Christian Nürnbergers flammende Polemik im letzten »Süddeutsche Zeitung Magazin« »Korinther 9,99 Euro« ist auch (und gerade!) für Atheisten oder Agnostiker eine interessante und bewegende Lektüre. Denn hinter der Wut des Autors auf eine seelenlose Funktionärskirche verbirgt sich ja der innige (nicht zu denunzierende) Wunsch, es möge anders sein.
So wie die Kirche nach Nürnbergers Beobachtung voranschreitet, wird das aber nichts. Das Einzug gehaltene Denken von den Missionaren einer fremden Religion passt natürlich nicht zur christlichen Botschaft. So werden auch noch die letzten Getreuen mit dem ökonomisch-wichtigtuerischen Vokabular schicker Werbelümmel vertrieben. Man könnte, nein: man muss fragen, wie verzweifelt die Kirche sein muss, sich derart auszuverkaufen.
Nürnbergers Diagnose ist vernichtend:
Jesus lebt – das ist heute keine Gewissheit mehr, die das Dasein der Christen beflügelt. Der Satz dient nur als Geschäftsgrundlage einer Funktionärskirche, als gemeinsame Grundannahme, an die man besser nicht rührt, denn niemand könnte heute noch verbindlich sagen, was er eigentlich bedeutet.
Nürnberger geisselt in deutlicher Sprache die Mutation des Gottesdienstes zum Kundendienst und beschreibt einen deutlichen Gegensatz zu Ratzingers Diktum der altmodischen Frage nach der Wahrheit des Christentums. Es ginge, so die etwas verkniffen nach Originalität heischende Formulierung, nicht mehr um Erleuchtung, sondern allenfalls noch um die richtige Beleuchtung.
Insbesondere werden die exzessiven Kommerzialisierungsversuche der evangelischen Kirche aufgegriffen. Begriffe wie Marke evangelisch, die von führenden Repräsentanten wie EKD-Vorsitzender Huber nicht nur verwendet, sondern auch vertreten werden, sind natürlich Wasser auf Nürnbergers Mühlen. Aber auch Angebote zu Klosterurlauben werden als im Kern sinnentleertes und bloss effekthascherisches Treiben aufgespiesst.
Der Artikel erzeugte bei mir zweierlei: Zunächst grosse Zustimmung. Der Furor des Autors ist fast greifbar. Und dann? Die letzten Zeilen stimmen nachdenklich:
Der christliche Glaube war nie als individualistische Privatsache gedacht, sondern als öffentliche, stets auch politische Angelegenheit einer Gemeinschaft. Gott hatte sich sein Volk ursprünglich einmal erfunden, damit es die Not der Welt beseitige. Von einem Rückzug ins Private und einer Delegation dieser Aufgabe an den Staat war nie die Rede, auch nicht davon, dass die Kirche das Geld anderer Leute einsammle und damit die Not lindere.
Aber was will er wirklich? Eine Wiederbelebung bzw. Durchdringung religiöser Wertvorstellungen wie derzeit in den USA? Einen Rückzug hinter das Zweite Vatikanische Konzil? Wie soll diese Rückbesinnung auf die urchristliche Botschaft aussehen (polemisch gefragt: etwa wie jene fundamentalistische Lefebvre-Bewegung der 80er Jahre)?
Oder sucht Nürnberger eine (neue) soziale Integrationskraft der Gesellschaft über das Christentum bzw. dessen Wertvorstellungen zu konstituieren? Ähnlich dem, was u. a. Botho Strauß für den Islam konstatiert?
Bei aller Emphase wider die Kommerzialisierung der christlichen Botschaft – welche Alternativen bleiben in der heutigen »gottlosen« Zeit den Kirchen, sich Gehör zu verschaffen und dem drohenden Exitus (vor allem auch finanzieller Art) zu entziehen?
Sehr schwierig
Letztendlich liegt dem Christentum immer noch lediglich die Exegese eines einzigen Buches zugrunde, das vor knapp 2000 Jahren geschrieben wurde, in einer vollkommen anderen Welt. Es ist eigentlich einleuchtend, dass das nicht ewig reichen wird, so oft man die psychologische Konstanz des Menschen über die Jahrtausende auch betonen mag. Jede konkret formulierte und zelebrierte Religion muss einmal »vom Markt« verschwinden, wenn ihre Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen. Das Christentum definiert sich ausschließlich über die um Jesus rankenden Mythen, wenn das nicht mehr reicht, dann bleibt nichts Eigen-Originäres.
Mit dem Verweis auf die lediglich 1.8%, die die Kirche selbst zu Caritas und die Diakonie beisteuern, greift er allerdings daneben. Wenn die Kirche sich trotzdem »am Markt« behauptet, dann liegt es doch offensichtlich daran, dass andere »Anbieter« es nicht »preisgünstiger« (und ohne religiöses Unterfutter) hinbekommen. Vermutlich sind also entweder die Bezahlung oder die Arbeitsbedingungen schlechter als von »atheistischen Firmen« leistbar. Deshalb ist der Eigenanteil der Kirche (bzw. ihrer Anhänger) größer als die erwähnten 1.8%.
Der Gedanke,
dass sich die Botschaft einer Religion irgendwann einmal »erschöpft« oder untergeht, ist interessant. Ich glaube aber, dass es mit den Änderungen in sozialen und vor allem auch ökonomischen Verhältnissen zu tun hat. Das Christentum, dass Nürnberger offensichtlich wieder zurückhaben will, gab es ja im Mittelalter, bekam bei den Gelehrten in der Aufklärzung einen kleinen »Knacks« – und hielt bei der Bevölkerung fast bis zur industriellen Revolution. Jedes noch so kleine Dorf bei uns hat eine Kirche – weil die Kirche, der sonntägliche Gottesdienst und die Kirchenfeste das ganze Jahr strukturierten. Eine hoch organisierte, arbeitsteilige Gesellschaft hat inzwischen schlichtweg andere Prioriäten.
