Die To­des­ou­ver­tü­re

Wie schön ist es, ver­gäng­lich zu sein, zu wis­sen, dass das Le­ben nicht un­be­grenzt vie­le Ta­ge hat? Es ist si­cher­lich bes­ser, als wenn wir ewig­lich exi­stier­ten. Was kann man schon mit un­end­lich viel Zeit an­fan­gen? Aber dass Ver­gäng­lich­keit so­gar schön sein kann, ist ei­ne Er­fah­rung, die ein Men­schen auch er­le­ben kann. Wenn uns der Tod et­wa von grau­sa­men Lei­den er­löst, oder be­stimm­te Krank­hei­ten, Pro­ble­me oder an­de­re schä­di­gen­de Sach­ver­hal­te nach ei­ner ge­wis­sen Zeit wie­der ver­schwin­den.

Ja­ja, ich weiß, was du jetzt den­ken magst, lie­ber Le­ser: Der hat sie doch nicht mehr al­le! Ver­sucht uns hier nun an das The­ma Tod her­an­zu­füh­ren, da­mit er wie­der sei­ne grau­sa­men Fan­ta­sien zu Pa­pier brin­gen kann! Na ja, so ha­be ich mich nun­mal bis­her im­mer ge­ge­ben, da darf ich mich nicht wun­dern, wenn mir das wei­ter­hin so an­ge­maßt wird. Aber statt die­ses Fak­tum zu be­strei­ten, nur um der Ver­tei­di­gung der ei­ge­nen Eh­re wil­len, möch­te ich dir hier nun ei­ne klei­ne Ge­schich­te er­zäh­len:

Es war ein­mal ein Mann, der leb­te in ei­ner klei­nen Hüt­te hoch oben in den Ber­gen. Und es war Win­ter, ein ei­sig kal­ter Win­ter mit sehr viel Schnee, und der Mann konn­te froh sein, dass er zu­min­dest ein PAAR Le­bens­mit­tel ge­hor­tet hat­te, da­mit er in die­ser ex­tre­men Wet­ter­la­ge nicht all­zu oft ins Tal hin­un­ter­stei­gen muss, in das nächst­ge­le­ge­ne Dorf, denn der Pass war im Win­ter ein an­spruchs­voll zu ge­hen­der und ge­fähr­li­cher Weg. Aber der Schnee war me­ter­hoch, die Käl­te un­er­schüt­ter­lich und der grau­sa­me Win­ter ver­weil­te noch lan­ge. Nun wur­de tat­säch­lich die Nah­rung so lang­sam knapp, sie reich­te noch ma­xi­mal für 2 Wo­chen, aber es war noch im­mer viel Schnee auf dem Pass. Soll­te der Mann jetzt schon ge­hen und auf Vor­rat kau­fen oder zu­min­dest die Be­geh­bar­keit des We­ges te­sten? Es war näm­lich ge­ra­de schö­nes Wet­ter drau­ßen und ob­wohl es gleich­zei­tig bit­ter kalt war, so schien die Son­ne doch freund­lich vom eis­blau­en Him­mel her­ab und al­ler Ne­bel wich da­von, die Sicht war atem­be­rau­bend, die Luft war trocken. Doch der Mann war­te­te, weil er sich von der Käl­te zu sehr be­ein­drucken ließ. Der Wil­le, lie­ber noch in der war­men Hüt­te zu blei­ben, war im wich­ti­ger als nach­hal­ti­ge und vor­aus­den­ken­de Vor­sor­ge. Ob­wohl es bei­na­he aus­sichts­los und un­mög­lich wer­den könn­te, wenn es wie­der wär­mer und feuch­ter wer­den wür­de, und es wie­der an­fing zu schnei­en, fäll­te er die­se Ent­schei­dung. Im Schnee­trei­ben zu ge­hen, ist weit­aus schwie­ri­ger als in der Käl­te. Aber der Mann dach­te nicht dar­an, viel lie­ber ver­weil­te er vor dem wär­men­den Ka­min­feu­er, Brenn­holz hat­te er zum Glück ja ge­nug.

Die Ta­ge zo­gen nun da­hin und es kam tat­säch­lich so wie vor­aus­ge­se­hen: Es wur­de zwar wär­mer, da­für setz­ten je­doch schwe­re Schnee­schau­er und ‑stür­me ein. Nun MUSSTE der Mann aber ge­hen, weil sei­ne Le­bens­mit­tel­re­ser­ven nun end­gül­tig er­schöpft wa­ren. Er HÄTTE ja eher ge­hen kön­nen, aber er WOLLTE es nicht. Da­für muss­te er sich nun durch den star­ken Schnee­fall kämp­fen.

