Gefunden werden
Die archäologische Obsession erkläre ich mir so: sie ist die Sehnsucht, endlich alles hinter sich zu haben, Jahrtausende zwischen der peinlichen, lächerlichen, nichtsdestotrotz unerträglichen Misere des So-zu-Tuns-als-ob-man-lebte und dem offensichtlich unerwünschten Selbst zu wissen. Man wäre dann unerreichbar für die notorischen Lebensbejaher und die Tu-dir-was-Gutes-Missionare, sogar wenn sie gleich im Grab nebenan lägen. Vor allem wäre der Akku ihrer Handies korrodiert und endlich, endlich Ruhe.
Dann würde ich vielleicht ausgegraben von jemandem, der sich für das interessiert, was an mir am wenigsten wertvoll war und daher übrigblieb. Mit Samthandschuhen würde jener Jemand mein Wertlosestes berühren. Er wird. Er wird ein Leben für mich erfinden, das mein tatsächliches auch dann noch übertreffen würde, wenn es ein überdurchschnittlich schönes gewesen wäre. Mein Name wird zumindest so etwas wie »XX-Prinzessin« enthalten (der »XX«-Teil ist allerdings unberechenbar). Dafür werde ich das Glotzgeäuge an der Museumsvitrine stoisch über mein Gerippe ergehen lassen; im Leben gab es durchaus Blöderes zu ertragen.
Der Archäologe wird mich finden, wie mich kein Zeitgenosse jemals finden könnte. Er wird glücklich sein über das Wenige, das ich noch sein werde, anstatt nur Unzulänglichkeiten zu bemängeln an dem beträchtlichen Haufen diversen Materials und Feinstoffs, der ich lebend bin.
Meine einzige Arbeit besteht darin, herauszufinden, wohin ich mich legen muss, damit er mich finden wird. Ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende können die Topographie ziemlich verändern, es kommt also darauf an, in der richtigen geologischen Schicht zu expirieren. Wenn ich manchmal einen Zweifel schiebe, dann diesen: ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich gefunden werden will. Es soll nur vorerst einmal einfach irgendwie aufhören.
9. Januar 2009
Nein, finden
Sich in eine geologische Schicht legen, um von einem Archäologen des 4. Jahrtausends ausgelocht zu werden, so ein Quatsch! Ich lege mich bis auf weiteres nirgendwo so zukunftsgerichtet hin. Die Zukunft interessiert mich nämlich einen Feuchten. Sie ist ja gar nie. Immer ist irgendwie einfach nur Jetzt, egal wie blöd man tut, es ist zwecklos vorauszuhalsen. Zukunft langweilt deshalb dermassen, weil sie so beliebig ist. Wir wissen nur, dass wir B sagen, weil wir A gesagt haben, und nichts ist so spannend wie sich durch das Gestrüpp eingetretener Möglichkeiten zurückzuschlagen, von Singularität zu Singularität der Geschichte rückwärts zu hüpfen, um herauszufinden, was genau A war, und auf welchen Schlingpfaden wir nach B gerieten. Der Zeitort, die Ortzeit, an dem, zu der, Z A in den Schwanz beisst, ist determiniert, nicht aber das Geschlängel dorthin. Es könnte sein, dass wir soeben T sagen.
Es grassiert übrigens nicht nur Rassismus (horizontal, räumlich), sondern auch Tempismus (vertikal, zeitlich). Die meisten Heutigen halten die Menschen vor uns für dümmer als sich selbst. Je länger vor uns jemand lebte, für umso blöder hält man ihn, so wie der Rassismus sich am heftigsten äussert gegen den, der am weitesten weg wohnt (und wehe, er bewegt sich in die Nähe!). So wie etwa in Dokumentarfilmen sogenannte »Naturvölker« als kindlich und naiv dargestellt werden, so geschieht es auch an den Altvorderen. Neanderthaler sind verkleidete Fitnesstrainer, denen man Kaugummi auf die Braue und Schweineborsten auf den Rücken klebt, und die dann vertrottelt und grunzend aus der Höhle auf die Kamera zuhölzeln. – »Vermutlich hatten die Neanderthaler eine Vorstellung vom Jenseits, wenn auch eine primitive, aber sie trauerten nicht so wie wir um ihre Toten«, wird grossgekotzt daherinterpretiert. Das soll man angeblich aus Ocker und Blütenblättern in Gräbern ablesen können, soso. Die Neanderthaler waren MENSCHEN. Sie lebten unter anderen Umweltbedingungen, aber mit den gleichen Herzen und Seelen. Ihr Gehirn war grösser als unseres.
Im Neolithikum war die Schädeltrepanation gang und gäbe, ärztliche Routine geradezu; über 90% der Patienten überlebten den Eingriff, heutzutage sind es nur gute 50%. Von den frühen Hochkulturen brauchen wir gar nicht erst zu reden. Das Erstaunen über ihre Errungenschaften ist befremdend und bleibt arrogant, denn es wird stets mit diesem Unterton geäussert: »Die hatten sogar schon ...!« (»...obwohl sie doch noch nicht so gescheit waren wie wir!«, denkt, wer so spricht).