Das Christentum hat seit der Reformation und unter dem Eindruck der Naturwissenschaften bei uns zwei Strömungen entwickelt: Die katholische Kirche hält die Bibel (insbesondere das NT der Geschichte von Jesus) für nicht interpretier- und hinterfragbar, d. h. das, was dort steht, ist wörtlich so zu nehmen. Die Schlagworte, die heute bei vielen Leuten nur noch ein Kopfschütteln hervorbringen, lauten dann: Jungfrauengeburt; Wunderglaube, usw.
Die evangelische Kirche in Deutschland gibt sich da seit vielen Jahrzehnten moderner. Eine wörtliche Exegese beansprucht man dort nicht; vieles sieht man im Kontext der Erzählung.
Die Kirchenaustrittswelle begann m. W. in den 70er Jahren – und zwar dort, wo man auf exegetische Dogmatik verzichtete, also in der evangelischen Kirche. Inzwischen haben die Katholiken bei den Austritten allerdings »aufgeholt«. Hieraus könnte man den Schluss ableiten, dass auch eine »grosszügigere Auslegung« der für uns heute »fremden« Geschichte (bzw. deren Elemente) keine Bindungskraft mehr erzeugt.
Kirchenanteil
Ich weiss nicht, ob er danebengreift; die Zahl von 1,8% findet man in entsprechenden Kreisen häufiger. Vielleicht liegt der Anteil in Wirklichkeit etwas höher; es gibt Städte, die Zahlen bei Kindergärten und Schulen veröffentlichen – da schwankt der Kirchenanteil zwischen 5% und 8%; einmal habe ich auch 15% gelesen.
Die Trägerschaft der Kirchen bei Schulen, Kindergärten, Altenheimen, usw. hat ja nichts damit zu tun, woher das Geld kommt. Die Kirchensteuereinnahmen liegen aktuell bei ca. 9 Mrd. Euro im Jahr. Bei der unglaublichen Fülle der Trägerschaften der Kirchen muss alleine mathematisch der Anteil sehr gering sein.
In der Praxis (bspw. bei Altenheimen) sind Träger wie Diakonie oder Caritas nur »Durchlauferhitzer« von Geldern, die letztlich fast alle vom Staat (= Steuerzahler) zur Verfügung gestellt werden. Kirchliche Einrichtungen unterscheiden sich von »atheistischen« kaum bis gar nicht – ausser, dass die Angestellten in der Regel einer Konfession angehören müssen. Die Bezahlung erfolgt nach gängigen Tarifen und weder besser noch schlechter als in der Privatwirtschaft. Gewerkschaften sind nicht gestattet; Arbeitnehmerinteressen werden über sogenannte »Mitarbeitervertretungen« (MAV) geregelt.
Alternativen
Ist es nicht so, daß die christliche Kirche in der westlichen Welt in einer inhaltlichen Glaubwürdigkeitskrise steckt? Gerade weil sie durch ihren inhaltlichen wie strukturellen Dogmatismus mit den ökonomischen und sozialen Umbrüchen der Gesellschaft nicht Schritt halten kann? Ich habe mir letztes Jahr dazu mal ein paar erste Gedanken gemacht:
Ideelle Werte entstehen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft und verändern sich mit deren innerem Zustand. Gebote und Verbote der Offenbarungsreligionen gelten hingegen als auf ewig festgeschriebene Grundsätze. Sie können die ideellen Werte einer menschlichen Gemeinschaft zwar beeinflussen, müssen jedoch unabhängig von ihr existieren, da sie im Gegensatz zur wandelbaren menschlichen Gemeinschaft selbst unwandelbar, weil göttlich sind. Es mag paradox klingen – aber gerade ihre Gottgegebenheit hindert die Verhaltensregeln der Offenbarungsreligionen daran, als ideelle oder moralische Werte gelten zu können.
Die Ironie an der Sache ist, daß der westlichen Gesellschaft ohne die verbindenden verbindlichen Werte der irrelevant gewordenen Religion nun auch etwas Wesentliches fehlt. Die Werte der Aufklärung und des Humanismus, die als Alternative ja offenbar auch nicht ausreichen, hat man einem zunehmend hemmungslosen Ökonomismus geopfert. Alles ist zum Geschäft geworden, der Mensch ein Dienstleistungsfaktor, seine Beziehungen zu anderen ein temporäres Vertragsverhältnis, das gelöst wird, sobald die Bilanz nicht mehr befriedigt. Die extreme innere Leere und Haltlosigkeit bewirkt extreme Hinwendung zu allem, was Erfüllung und Halt garantiert. Extremismus aber wirkt wie geistige Fliehkraft. Denn was kein inneres Gleichgewicht mehr hat, bleibt nur aufrecht, wenn es schnell rotiert. Je extremer die Geschwindigkeit, desto sicherer der Stand – bis die letzte potentielle Energie aufgebraucht ist.
Welche Alternativen den Kirchen bleiben? Jedenfalls nicht, mitzurotieren. Damit graben sie sich nur endgültig das Grab, weil es eben keine Alternative ist, sondern der finale Verzicht auf inhaltliche Identität. Nein, sie werden sich langfristig an den guten alten Lessing halten müssen. Es überzeugt nur als Heilsbringer, wer nachweislich Heil bringt. Oder um wörtlich Lessings Nathan zu zitieren:
»Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muss
Entscheiden!
...
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf’!«
Wen also die Menschen lieben und achten – nicht, wem sie nur gehorchen! – dessen Werte werden am Ende als wirklich attraktiv gelten. Wenn die Kirchen ihre Werte so vertreten würden, daß es sie sympathisch macht, sympathisch genug, daß die Menschen sich (wieder) freiwilig, also ohne Missionsarbeit, ihnen anschließen – dann hätten sie eine Chance. Je gebildeter die Menschen nämlich werden, desto unglaubwürdiger wird religiöser Absolutheitsanspruch.
Mit anderen Worten: Entweder die Kirchen verzichten auf ihren dogmatischen Absolutheitsanspruch und erarbeiteten sich ihre Glaubwürdigkeit von der Pike auf neu, indem sie nachweisen, daß sie den Menschen gut tun – oder sie können nur darauf hoffen, daß der allgemeine Bildungsstand wieder sinkt. Was nur wahrscheinlich ist, wenn die westliche Gesellschaft komplett krachen geht.