Sein Weg möch­te ich hier nun nicht schil­dern, nur so viel sei ge­sagt: Er kam nie im Dorf an.

Ei­nes schö­nen Ta­ges im Früh­ling fand man ab­seits al­ler We­ge in ei­ner Fels­spal­te ei­ne Lei­che, von der Käl­te des Win­ters noch im­mer et­was kon­ser­viert. Wer auch im­mer der To­te war, er muss sich ver­irrt ha­ben und ist dann er­fro­ren. Die, die ihn fan­den, zeig­ten er­staun­lich we­nig Mit­ge­fühl, im Ge­gen­teil, sie lach­ten so­gar und spot­te­ten, wie so ein Narr nur mei­nen könn­te, er müss­te im streng­sten Win­ter die här­te­sten Berg­tou­ren be­ge­hen.

Sind wir nicht al­le ir­gend­wie die­ser Mann? Wir mei­nen im­mer wie­der, wir müss­ten uns ge­gen das schein­bar Un­aus­weich­li­che stel­len. Wir glau­ben, wir könn­ten al­les be­lie­big lan­ge nach hin­ten her­aus­zö­gern, weil es ja im­mer noch ei­nen Mor­gen gibt. Doch ir­gend­wann reißt auch die­se Ket­te ab, dann gibt es kei­nen Mor­gen mehr. Dann ster­ben wir un­ver­rich­te­ter Din­ge. Und war­um? Weil wir uns nicht dar­um küm­mern woll­ten! Je eher wir ein Pro­blem be­han­deln, de­sto leich­ter fällt es uns, es zu lö­sen, und de­sto län­ger kön­nen wir an ihm her­um­rät­seln.

Wir fürch­ten den Tod, klar, wer tut das nicht, doch was ge­nau fürch­ten wir an ihm? Wenn ich an mei­nen ei­ge­nen Tod den­ke, so be­mer­ke ich im­mer, dass es die Rat- und Plan­lo­sig­keit, die Ver­zwei­fe­lung, das Un­ver­ständ­nis, viel­leicht so­gar auch die Trau­er der an­de­ren ist, was mich vor Schrecken hoch­fah­ren lässt. Klar, die­se Si­tua­ti­on ist un­ver­meid­bar, doch man kann die Angst da­vor be­kämp­fen, da­mit man sich mu­tig wie ein Gla­dia­tor sei­nem Geg­ner stel­len kann, wohl­wis­send, dass der Re­gent den Dau­men trotz­dem nach un­ten senkt – tut er das wirk­lich im­mer? Nein, tut er nicht, man kann den Schat­ten ab­wen­den, selbst dann, wenn es Nacht wird.
Wie das geht, wer­de ich euch in die­ser Blog­se­rie als Con­tri­bu­tor auf Be­gleit­schrei­ben er­läu­tern. Viel Spaß beim Le­sen!

15 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Me­di­zin, Kul­tur, Ta­bu und Gil­ga­mesch
    Der Um­gang mit dem Ster­ben und dem Tod ist ei­ne kul­tu­rel­le Auf­ga­be: Ein äu­ßerst wich­ti­ges The­ma! Ein ge­sell­schaft­li­ches The­ma!

    Durch die heu­ti­ge hoch­tech­ni­sier­te Me­di­zin hat das Ster­ben und der Tod neue Di­men­sio­nen er­langt. Das Pri­vi­leg, zu Hau­se ster­ben zu kön­nen, er­fah­ren nur noch we­ni­ge Men­schen. Bis vor ei­ni­gen Jah­ren war das Ster­ben und der Tod un­spek­t­ak­tu­lär, ir­gend­wie selbst­ver­ständ­lich. Heut­zu­ta­ge wird das Sterben/ der Tod ins Kran­ken­haus oder ins Al­ten-/Pfle­ge­heim ver­legt ( = An­ony­mi­tät, Al­lein­sein, ho­he Ko­sten durch teu­re Ap­pa­ra­te­me­di­zin und teu­re Me­di­ka­ti­on, ob­wohl der Mensch es sich oft an­ders ge­wünscht hat ( sie­he jet­zi­ge ge­setz­li­che Mög­lich­keit der Pa­ti­en­ten­ver­fü­gung).
    Das fa­mi­liä­re so­zia­le Um­feld, um dort ster­ben zu dür­fen, gibt es nicht mehr. Die­ses liegt ei­ne Ge­ne­ra­ti­on zu­rück. Und dann gibt es im­mer noch die Rest­hoff­nung bei de­nen, die mit dem Ster­ben­den zu­sam­men­ge­lebt ha­ben, er kön­ne viel­leicht ja doch noch ge­ret­tet wer­den, der Weg in die Kli­nik, ins Heim wird des­halb be­jaht. Da­mit ver­la­gert sich das Ster­ben und der Tod in die öf­fent­li­chen Ein­rich­tun­gen ( Hos­piz­be­we­gun­gen ver­su­chen, dem ent­ge­gen­zu­wir­ken).