Die archäologische Obsession erkläre ich mir so: ich will die Toten finden, ihnen meine Reverenz erweisen und ihnen Löcher in den Bauch fragen. Wir haben mit jedem Schritt mehr Gepäck verloren, als wir unterwegs ständig aufgabeln. Es ist zwar pubertär zu glauben, dass wir uns derzeit eher aufwickeln denn entwickeln, aber ich glaube es trotzdem. Einiges war früher bestimmt besser (anderes nicht). Ich will es ja auch nicht reinstallieren, aber ich will es betrachten bis mir schwindlig wird. Ich möchte in der kollektiven Erinnerung schwimmen. Und natürlich mit den Hunnen reiten, aber wer wollte das nicht.
10. Januar 2009
Addendum: erfinden
Inzwischen habe ich weitere drei Jahre über diese Frage nachgedacht – natürlich nicht nur über diese Frage, und natürlich habe ich nicht nur nachgedacht – und komme zum vorläufigen Schluss, dass ich doch lieber gefunden würde, oder zumindest keins von beidem. Passiv kommt mir zupass, von zwei Möglichkeiten sollte man immer die weniger schweisstreibende wählen. Mein Leben aber erfinde ich selbst, gemeinsam mit denjenigen, die mich bereits gefunden haben. Erzählen werde ich es niemandem, und die Öffentlichkeit im 4. Jahrtausend darf die XX-Prinzessin dann gern für dumm halten. Sie war es nämlich, bis auf die Knochen!
15. Februar 2012
© Ursula Timea Rossel, 2009/12.
Ach – die Erlösungssehnsüchte: heimsuchend, aber nicht heimgesucht werden wollend.
Ein wirklich grandioser Text! Danke für die Schmunzler! (Gibt’s noch weitere nachzulesen??)
Ein sehr schöner Text. Der interessanteste Gedanke für mich:
@Köppnick
Ich weiß nicht ob es den Ausdruck offiziell gibt, aber spontan würde ich die Gemeinsamkeit von Tempismus und Rassismus im Alienismus zusammenfassen (von alienus, fremd).
@Lyam
Die Autorin hat auf ihrer Kryptogeographie-Webseite zu ihrem wirklich famosen Buch »Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz« einige wunderbare Stückchen aufgeboten.
@metepsilonema
Interessante Wortschöpfung. Allerdings ist der Terminus »Alien« (englisch ausgesprochen) durch die Trivialkultur längst anderweitig konnotiert (als Wortschöpfung für Außerirdische). Da könnte es schnell zu Verwechslungen kommen.
@metepsilonema: Reicht dann nicht einfach Chauvinismus? – Vielleicht, da denke ich nun schon eine Weile drüber nach, ist das aber auch fast eine Grundverfasstheit des Bewusstseins: Sich selbst immerzu als Krone der Schöpfung anzusehen, intelligenter als all die Dösbaddel (zeitlich) vor und (räumlich) neben einem... und welch ein Aufwand und welche Mühe da hineingesteckt wird, diesen Überlegenheitsglauben zu zementieren! (Ich sollte jetzt Kultur und Technik nicht darauf reduzieren, war aber nahe dran..)
Was wird jemand in zweitausend Jahren finden? Können wir uns wohl kaum vorstellen. Vielleicht wird er obigen Eintrag ergooglet haben? Vielleicht ist das digitale schon ausradiert oder auch das Bewusstsein hat schon den Schritt auf Siliziumchips getan? – Was wissen wir schon davon.
Vielen Dank für diesen kleinen Text und die Gedanken! (Die Haltung, die er zu suchen scheint, würde ich auch gerne anstreben; mit gelassener Demut unsre winzigste Endlichkeit ertragen?)
@Phorkyas
Nein, der ist je nur eine Spielart davon (Die Ablehnung Fremder aufgrund ihrer Nationalität bzw. der höheren Gewichtung der eigenen) . Ich kann aber Fremdheit ablehnen ohne Chauvinist zu sein. Es ist sicherlich eine Grundverfasstheit, dass wir Fremdheit gegenüber zuerst einmal mit Distanz begegnen (als mögliches evolutionäres Erbe verständlich, die wichtige Frage ist: Wie handelt man weiter?).
Was wir tun, ist, dass wir aus bestimmten Differenzen Schlüsse ziehen und sie bewerten. Das ist lückenhaft, vor allem was die Gedankenwelt betrifft.
@metepsilonema: Deine Unterscheidung lässt sich wohl anbringen. Ob sie hier auch anzuwenden ist, ist mir aber nicht klar. Im Text las sich das schon so, als würden wir uns selbst gerade (und vermutlich jede Epoche für sich) als die höchstentwickelte Kultur ansehen, obwohl wir was unsere Empfindungs-Erfahrungs-Erkenntniswelt angeht uns so sehr vom »primitiven« Neandertaler gar nicht unterscheiden. – Insbesondere eine, die größte?, Konstante im menschlichen Erleben bleibt: das Erfahren der eigenen Endlichkeit?