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Ich weiß nicht, ob das jetzt alles bis ins Detail schlüssig ist. Hab mal meine Gedanken zum Thema einfach fließen lassen. Bin gespannt auf eure Einwände.
Der Einwand, dass der Ökonomismus zur Sinnentleerung geführt hat (um Dich jetzt sehr verkürzt wiederzugeben), ist ja richtig. Aber es spräche doch gerade für eine neue oder erneuerte Hinwendung zum Glauben (wenn nicht zur Kirche). Und natürlich steckt die Kirche (insbesondere die katholische) in der Falle: Opfert sie bisher elementare Dogmen einem lauen Zeitgeist, so verprellt sie noch den Rest derjenigen, die zu ihr gehalten haben und verkommt vermutlich in der Beliebigkeit von Modeströmungen. In die Richtung geht ja Nürnbergers Kritik.
Interessant ist Deine (zutreffende) Feststellung, dass die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche(n) fast ausschliesslich bei uns, in der europäisch-säkular geprägten Kultur (der Aufklärung) stattfindet. In anderen Kulturkreise, die fast durchweg einen schlechteren ökonomischen Status besitzen, »boomen« die Kirche(n) (Südamerika; auch in Teilen von Afrika). Vielleicht liegt es daran, dass Kirche dort noch so etwas wie »Basisarbeit« leistet, d. h. die soziale Integrationskraft der Kirche(n) vor Ort ist dort wesentlich stärker als bei uns.
Die Ausnahme bildet da die USA, die einen enormen Zulauf religiöser Besinnung erlebt. Man muss allerdings berücksichtigen, dass sie Säkularisierung dort nie so weit vorangeschritten war, wie in Europa.
Ich danke für diesen sehr interessanten Kommentar und hoffe, dass es hierzu noch mehr Stimmen gibt.
Jesus lebt! – Schön für die, die dran glauben, aber was fange ich damit an, dem dies zu glauben nicht möglich ist? Was habe ich mich in der Jugend bemüht, wurde tagein, tagaus mit der christlichen Botschaft traktiert, zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im CVJM und im Konfirmandenunterricht – eine Erleuchtung war mir nie beschieden, obwohl ich mir zeitweise nichts sehnlicher wünschte. Die Konfirmation war dann mein letzter Kontakt mit der Kirche, abgesehen von der Kirchensteuer, die ich noch 25 Jahre entrichtet habe um dann mit 40 schließlich auszutreten. Merkwürdigerweise hatte ich dabei ein schlechtes Gewissen, nicht wegen meines Seelenheils, sondern weil ich mich damit der Zwangsentrichtung von „Spenden“ entzog. Wider besseres Wissen machte ich mir nämlich vor, dass die Kirchesteuer in „gute Werke“ fließen würden und, da ich mich kannte, ich auf freiwilliger Basis sehr viel zurückhaltender beim Spenden sein würde.
Trotz dieses persönlichen Hintergrundes halte ich die Kirchen nach wie vor für wichtige Organisationen zur Vermittelung gemeinsamer ethischer und sozialer Werte, als Schutzraum für Bedrängte und Verfolgte sowie natürlich auch als geistlichen Beistand für jene, die Halt und Orientierung im Spirituellen suchen und möglicherweise dort auch finden. Bei mir wäre jeder Versuch, mir „die altmodische Wahrheit des Christentums“ näher zu bringen, vergebliche Liebesmüh und da bin ich sicher keine Ausnahme.
Nürnberger schreibt seine Polemik aus einer sehr deutschen Sicht, weil er mit Kirchen eigentlich nur die beiden Amtskirchen, die evangelischen Landeskirchen und die römisch-katholische Kirche, meint. Hier in Südafrika inserieren jedes Wochenende ca. 50 „Marken“-Kirchen mit eigenen Logos in den Zeitungen und bieten ihren „Church-Service“ an. Die meisten dieser Kirchen werden in Deutschland abschätzig als Sekten bezeichnet. Die meisten dieser „Sekten“ haben wesentlich größere Gemeinden als die lutherische oder katholische Kirche, welche hier nur Gleiche unter Gleichen sind und die Religion allgemein spielt hier in der Bevölkerung, Weißen wie Schwarzen, Indern oder Moslems, eine wesentlich wichtigere Rolle als in Deutschland, wobei sich die Kirchen als Dienstleister verstehen. „Jesus is Lord“, diesen Spruch findet man hier an jedem zweiten Taxi, auf T‑Shirts, an Plakatwänden und in Schaufensterscheiben. Selbstverständlich müssen sich die Kirchen selber finanzieren, d.h. eine Kirchensteuer gibt es natürlich nicht. Anmerken will ich noch, dass gerade auf der religiösen Ebene eine großartige Toleranz herrscht. Muslim-Bashing, wie es z.Zt. in Deutschland, bzw. Europa an der Tagesordnung ist, ist hier gänzlich unbekannt.
Die Kirchensteuer für McKinsey – jetzt sind meine letzten Gewissensbisse beseitigt!
Ja, Nürnberger schreibt aus sehr »deutscher« Sicht (mein Beitrag ist es ja auch) – wie schön, dass Sie uns den Blick erweitern und ein Stück erklären, warum »Jesus« in anderen Ländern durchaus eine »lebendige Botschaft« darstellt! Vielleicht ist unsere getragene Sakralisierung mehr Abschreckung als Ansporn. Ich erinnere mich, als ich als Heranwachsender Gospelsänger und ‑tänzer im Fernsehen sah – dann hatte man das Gefühl: Das sind doch keine Gläubigen! Freude und Tanz beim Gottesdienst? Das schien ja fast blasphemisch zu sein. Und es ging mir ähnlich wie Ihnen: Ich hätte mir auch gewünscht, den Glauben, die Erleuchtung zu bekommen. Alleine – es kam nichts.