    Ver­schiebt sich hier die kul­tu­rel­le Si­tua­ti­on in un­se­ren Brei­ten? Ich den­ke ja. Die re­li­giö­se Bin­dung hat sich ver­än­dert, die fa­mi­liä­re Si­tua­ti­on hat grund­le­gen­de Wand­lun­gen er­fah­ren ( das Fa­mi­li­en­ge­häu­se be­stand bis vor kur­zer Zeit aus ei­ner Viel­zahl von Per­so­nen, der Ar­beits­platz war vor Ort, jung und alt leb­ten un­ter ei­nem Dach, usw.) und der mo­der­ne Mensch er­fährt in der Ge­gen­wart ei­ne Schnel­lig­keit, die es bis da­hin nie in die­sem Aus­ma­ße ge­ge­ben hat. M.E. ge­rät das in­ne­re Ge­fü­ge in Ge­fahr, ins Rut­schen zu kom­men. An wen hal­te ich mich, wer stützt mich, wenn je­der mit sich selbst be­schäf­tigt ist.

    Ta­bui­sie­ren wir das To­des­pro­blem in un­se­rer Ge­sell­schaft? Größ­ten­teils kann dies si­cher be­jaht wer­den, schaut man sich die Mas­sen­me­di­en an. Kein Tag ver­geht, in dem man nicht dem Ju­gend­wahn aus­ge­setzt wird. Die Me­di­en sug­ge­rie­ren ge­konnt, daß alt wer­den und an den Tod den­ken, ist et­was häss­li­ches dunk­les ist. Hier über­schnei­den sich Kul­tur und Ta­bu.

    Viel­leicht schafft es die Phi­lo­so­phie das To­des­pro­blem zu ent­ta­bui­sie­ren und in Zu­sam­men­ar­beit mit den Thana­lo­gen die Men­schen zu ei­ner ei­ge­nen exi­sti­en­ti­el­len Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Tod, ins Zen­trum der Dis­kus­si­on zu stel­len.

    Um ca. 2660 v.u.Z. hat­te sich Gil­ga­mesch auf die Su­che nach der Un­sterb­lich­keit ge­macht. Es ist ihm nicht ge­lun­gen.

    Ich wer­de Ih­ren Blog zu die­sem The­ma in­ter­es­siert und auf­merk­sam aber nicht mit Spaß ver­fol­gen.

  2. Ta­bui­sie­rung
    Ich kann Ih­rer Po­si­ton zur Ta­bui­sie­rung des The­ma To­des kaum noch et­was hin­zu­fü­gen, ge­schwei­ge denn Kri­tik an­brin­gen. Die Phi­lo­so­phie, und mei­nes Er­ach­tens auch die Re­li­gi­on, müs­sen den Tod als ein un­aus­weich­li­ches »Muss« an den Men­schen her­an­füh­ren, und ich den­ke, dass das teil­wei­se ganz gut ge­löst wur­de. Die Hin­du­isten und Bud­di­sten glau­ben et­wa an die Re­inkar­na­ti­on, oder Chri­sten, Ju­den und Mus­li­me an das Pa­ra­dies. Bei­des stellt ei­ne Va­ri­an­te da­von dar, dem In­di­vi­du­um die Angst vor dem Ster­ben zu neh­men.
    Da die Ge­sell­schaft aber im­mer stär­ker zum Athe­is­mus hin ten­diert, bleibt die Mehr­heit der Be­völ­ke­rung wohl noch im­mer auf Ih­ren Äng­sten sit­zen...

