücht­lin­ge« sind, dann sind wir »Wirt­schafts­sess­haf­te«? Und un­se­re Ant­wort auf der­ar­ti­ge Flücht­lings­strö­me: Wir ver­su­chen, un­se­re öko­no­mi­schen »Ge­wiss­hei­ten« (die in­zwi­schen zer­brö­seln wie al­tes Toast­brot) auf die Her­kunfts­län­der zu trans­for­mie­ren – so, dass kei­ne Not­wen­dig­keit zur »Flucht« mehr er­scheint. Ei­ne gu­te Lö­sung – aber ver­mut­lich nur die zweit­be­ste.

    Und schon bin ich beim Is­lam. Viel­leicht wird die In­te­gra­ti­ons­kraft über­schätzt? Wenn al­le Glä­ser leer sind, fällt na­tür­lich ein halb­vol­les Glas auf. Ih­ren An­schau­un­gen durch das Rei­sen ver­mag ich nichts ent­ge­gen zu set­zen. Höch­stens mei­ne Lek­tü­re- und Fernseh»erlebnisse«. Wie neu­lich aus Ägyp­ten, als ge­zeigt wur­de, wie sich bis in die letz­te Wohn­ein­heit hin­ein die re­li­giö­sen Wür­den­trä­ger um die Men­schen küm­mern; um so et­was wie Arzt­be­su­che oder ih­nen bei Be­hör­den­gän­gen hel­fen. Ich wur­de – pa­ra­dox? – an die ost­deut­sche PDS er­in­nert, die in den 90er Jah­ren (jetzt auch noch?) in ähn­li­cher Wei­se die Bür­ger mit dem Neu­en be­kannt mach­ten und sie un­ter­stütz­ten. Nicht um­sonst be­kam man dort die­se ho­hen Stim­men­an­tei­le.

    Ob da was über­schätzt wird – ich bit­te um Stim­men von den­je­ni­gen, die hier­zu ei­ne An­schau­ung ha­ben!

    Und na­tür­lich darf man das nicht ver­klä­ren. Die Des­il­lu­sio­nie­run­gen des Chri­sten­tums, des­sen, was man »Ge­mein­de« nennt bzw. nann­te ha­ben wir ja al­le hin­ter uns (nicht zu­letzt in zahl­rei­chen ent­spre­chen­den li­te­ra­ri­schen Ver­ar­bei­tun­gen). Und über die neue / al­te Ar­cha­ik des »Dorf­le­bens« hier (aber man spürt die neue Fas­zi­na­ti­on). Und ein halb­vol­les Glas ist bes­ser als ein lee­res.

    Aber je mehr En­ti­tä­ten zu­sam­men­ge­drückt wer­den – der Ein­druck ei­ner ein­zi­gen Welt ent­steht – um so grö­sser wird der Wunsch nach Di­ver­si­fi­ka­ti­on; nach Un­ter­schei­dung. Man sieht es doch auch an der EU. Die­ses Ge­bil­de ist viel zu gross, viel zu ab­strakt – was pas­siert: Es gibt ei­nen un­bän­di­gen Trend zur Re­gio­na­li­sie­rung. Der Na­tio­nal­staat wird noch se­ziert; ich bin kein Deut­scher mehr, son­dern ein Bay­er oder ein West­fa­le, usw. (Hand­ke sinn­ge­mäss wie­der­ge­ge­ben im Ge­spräch mit Pe­ter Hamm: Die EU hat den Na­tio­na­lis­mus weit­ge­hend aus­ge­trie­ben und die schlim­me­re Form, den Chau­vi­nis­mus, be­kom­men!).

    War­um steigt das re­li­giö­se Be­wusst­sein in Deutsch­land bei den tür­ki­schen Mit­bür­gern? Hängt es nicht da­mit zu­sam­men, dass in­te­gra­ti­ve Be­stand­tei­le feh­len und der Re­kurs auf die ei­ge­ne Kul­tur wie­der (tat­säch­lich wie­der?) ei­ne Al­ter­na­ti­ve ist? Und da hat doch Strauß mit sei­nem har­ten Wort der »geist­lo­sen« Ge­sell­schaft recht: Der In­di­vi­dua­lis­mus ist doch letzt­lich nur ein hoh­ler Scho­ko­la­den­ha­se: schön an­zu­se­hen, gro­sse Vor­freu­de – und nach­her Bauch­weh.

    Die­se Dia­gno­se be­deu­tet ja noch lan­ge nicht, dass es in ei­ner »Um­ma« kei­ne Kon­flik­te gibt und dass dort al­les gol­den glänzt. Aber es ist ei­ne Al­ter­na­ti­ve. Für vie­le ist es die Al­ter­na­ti­ve. Man darf nicht ver­ken­nen: Die At­ten­tä­ter des 11. Sep­tem­ber wa­ren bei uns »an­ge­kom­men«; hat­ten »un­se­re« Wer­te ken­nen­ge­lernt und mit ih­nen ge­lebt. Wie gross muss die­ser Zorn, nein: Hass, ge­we­sen sein? Kann man sich so et­was bei uns noch vor­stel­len? (Die Be­to­nung liegt auf noch – die eu­ro­päi­sche Ge­schich­te lie­fert ja zahl­rei­che Bei­spie­le hier­für.)

    In­te­gra­ti­on fand ja bei uns kaum (we­nig) statt. Pa­ra­dox ist, dass dies aus­ge­rech­net die Schuld (kei­ne ka­tho­li­sche Schuld!) de­rer ist, die es gut mein­ten. De­nen, die »To­le­ranz« mit Gleich­gül­tig­keit ver­wech­sel­ten. Und in­ter­es­sant ist, dass aus­ge­rech­net von den­je­ni­gen heu­te wü­ten­de Re­den kom­men, die vor­her al­le of­fen­siv ver­tre­te­nen in­te­gra­ti­ven Be­mü­hun­gen des­avou­iert (und de­nun­ziert) hat­ten.

    Und neu­lich im »Pres­se­club« He­ri­bert Prantl (Dis­kus­si­on um In­te­gra­ti­on): Auf ein­mal nahm er das Wort »Leit­kul­tur« in den Mund (beim er­sten Mal zö­ger­lich, dann, fast wie ei­ne Selbst­ver­ge­wis­se­rung gleich noch ein­mal wie­der­ho­lend).

    Ich fin­de aus­führ­li­che Ant­wor­ten gut – ins­be­son­de­re wenn sie Sub­stanz ha­ben. Sie re­gen zum Nach­den­ken an. Wi­der die Schlag­zei­len­dik­ta­tur! Al­so: Kein Grund zur Ent­schul­di­gung.