Über Ostern lief spätnachts »The Passion of the Christ« von Mel Gibson. Man kann jetzt viel über das ästhetische Konzept des Films sagen und könnte auch kleinkariert die Fehler aufführen (bei keinem anderen vergleichbaren Film ging man derart vor, nur um ihm »Antsemitismus« vorwerfen zu können – was absoluter Unfug ist). Mir hat die fast wollüstige Ausbreitung der Gewalt nicht gefallen, obwohl ich verstehe, was Gibson uns damit »sagen« will. Was ich nicht verstehen kann, ist, dass die religiöse Rechte in den USA den Film so gut fand und feierte. Mich hat dieses Szenario eher noch mehr zweifelnd an einem evtl. Glauben an Jesus (als Gottes Sohn) gemacht, als diesen Zweifel ausgeräumt. Und wenn ich jetzt diesen theoretischen Überbau mit Ihrer lebendigen Schilderung des »alltäglichen Glaubens« (nicht abschätzig gemeint!) gegenüberstelle, so erklärt sich das »Problem« der Kirche sofort: Den Glauben intellektuell zu stützen, ihn zu unterminieren – das muss im Volk scheitern. Dort zeigt sich an anderen Stellen, was Glauben bedeutet und erschöpft sich nicht in der Diskussion um einiger Bibelstellen und derer Exegese.
Sicherlich würde mir das »Jesus is Lord« irgendwann auf die Nerven gehen. Aber mein Respekt vor dem Glauben dieser Menschen, die Sie geschildert haben, ist ungleich höher als vor dem institutionellen Einheitsbrei, der mir aus den (deutschen) Amtskirchen entgegenschlägt.
Der Vorwurf, dort seien »Sekten« am Werk, zeigt, wie gross die Angst der so mächtigen Amtskirchen sein muss: Sie müssen schon zur Diffamierung greifen.
Gerade das unnachgiebig Dogmatische und Intolerante an den etablierten Amtskirchen (sic!) ist doch die Schwachstelle, an der sie heute am meisten kranken. Wenn Religion zur ideologischen Zwangsjacke wird, ist sie nicht mehr in der Lage, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, sondern wird letztlich zum menschenfeindlichen Selbstzweck, dem dann folgerichtig die Basis wegbröckelt. Eine Religion, die die Menschen unglücklich macht, verliert schließlich ihren Daseinszweck. Frei gelebte Lebenslust macht Menschen glücklich, asketische Zurückhaltung dagegen macht sie in den meisten Fällen unglücklich, besonders, wenn sie von außen auferlegt ist. Also wenden sich die Menschen jener Religion zu, bei der sie sich glücklicher fühlen. Und wenn es dreist eine »Sekte« ist.
@Anna Kühne
Wenn das Dogmatische der Amtskirchen Ursache für den Mitglieder- und Akzeptanzschwund (dem Nichtglaubenkönnen bzw. ‑wollen) sind – warum haben denn dann Sekten, die in oft viel stärkerer Weise repressiv sind, Zulauf? Warum war der Mitgliederschwund bei der »freieren« evangelischen Kirche proportional stärker als bei der eher autoritären katholischen Kirche? Und warum erlebt der sehr dogmatisch daherkommende Protestantismus in den USA eine so grosse Zustimmung?
Ich stimme auch nicht per se damit überein, dass frei gelebte Lebenslust die Menschen glücklicher macht – ich glaube, dass gerade das »anything goes«, welches in unserer Gesellschaft immer mehr dominiert, die Menschen unglücklich macht und partiell überfordert.
Das Phänomen, das blackconti beschreibt, hat viel damit zu tun, dass sich Religiosität in anderen Ländern viel stärker an den Impetus (die »Botschaft«) ausrichtet, während hier sehr viel Wert auf Formalien gelegt wird.
Speziell die katholische Kirche ist da in der Falle: »Lockert« sie ihre Dogmen, verprellt sie die restlichen Gläubigen (in den westlichen Ländern) und setzt sich dem Vorwurf aus, dem Zeitgeist nachzurennen. Bleibt sie dabei, sieht sie sich zunehmend mit dem Vorwurf der Weltfremdheit konfrontiert. Was dringend erforderlich wäre: Eine Art neues vatikanisches Konzil, welches das Zweite Konzil fortschreibt.
Kirchenkrise und Sektenzulauf
@ Georg Keuschnig,
Sekten haben in der westlichen Welt meines Erachtens deshalb so großen Zulauf, weil man sich in einer Sekte als etwas Besonderes und Elitäres vorkommen kann. Mainstream-Christentum hat da vergleichsweise wenig zu bieten, weil es eben so dogmenverkrustet konservativ ist und für viele Leute heuchlerisch und unglaubwürdig wirkt. Christliche Dogmen kriegt man in diesem Land gewissermaßen von Kindheitsbeinen eingeimpft, ob man will oder nicht. Christentum ist in diesem Land das allgegenwärtige Establishment. Wer sich von diesem Establishment absetzen will, sucht in religiösen Fragen Oppositionelles. In der DDR war die Kirche die einzige legale Opposition, bei der sich alles gesammelt hat, auch Nichtchristen, die einfach nur Strukturen brauchten, um oppositionell aktiv werden zu können. Die „Blockflöten“-Parteien, wie sie genannt wurden, waren ja mehr Pappkameraden als politisch wirksame Oppositionsinstrumente. Im Westen war immer schon genau das Gegenteil der Fall, wie ich nach der Wende mit Staunen erfuhr.
Warum war der Mitgliederschwund bei der »freieren« evangelischen Kirche proportional stärker als bei der eher autoritären katholischen Kirche?
Weil die Protestanten so oft unsäglichen, kargen, lustfeindlichen Puritanismus verbreiten, rate ich mal. Guck dir doch nur diese öden Mönchszellen von Kirchen an. Die Katholiken bedienen wenigstens ansatzweise die sinnlichen Bedürfnisse der Menschen. Eine typische katholische Kirche hat einfach Flair und Schönheit. Man zündet dort gern Kerzen an, einfach so, weil einem danach zumute wird, selbst wenn man nicht an den einen allmächtigen Gott glaubt, dem dort – oft eher neben diversen Heiligen – gehuldigt werden soll. Eine katholische Messe ist ein Ritual, bei dem auch Nichtgläubigen andächtig zumute werden kann. In einer evangelischen Kirche wird das schwer, solange nicht wenigstens die Orgel spielt – zumindest meiner eigenen Erfahrung nach.