    [EDIT: 2009-09-22 15:55]

  3. Ver­bin­dung von Se­xua­li­tät und Tod
    Ja, Sie ha­ben da in der Tat ei­ne wirk­lich in­ter­es­san­te Par­al­le­le her­ge­stellt. Die se­xu­el­le Lust ist in sich selbst auch ja so et­was wie ein »Le­ben«, das ei­nen An­fang und ein En­de hat. Und da­durch, dass die Lust be­frie­digt wird, al­so im Grun­de »stirbt«, und im­mer wie­der »auf­er­steht«, er­fah­ren wir doch erst den Reiz der­sel­ben.

    [EDIT: 2009-09-22 15:49]

  4. Wenn wir un­end­lich lan­ge le­ben wür­den, dann gä­be es ver­mut­lich das Pro­blem mit dem grau­sa­men Lei­den nicht mehr. Die Immor­ta­li­sten rech­nen mit ei­ner durch­schnitt­li­chen Le­bens­dau­er von 1000 Jah­ren, wenn die heu­ti­gen Haupt­to­des­ur­sa­chen wie Herz­kreis­lauf­erkran­kun­gen und Krebs ent­fal­len wür­den. Ver­blei­ben wür­den In­fek­tio­nen, bei de­nen nicht ge­nü­gend schnell ge­hol­fen wer­den kann, und Un­fäl­le.

    Si­cher ist, dass sich un­ser Ver­hält­nis zum Tod bei ei­ner po­ten­zi­el­len Un­sterb­lich­keit ra­di­kal än­dern wür­de – ich glau­be näm­lich, dass das heu­ti­ge Sinn-se­hen im Tod ei­ne Ana­lo­gie zum Pfei­fen im Wald ist, wir ver­su­chen im Sinn-lo­sen Tod ei­nen Sinn zu se­hen. Für die Evo­lu­ti­on hat er den, für das In­di­vi­du­um aber nicht – ganz ein­fach, weil das In­di­vi­du­um sei­nen ei­ge­nen Tod nicht über-lebt. Ei­nen Sinn im Tod se­hen nur Leu­te, die le­ben, al­so eben ge­ra­de nicht tot sind.

  5. Lei­den
    Nein, Sie ha­ben Recht, wir hät­ten kein phy­si­sches Lei­den mehr, aber wie steht es um un­se­ren Geist? Wenn wir wirk­lich un­end­lich Ta­ge Zeit hät­ten, dann wür­de ich da­bei zu Grun­de ge­hen, in Le­thar­gie ver­sin­ken, denn je­der Tag wä­re ei­ne pu­re Sy­si­phos-Ar­beit.
    Denn wie ei­ne Form erst durch An­fang und En­de de­fi­niert wird, so ist das auch mit dem Le­ben; die In­di­vi­dua­li­tät liegt da­zwi­schen, und nur durch An­fang und En­de kann man die ein­zel­nen Le­be­we­sen von ein­an­der un­ter­schei­den; ihr Ur­sprung und ihr Aus­ster­ben ge­ben je­der Tier­art ei­ne ganz in­di­vi­du­el­le Fü­gung.

  6. Ich ver­mu­te, die­se Ana­ly­se ist nicht zu­tref­fend, weil wir uns kei­ne rich­ti­ge Vor­stel­lung von ei­nem Zu­stand ma­chen kön­nen, der nicht exi­stiert. Das mein­te ich mit »dem Pfei­fen im Wald«.

    Es fängt schon bei der ein­fa­chen Über­le­gung an, dass ei­ne Aus­wei­tung un­se­res Le­bens auf 1000 Jah­re mit den heu­ti­gen Res­sour­cen un­se­res Kör­pers da­zu führt, dass uns nur die Er­in­ne­run­gen der letz­ten hun­dert Jah­re zur Ver­fü­gung ste­hen wür­den. Lo­gisch be­steht bei die­ser Op­ti­on kaum ein Un­ter­schied zwi­schen ei­nem Tau­send­jäh­ri­gen und zehn Hun­dert­jäh­ri­gen – wenn al­so letz­te­re ih­rem Le­ben ei­nen Sinn zu ge­ben ver­mö­gen, dann kann es der Tau­send­jäh­ri­ge auch.

    Ich hät­te noch ein völ­lig ent­ge­gen­ge­setz­tes Sze­na­rio an­zu­bie­ten – vor­aus­ge­setzt, die Ka­pa­zi­tä­ten des mensch­li­chen Kör­pers wür­den eben­falls in ho­hem Ma­ße stei­gen: Dann könn­te man sich z.B. vor­neh­men, das ent­ge­gen­ge­setz­te En­de der Ga­la­xis zu er­for­schen und der da­zu not­wen­di­ge Weg von 70.000 Licht­jah­ren (viel­leicht 700.000 Le­bens­jah­re) wä­re kein Pro­blem – und könn­te eben­falls durch sinn­vol­le Tä­tig­kei­ten ge­füllt wer­den. Es ver­schie­ben sich ein­fach die Maß­stä­be, was men­schen­mög­lich ist und was nicht.

    Al­so mei­ne The­se: Für al­le, die dem Tod ei­nen be­son­de­ren Sinn zu­spre­chen, ist das ih­re ei­ge­ne Me­tho­de, die Angst vor dem ei­ge­nen Tod zu ver­rin­gern – er muss ein­fach ei­nen Sinn ha­ben, weil er so un­ver­meid­lich ist.

  7. Ich kann Ih­re Po­si­ti­on durch­aus nach­voll­zie­hen, bin aber viel zu starr­sin­nig, als dass ich mei­ne da­für auf­ge­ben wür­de. Sie sag­ten, voll­kom­men zu Recht, die kor­rekt Vor­stel­lung die­ses Sta­ti ist mög­lich, wir kön­nen al­so schlicht nur spe­ku­lie­ren.

    Wie wür­den Sie denn mit dem Tod um­ge­hen? Das in­ter­es­siert mich jetzt näm­lich.

  8. Im letz­ten Jahr ist mein Va­ter ge­stor­ben, nach­dem er die letz­ten zwei Jah­re im Ko­ma ge­le­gen hat. Für ihn und für uns war es ei­ne Er­lö­sung aus ei­nem un­wür­di­gen Zu­stand. Für mich selbst stre­be ich an, dass ich im Fall ei­ner sehr schwe­ren Er­kran­kung un­er­träg­li­che und sinn­lo­se Schmer­zen durch die ei­ge­ne Ent­schei­dung selbst­be­stimmt zu ge­hen ver­mei­den kann.

    In der Zeit bis da­hin ver­su­che ich die Din­ge zu tun, die mir wich­tig sind und mei­nen Kör­per nicht wi­der bes­se­res Wis­sen vor­zei­tig zu rui­nie­ren. Al­les was dar­über hin­aus­geht, un­ter­liegt nicht mei­nem Wil­len – ein re­li­giö­ser Mensch wür­de hier sa­gen »Wir sind al­le in Got­tes Hand« – wie al­le Men­schen hof­fe ich, dass mir be­son­ders grau­sa­me Er­leb­nis­se er­spart blei­ben. Aber die Zu­kunft ist mir halt wie al­len an­de­ren auch un­be­kannt.

  9. Die Be­son­der­heit
    Es tut mir Leid we­gen Ih­res Va­ters, aber ich den­ke, der Ko­ma­pa­ti­ent ist ein ganz be­son­de­rer Fall der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Phan­tom Tod: Hier­bei wird von man­cher Sei­te die be­wuss­te und ge­woll­te Her­bei­füh­rung des To­des pro­kla­miert. Ich spre­che von ak­ti­ver Ster­be­hil­fe.
    Man muss hier jetzt kei­ne Grund­satz­dis­kus­si­on über Ster­be­hil­fe be­gin­nen, doch ich den­ke, dass vie­le Men­schen ih­re Mei­nung des­be­züg­lich än­dern, wenn sie in ei­nen ähn­li­chen Fall wie den Ih­ren ge­ra­ten. Vor­her war ihr Blick ge­trübt, doch das an ei­ner na­he­ste­hen­den Per­son zu er­le­ben, öff­net ih­nen dann die Au­gen, das al­les et­was kon­tro­ver­ser zu be­trach­ten.

    Ich ver­mu­te, ich möch­te mir hier aber nichts an­ma­ßen, auch Sie ha­ben sich nach dem Tod Ih­res Va­ters mit dem The­ma aus­ein­an­der­ge­setzt.

  10. Fra­gen zum Be­wusst­sein be­schäf­ti­gen mich schon län­ger, sie wur­den si­cher­lich durch mei­ne ei­ge­nen Er­leb­nis­se ge­trig­gert. Be­gon­nen hat das mit ei­nem MRT mei­nes Kop­fes und ei­ner da­nach ge­stell­ten Fehl­dia­gno­se. In Kurz­form: Der Neu­ro­lo­ge dia­gno­sti­zier­te ei­ne weit über dem Al­ters­durch­schnitt lie­gend Atro­phie und be­gin­nen­de De­menz und hät­te mich da­mit fast in den Selbst­mord ge­trie­ben, der Psych­ia­ter er­klär­te kur­ze Zeit spä­ter den er­sten Arzt zum Idio­ten und at­te­stier­te mir ei­ne in­tel­lek­tu­el­le Hoch­be­ga­bung.