Und warum erlebt der sehr dogmatisch daherkommende Protestantismus in den USA eine so grosse Zustimmung?
Weil Dogmatismus und Fundamentalismus dem Selbstwertgefühl fast so schön schmeicheln wie Sekten. Das haben viele Leute gern, ist hier in Deutschland nicht anders. Wer die vermeintlich absolute Wahrheit auf seiner Seite weiß, der sieht sich als etwas Besseres im Vergleich zu Andersdenkenden. Wer im Auftrage des allmächtigen, unfehlbaren Gottes handelt, hat automatisch recht. Wer anders denkt, hat automatisch unrecht. Je niedriger das Bildungsniveau und damit der geistige Horizont, desto verführerischer ist Fundamentalismus deshalb – was natürlich nicht heißt, daß hochgebildete Leute keinem Fundamentalismus verfallen könnten (wenn ich da nur an bestimmte Fachidioten denke), aber der Prozentsatz ist bestimmt geringer.
Ich stimme auch nicht per se damit überein, dass frei gelebte Lebenslust die Menschen glücklicher macht – ich glaube, dass gerade das »anything goes«, welches in unserer Gesellschaft immer mehr dominiert, die Menschen unglücklich macht und partiell überfordert.
Mit frei gelebter Lebenslust meinte ich nicht hemmungslosen Sex und Egoismus. Daß du das Wort „Lebenslust“ so auffasst, spricht doch schon Bände. Oder habe ich dich mißverstanden? Was ich jedenfalls meinte, waren öffentlich lachen, singen, tanzen, Emotionen rauslassen. Wo immer Menschen das ohne Furcht vor sozialen Nachteilen tun können, gehen sie gern hin, wenn sie noch einigermaßen gesund sind. Wie reagieren denn die Menschen hier in Deutschland, wenn jemand singend oder summend öffentliche Transportmittel benutzt oder die Straße entlang geht oder im Supermarkt einkauft? Sie gucken einen an, als wäre man schwachsinnig oder als müssten sie jeden Moment einen psychopathischen Ausraster befürchten. Stell dir mal vor, in einer evangelischen Kirche würde einer während des stupiden Absingens von Nr. soundso Kirchegesangbuch Seite soundso zu tanzen anfangen? Oder zwischen lauthals geschmetterten Liedzeilen immer mal wieder tief empfundenes „yeah!“ von sich geben? Was soll an einer solchen lebenslustfeindlichen Atmosphäre attraktiv sein? In anderen Teilen der Welt sind die Christen da weit weniger verkrampft, haben auch keine Berührungsängste, heidnische Elemente zu übernehmen. Entsprechend entspannt stelle ich mir die Situation z.B. in Südafrika vor, wie blackconti sie beschrieben hat. Das hat weniger mit dem Impetus zu tun, als mit der Art, wie man ihn mit den sinnlichen Bedürfnissen der Menschen koppelt.
Ich bleibe dabei: Eine Religion, die nicht mehr die Bedürfnisse ihrer Gläubigen erfüllen kann, weil sie sich nicht an deren veränderte Lebensbedingungen anpassen kann oder will, verliert nicht nur ihre Existenzberechtigung, sondern auch ihr Fundament – die Menschen nämlich. Dann bleiben nur noch leere Kirchen übrig, als Baudenkmäler oder umgewidmet zu ichweißnichtwas. Irgendwann werden der katholischen Kirche im Westen einfach die Gläubigen aussterben. Ein neues Konzil sehe ich vorerst nicht kommen. Aber ich laß mich gern überraschen.
@Anna Kühne
Sekten
Ich stimme in dem Punkt des Elitären zu. Aber Sekten sind (in der Regel) sehr viel dogmatischer und auch hierarchischer als die gängigen Kirchen. Vermutlich liegt für einige gerade hierin ein Reiz. Das hat dann m. E. viel mit der Werteverwischung in dieser Gesellschaft zu tun – Sekten (oder auch der dogmatisch-fundamentalistische Protestantismus in den USA) bieten einfache Lösungen an – übrigens weit über das spirituelle hinaus bis hinein in die »Lebenswirklichkeit«. Das kann für viele ziemlich attraktiv sein, weil sie sich durch die Unterwerfung unter diese Regeln der Komplexität der Welt entziehen.
Ein anderer Vorteil könnte in der sozialen Integrationskraft von Sekten liegen (das, was Botho Strauß für den Islam behauptet): Man ist in kleinen Entitäten organisiert und verschwindet nicht in einer mehr oder weniger anonymen Masse. Letzteres erklärt auch den Zulauf von Kirchen oder Religion generell bspw. in totalitären Regimen (wie Du das über die DDR konstatierst – und wie man jetzt am schiitischen Wahhabitismus feststellt).
Puritanismus des Protestantismus
Daran ist sicherlich vieles richtig. Einerseits. Andererseits habe ich festgestellt, dass evangelische Geistliche durchaus viel mehr »im Leben« stehen als katholische, die sich hinter formelhaften Floskeln verschanzen. Ich habe das bei Beerdigungen festgestellt – katholische waren immer streng ritualisiert; seelenlos. Die evangelischen Pfarrer haben sich viel mehr Mühe gegeben, den Verstorbenen gewürdigt, usw.
Anpassung
»Eine Religion, die nicht mehr die Bedürfnisse ihrer Gläubigen erfüllen kann, weil sie sich nicht an deren veränderte Lebensbedingungen anpassen kann oder will, verliert nicht nur ihre Existenzberechtigung, sondern auch ihr Fundament – die Menschen nämlich.«
Ich halte diese Schlussfolgerung in dieser Konsequenz für falsch. Eine Religion, die sich – wie das Christentum, aber auch der Islam – auf alte Schriften stützt, kann sich nicht in »vorauseilendem Gehorsam« mehr oder weniger fortlaufend veränderten Lebensgewohnheiten anpassen. Dann wäre sie irgendwann nur noch »Mainstream«-Religion. Die Frage ist, ob die jeweiligen Dogmen als solche eine Relevanz bekommen, die sie erst zur Bedingung der Teilnahme an der Gemeinschaft der Gläubigen macht. Das ist vermutlich der Unterschied zum Amtskirchen-Christentum, wie es blackconti für Südafrika beschreibt: Die starren Rituale – beispielsweise beim Gottesdienst – haben dort keine Relevanz bzw. sind nicht wichtig.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Resultate des Zweiten Vatikanischen Konzils das Abwenden der Gläubigen (zumindest in Europa) nicht aufhalten konnte. Ein neues Konzil sehe ich auch nicht, obwohl Benedikt sicherlich die Intellektualität hätte. Als Vorsitzender der Glaubenskongregation war er jedoch vor seiner Papstberufung nicht als besonders reformerisch aufgefallen (eher im Gegenteil). Ausserdem wird er in seinem Alter einen solchen Schritt nicht mehr vornehmen.
Diese Gedanken sind ziemlich laienhaft; für »professionelle« Erläuterung bzw. Widerspruch bin ich dankbar.
Eine Religion, die sich – wie das Christentum, aber auch der Islam – auf alte Schriften stützt, kann sich nicht in »vorauseilendem Gehorsam« mehr oder weniger fortlaufend veränderten Lebensgewohnheiten anpassen. Dann wäre sie irgendwann nur noch »Mainstream«-Religion..
»Vorauseilender Gehorsam« ist doch gar nicht notwendig bei der Anpassung einer Religion an veränderte Lebenumstände. »Nacheilender« würde ja schon reichen. Aber wenn eine Religion dazu nicht in der Lage ist, weil sie sich an Worte und Grundsätze klammert, die unter ganz anderen Umständen geäußert wurden, dann hat sie eben das gegenwärtige Problem – und nur Veränderung kann es lösen helfen. Meiner Meinung nach.
Nacheilender Gehorsam
Schöne Formulierung.
Bezogen auf die katholische Lehre und das, was den Leuten natürlich schwer fällt zu glauben: Die immer wieder vorgebrachten, gleichen, vielleicht nur symbolisch als Metaphern gemeinten Bilder – Jungfrauengeburt; die Wunder Jesu. Sind sie essentiell? Sind sie heute überhaupt glaubhaft bzw. glaubensnotwendig? – Ich vermute, wir erziel(t)en hier schnell Einigkeit...
Aber: Die »Botschaft« an sich bleibt ja noch. Das Leiden Jesus’ für uns. Wie ist das heutzutage vermittelbar? Gott schickt seinen Sohn, um ihn zu kreuzigen? Wie kann dies heute Gültigkeit beanspruchen? – Daher fand ich Köppnicks Kommentar so interessant (auch in seiner Lakonie): Was, wenn die Botschaft sich schlichweg »überlebt« hat? Was, wenn es »nicht mehr reicht«?
Es gibt einen Film von Jack Gold mit dem Namen »Katholiken« (ich glaube, es ist eine Literaturverfilmung). Er spielt in den 80er Jahren (aus der Erinnerung rekapituliert). Es geht um einen Pfarrer, der in einer Gemeinde ist und Besuch bekommt. Es ist die Zeit um Lefebvre, als es kurz nach einer Abspaltung innerhalb der katholischen Kirche aussah. An die Details der handlung kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Am Ende jedoch kam in einem für mich ergreifenden Dialog heraus: Der Priester gab zu, dass er nicht mehr glaubt! Er klopft sich vor die Brust und stellt fest: Da ist nichts mehr; nur noch eine Leere. Welch’ eine Entwicklung! Jemand stellt fest, dass er sein Leben einer Sache hingegeben hat, die ihm irgendwann abhanden gekommen ist. Ich glaube, der Film wird daher von vielen als langweilig eingestuft, weil die Dimension dieses Unglücks in der heutigen Zeit gar nicht mehr erkannt wird.
Respiritualisierung, Jungfrauenschaft und die Marke »Kirche«.
Wenn man manchen Soziologen, Theologen und Religionswissenschaftlern glauben darf, dann erleben wir zur Zeit eine gewaltige Respiritualisierung. Über deren Ausmaß kann man sicher streiten, aber es ist wohl so. Gründe kann man in der Atomisierung der Gesellschaft, dem Zerfallen der Welt, in ihrer undurchdringlichen Komplexität, kurzum in der Sehnsucht nach dem Einen und Ganzen sehen. Es ist nicht nur so, dass die Kirche den Bedürfnissen unserer Gesellschaft nicht gerecht wird, es ist evident, dass sie auf ihrem ureigensten Gebiet, der Spiritualität versagt. Sie vermag essentielle Bedürfnisse, tiefe Sehnsüchte der Menschen nicht mehr aufzugreifen! Aber diese Bedürfnisse existieren. Versteht die Kirche die Menschen nicht mehr? Oder verhält es sich umgekehrt?
Natürlich, heute halten die Amtskirchen kein Alleinvertretungsrecht für das Seeleheil ihrer Gläubigen in Händen, vermutlich muss um jedes einzelne Schäfchen gekämpft werden, denn das Angebot »im Supermarkt der Spiritualität« ist groß, und der Suchende greift schon mal in ein anderes Regal. Das Interesse in unseren postmodernen Gesellschaften mag oftmals auch gar nicht mehr in der lebenslangen Bindung an eine religiöse Institution liegen, man möchte vielmehr »probieren«, was es denn so alles gibt. Jedenfalls, der Zustrom den religiöse (spirituelle) Gruppierungen (»Sekten«) erhalten hat seinen Ursprung wohl in einem tiefen menschlichen Bedürfniss, weniger in dem Gefallen an elitären Vereinigungen.
Insofern ist die Vermarktung, die die Kirche betreibt nur logisch. Man denke an die »Lange Nacht der Kirche« (gibt es bei euch sicher auch, oder?), die unglaublich erfolgreich war. Die Leute wollen keinen Leib mehr, die Häppchen hie und da reichen, und ihre Bedürfnisse sind gestillt.