    Es ist schon ei­ne bit­te­re Iro­nie, dass aus­ge­rech­net mein Va­ter letzt­end­lich dann an ei­nem durch ei­nen Un­fall ver­ur­sach­ten Hirn­scha­den ge­stor­ben ist. In der Zeit sei­nes Lei­dens ha­be ich mich dann auch mit dem na­he­lie­gen­den Pro­blem der Ster­be­hil­fe be­schäf­tigt und auch ei­ni­ges dar­über ge­schrie­ben, in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge: Dis­kus­si­on zu Ster­be­hil­fe, Fach­arzt fürs Tö­ten?, Ni­co­la Bar­do­la: Schlemm und Wozz: We­ge zu ei­nem hu­ma­nen, selbst­be­stimm­ten Ster­ben. Der­zeit le­se ich ge­ra­de die Re­por­ta­ge »Tan­ner geht. Ster­be­hil­fe – ein Mann plant sei­nen Tod« von Wolf­gang Pro­sin­ger.

    Mei­ne ei­ge­ne Mei­nung ist ziem­lich ein­deu­tig: Ich füh­le mich frei­er, seit ich weiß, was es für Mög­lich­kei­ten gibt. Man hat ei­ne Wahl. Und ich wür­de die Grün­dung ei­ner Or­ga­ni­sa­ti­on wie »Exit« (nicht Di­gnita­te!) in Deutsch­land be­grü­ßen. Man kann nicht aus ein­zel­nen Miss­brauchs­fäl­len z.B. in den Nie­der­lan­den ei­ne ab­leh­nen­de Hal­tung be­grün­den. Die po­si­ti­ven Er­fah­run­gen, die in der Schweiz ge­macht wur­den, sind für mich sehr über­zeu­gend.

  11. Ich fin­de wirk­lich sehr gut, wie Sie den­ken, ich wünsch­te mir, mehr an­de­re Men­schen tä­ten das auch. (Ver­zei­hen Sie mir die­sen schmei­cheln­den Ton.)

  12. Der Tod zwingt dem Le­ben ei­ne Wer­tig­keit auf: Un­ser Tun und Han­deln, un­se­re Wün­sche und Be­geh­ren er­hal­ten ih­re Be­deu­tung in Be­zug auf die End­lich­keit un­se­res Da­seins.

    Die Feind­schaft des mo­der­nen Men­schen ge­gen­über dem Tod, Furcht und Schrecken lie­gen im Nichts das uns der Tod ent­ge­gen­schleu­dert, im Ver­lust von Sinn und Be­deu­tung, in der Dro­hung dass es voll­kom­men egal ist, ob wir die­ses Le­ben ge­lebt ha­ben, oder nicht – er ist nicht nur das En­de un­se­rer Exi­stenz, er stellt sie selbst in Fra­ge.

    Ster­ben wir [...] un­ver­rich­te­ter Din­ge ver­lie­ren wir das Le­ben noch vor dem Tod. Könn­ten wir es er­mes­sen, er selbst könn­te schmerz­haf­ter nicht sein.

    [EDIT: 2009-09-20 18:15]

  13. Schein­ba­res Nichts
    Ich den­ke, dass wir Men­schen uns im­mer nur all­zu ger­ne ein­bil­den, der Tod hät­te nichts mit un­se­rem Le­ben zu tun; viel eher noch wür­de ich sa­gen, dass JEDER TAG un­se­res Le­bens so viel Tod be­inhal­tet, dass wir ihn schon gar nicht mehr wahr­neh­men. Wir tö­ten al­lei­ne schon, um er­nährt zu wer­den, aber auch, um ei­ne Rol­le in der Ge­sell­schaft ein­zu­neh­men, müs­sen wir an­de­re ver­drän­gen, so­zu­sa­gen »über die Kan­te schie­ben«.

    Scha­de, dass das kaum ei­ner wahr­ha­ben will...

    Aber Ih­rer Po­si­ti­on könn­te ich durch­aus auch bei­pflich­ten.

    [EDIT: 2009-09-22 15:39]