Für die westliche Welt mag gelten: Entweder bleibt die Kirche bei ihren »Prinzipien«, dann kann sie wohl nur einen kleinen Kreis ansprechen, oder sie verkommt zur Marke und gibt sich damit am Ende selbst preis. Die dritte Möglichkeit wäre freilich, die Menschen wieder an sich zu binden, in spiritueller Hinsicht vor allem, aber auch in sozialer, wobei die sozialen Aspekte außerhalb der westlichen Welt mit Sicherheit bedeutender sind.
Summa summarum: Das was diese Kirche so kalt und leer erscheinen lässt ist, dass sie den Kontakt zu den Menschen und ihren Bedürfnissen, zumindest in weiten Teilen verloren hat. Möglicherweise haben sich die Bedürfnisse vieler aber auch geändert, und man kann ihnen – aus kirchlicher Sicht – nicht mehr gerecht werden.
Aber: Wenn die Liebe das ganze Gesetz ist, wenn das Christentum die Religion der Nächstenliebe ist – ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses menschliche Bedürfnis jemals versiegt.
An der Jungfrauenschaft Marias lässt sich gut erkennen, in welcher Bedrängnis sich die Kirche bisweilen befindet. Zunächst scheint es auf der Hand zu liegen, den Aberglauben einfach abzuschaffen. Wir leben im zwanzigsten, mittlerweile sogar im einundzwanzigsten Jahrhundert, da sind solcherlei Vorstellungen einfach nicht mehr zeitgemäß. Doch: Selbst wenn die Kirche wollte, sie darf nicht! Entsorgt man die Jungfrauenschaft Marias, dann gibt man auch – zumindest in Teilen – die christliche Vorstellung vom liebenden, mitleidvollen und auch allmächtigen Gott preis, denn die Jungfrauenschaft ist von entscheidender theologischer Symbolkraft. Gott hat sich den Menschen hingegeben, aus eigener Kraft, weil er es wollte – und nur er! – hat er seinen Sohn gesandt. Ein Akt reiner Gnade. Aus Liebe. Man stelle sich vor, es hätte dazu der Hilfe eines Menschen bedurft. Was wäre das für ein seltsamer Gott? Deshalb muss Maria Jungfrau sein. Und sie wird es bleiben.
Die Sache
mit der »Jungfrau« beruht vermutlich auf Übersetzungsfehler (Dawkins greift das in seinem Buch auf, aber das hatte ich auch schon vorher gelesen). Ursprünglich hat es vermutlich »junge Frauen« geheissen oder der Begriff der Jungfrau galt nicht im »medizinischen« Sinn.
Ansonsten stimme ich mit Deiner Diagnose überein. Ich weiss natürlich auch nicht, wie »die Kirche« es schaffen soll, Leute an sich zu binden. In den USA gelingt dies in der Wiederbelebung regressiver Werte und eindeutiger Hierarchien. Ich glaube, so etwas hätte hier weniger Chancen (hoffentlich!).
Ansonsten erinnere ich mich oft an Handkes Eintrag in seinem Journal »Das Gewicht der Welt«: Trösten, ohne den Trostlosen wahrzunehmen (die Kirche). Der Punkt wäre, wie man die »Trostlosen« bindet, ohne sie in starre Dogmen oder Sektierertum zu verweisen.
Vielleicht...
Wenn es die Kirche schafft, diese individualisierte Gesellschaft zu integrieren – die Institutionen dafür hätte sie – dann gewänne sie sicherlich an Bedeutung. Sie müsste eine Art Forum für die Gesellschaft werden, ein Sensorium entwickeln, aber ich vermute, dass ein solcher Prozess schlicht nicht von Interesse ist, jeder genügt sich selbst. Naja, fast jedefalls.
Selbst wenn »die Jungfrau« ein Überetzungsfehler ist, die Vorstellung, dass die Zeugung Jesu eines Mannes bedurfte, müsste doch zumidest verwundern.
Sie verwundert
dahingehend, wenn Jesus auch gleichzeitig Gottes Sohn sein soll. Wenn dann Josef der Vater ist, kann das oben genannte Attribut nur metaphorisch sein. Das darf es aber nicht, weil sonst viele andere Aussagen zusammenbrechen, usw.
Die Kirche steckt in einem Dilemma: »Opfert« sie einige (oder alle) Dogmen, läuft sie dem Zeitgeist nach und verprellt ihre bisherige Klientel. Bleit sie stur, verprellt sie die aufgeklärten Europäer.
Bleibt nur das, was blackconti meinte: Die Gläubigen in anderen Ländern blenden offensichtlich solche Probleme einfach aus.
Richtig.
Was wäre, wenn man die Zügel an einigen Stellen lockert, aber zentrale Glaubenswahrheiten unangetastet ließe, also etwas für die eine Klientel und etwas für die andere tut? Das Priesteramt für Frauen öffen, im Gegenszug aber die lateinische Messe fördern (wie es jetzt auch getan wird) usw. Klar, ein schwieriger Spagat. Und er entbindet vor allem nicht davon wieder zu den Menschen zurückzufinden.
Pass auf, bald werden wir zu Kriesenmanagern der Katholischen Kirche!
Aber es gibt auch Stimmen (z.B.Thomas Luckmann), die die institutionalisierte Religion in den westlichen Gesellschaften am Verschwinden und die individualisierte im Kommen sehen. Ganz falsch ist das sicher nicht.
Gregor Keuschniks kritischer Kommentar zu Dawkins Gotteswahn stimmt mit meinem eigenen sehr weit gehend überein. Das freut mich, und hier ist mein Kommentar (leider ohne das Bild aus Indonesien)
mit herzlichem Gruß:
WARUM GLAUBE UND NATURWISSENSCHAFT ZUSAMMENGEHÖREN
Mein Widerspruch gegen den ahnungslosen „Gotteswahn“ des Biologen Richard Dawkins
Nachdenklicher Kommentar für Februar 2008 von Siegfried Böhringer
Das neue Buch des britischen Biologen Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) könnte man ignorieren, wenn es nicht als Bestseller so viel Interesse gefunden hätte, und wenn es sich bei Dawkins nicht um einen weltweit angesehenen Evolutionsforscher handeln würde. Lohnende Erinnerungen an sein Werk sind auch in diesem Buch aufzufinden in den Abschnitten zum Beispiel über die Bedingungen der Lebensentstehung im Universum S.188, über die „egoistischen Gene“ (seine eigene Theorie) S.298, und über die Grenzen menschlicher Wahrnehmung der Wirklichkeit (die „evolutionäre Erkenntnistheorie“) S.502. Auch ist sein „humanistisches“ Eintreten für Friede, Gewaltlosigkeit und Freiheit des Geistes in der Nachfolge der großen Vorkämpfer Albert Einstein und Bertrand Russell aller Achtung wert. Gereade in Theologie
und Kirche wäre noch viel zu lernen und umzudenken, wenn die von Dawkins (nicht nur von ihm) so leidenschaftlich vertretene Wahrheit der Evolution als rein naturhafte Entwicklung des Lebens (auch des menschlichen Lebens einschließlich seiner Religiosität) ernster genommen würde. So schließt sich auch Dawkins den beiden von ihm zitierten Bekenntnissen an: „Gott muß größer sein, als wir uns träumen ließen. – Eine Religion, die die Größe des Universums im Sinne der modernen Wissensschaft betont, könnte wahrscheinlich auf wesentlich mehr .. Ehrerbietung hoffen als die herkömmlichen Glaubensrichtungen.“ (Carl Sagan) Und: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, die Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit (unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich), dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus.“ (Albert Einstein) Daß er sich selbst dennoch als „Atheisten“ bezeichnet, ist seine Sache. (Diese Zuschreibung hat er törichterweise einfach von den amerikanischen Kreationisten übernommen. Immerhin gibt es von ihm einen Aufsatz mit dem Titel „Atheisten für Jesus“.)
Mein Seufzer: Wäre Richard Dawkins doch als Biologe und Humanist bei der Sache, von der er etwas versteht, geblieben (als „Schuster bei seinem Leisten“), so hätte sein Werk ein wichtiger Beitrag sein können zur weltweiten, weitgehend aus dem von ihm verpönten Gottesglauben gespeisten Friedensbewegung unserer Zeit. Dies hat er sich verscherzt durch die bereits im Titel seines neuen Buches sichtbare pauschale Verteufelung jeder Gläubigkeit mit diesen abwegigen Behauptungen: Die Naturwissenschaftler (und naturwissenschaftlich Gebildeten) seien allesamt Atheisten und würden es nur aus „Kriecherei“ vor der herrschenden Meinung nicht zugeben / Der Gott der Bibel (besonders des Alten Testamentes) sei nichts anderes als ein „blutrünstiger Tyrann“ / Die abergläubischen kirchlichen Dogmen würden bereits den kleinen Kindern wie ein Virus eingeimpft / Die Religionen seien die eigentlichen, gar einzigen Ursachen von Gewalt, Krieg und Terror (als ob es im Christentum nichts anderes gäbe als die von Dawkins mit Recht angeprangerte Kriegsideologie des George Bush, im Islam nichts anderes als die Terror-Ideologie des Bin Laden) / Die edleren Formen von Religiosität und Theologie (wie bei Paul Tillich oder Dietrich Bon-hoeffer) könne man vergessen, weil sie zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen / Die Religion könne zwar menschliche Grundbedürfnisse befriedigen (etwa nach Erklärung, Ermahnung, Trost und Inspiration) aber nur bis zum Augenblick der „Desillusionierung“. Entscheidend für Dawkins’ Kritik der Religion ist die Behauptung ihrer Unwahrheit. Die Existenz eines in der kosmischen Realität als alles bestimmende „Handlungsinstanz“ gegenwärtigen Gottes, der das Universum erschuf und total kontrolliert, sei so unwahrscheinlich wie die (von Russell ins Spiel gebrachte) Existenz einer Teekanne in einer entfernten Umlaufbahn um die Sonne. (Oder des gleichartigen „Fliegenden Spaghettimonsters“) Es scheint, daß Dawkins sich kein andereres Bild eines Schöpfergottes vorstellen kann. Glücklicherweise gibt es auch (was Dawkins total ignoriert)
viele besonnenere Naturwissenschaftler, für eine menschliche Welt engagierte Theolog/innen, Glaubensgruppen und Kirchen, und eine starke Bewegung der „Religionen für den Frieden“.
Damit rechnet mit hoffendem Blick auf die kommende Zeit und grüßt herzlich
Siegfried Böhringer.
VIEL-SAGENDE BILDER
(36) Die wahre Wirklichkeit Gottes:
Naturwissenschaftlich weder nachweisbar noch widerlegbar, weil sie nichts Gegenständliches im Universum darstellt
und doch alles Kosmische und Irdische trägt und umfasst: in einem machtlosen, unfaßbaren Hintergrund
von allem, was ist, immer
auf der Seite der Machtlosen zu finden, und allem Seienden gegenüber freilassend, sorgend, leidend, hoffend, aufbewahrend. So meint es diese Batik aus Indonesien
als Kern der Botschaft vom gekreuzigten Jesus.
Daher konnte Dietrich Bonhoeffer sagen „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ und Paul Tillich nicht vom nachweisbaren, aber vom offenbaren (auf ganz andere Weise wirklichen) Gott sprechen als vom „ganz Eigenen, das mich unbedingt angeht“
in den folgenden nicht leicht faßbaren und doch für unser Verständnis von Welt, Mensch, Gott so bedeutsamen Sätzen: „Ist das, was offenbar wird, das ganz Eigene, so ist es das, was mich unbedingt angeht. – Es gibt keinen Ort, von dem aus man das Unbedingte anschauen könnte; es würde dadurch bedingt werden, Objekt werden, es würde aufhören, das unbedingt Eigene zu sein, das, worin unser Sein wurzelt.“
Hier hätten wir alle wohl noch viel zu lernen und umzulernen –
nicht nur ahnungslose Naturwissenschaftler wie Dawkins,
die sich (fälschlicherweise) Atheisten nennen.