(Das erscheint mir bedenkenswert. Hoffe ich deute da nicht zu fehl.)
@Phorkyas
Ich dachte mir das so: Unsere Kultur ist für uns die Vertrauteste, weil wir sie am besten kennen oder einfach Umgang mit ihr haben. Je weiter eine Kultur zeitlich entfernt liegt, desto bruchstückhafter und damit unvertrauter (seltsamer, rätselhafter, unbegreifbarer) muss sie uns erscheinen, selbst wenn sie uns tatsächlich ähnlich wäre.
Die Überlegenheit kommt, salopp formuliert, daher: Na, was haben die schon gehabt? Oder gebaut? Oder gekonnt? Nichts! Das Nichts allerdings ist auch eine Frage des Erhaltungszustandes, der Überlieferung und damit der Zeit. Bestätigt wird das dadurch, dass wir jenen Kulturen (spontan) Achtung entgegen bringen, deren gewaltige Bauwerke bis in unsere Zeit nahezu vollständig erhalten blieben (z.B. den klassischen Kulturen der Griechen, Römer, Ägypter aber auch für denen der Maya oder der Khmer). Was noch hinzukommt ist der Entwicklungs- oder Evolutionsgedanke, der nicht nur eine Veränderung über die Zeit, sondern auch eine von einfach zu komplex impliziert.
Wie sich unsere Empfindungs- Erfahrungs- oder Erkenntniswelt vom Neandertaler unterscheidet ist spekulativ (Wissenschaft gab es vermutlich noch nicht) — meinst Du nicht das Nichterfahren der Endlichkeit? Oder redet man die anderen klein um der Erfahrung zu entkommen? Bin mir nicht sicher wie Du es meinst.
Ich bemerke gerade, dass der Text einem in höchstem Maß diskriminierenden Klischee von Fitnesstrainern aufsitzt.
Vielleicht noch zur inneren Logik: Wenn schon die Trauer um die Toten archäologisch nicht plausibel erklärt werden kann, dann doch die Überlebensrate der am Schädel Operierten ebenso nicht. Oder? Da holpert es m.E. etwas.
Liebe Begleitschreibenbegleiter, herzlichen Dank für die positiven Rückmeldungen und Denkanstösse! Ich wollte mich eigentlich ganz aus der Diskussion heraushalten (auch in der Erwartung, dass es keine geben würde), denn keinesfalls möchte ich meine eigenen Texte interpretieren, und noch weniger die Interpretation der Leser »richtigstellen«. Ich schreibe schliesslich bewusst literarische Texte, denn für Sachtexte bin ich weder qualifiziert noch begabt, obwohl mir die meiste »papierne« Inspiration aus Sachtexten zufliegt.
Der prähistorische Mensch, und ganz besonders der Neanderthaler, liegt mir am Herzen. Rein intuitiv zwar, aber jedesmal, wenn ein neues Forschungsergebnis auftaucht, der ihn »rehabilitert«, breche ich in Jubel aus, à la »ich habs längst gewusst!«. Wenn ich mich recht erinnere, ist inzwischen die Meinung revidiert, dass der Neanderthaler wegen seines anatomisch anderen Kehlkopfes unfähig war, eine komplexe Sprache zu entwickeln. Lange Zeit galt es als als extrem unwahrscheinlich bis unmöglich, dass sich Sapiens und Neanderthaler vermischt hätten – kürzlich wurde anhand genetischer Analysen bewiesen, dass alle Europäer und Asiaten 1–4% »Neanderthalergenetik« in sich tragen (»Ich habs längst gewusst!!« – Ich spüre es bei jedem simplen Waldspaziergang). Wie unser letzter Bruder – an den uns ansonsten nur noch Enkidu, Abel, Sasquatch und Yeti erinnern, und von dem ich garantiert in Zukunft noch viel erzählen will – gedacht und gefühlt hat: das kann ich träumen, intuieren, erraten, erinnern vielleicht sogar, mehr natürlich nicht.
Mich beschäftigen Fragen wie z.B. die »Verteilung« der »Gehirne«, versuche mir auszumalen, wie ein Mensch denkt, der ein wesentlich entwickelteres Kleinhirn besitzt als wir. Manche (Esoteriker, alternative Wissenschaftler, Edelschundliteraten -> z.B. Jean Auel) vermuten, dass Neanderthaler beispielsweise telepathisch so locker kommunizieren konnten wie wir per Mail. Das Gehirn eines Taxifahrers in einer Megametropole nähert sich mit seinem hypertrophen Hippocampus (auf Kosten anderer Gehirnregionen) dem Neanderthaler, ein absurdes Gedächtnis.
Es heisst, der Neanderthaler sei untergegangen, weil er hunderttausende von Jahren bei seiner immergleichen Lebensweise blieb, wenig innovativ und anpassungsfähig war. Was, wenn das seine Stärke gewesen wäre, und wir uns gerade wegen unserer Innovations- und Anpassungsfähigkeit in die evolutive Sackgasse manövrieren? Dass wir es länger machen als er, das müssen wir noch eine ganze Weile lang beweisen. Les jeux ne sont pas encore faits, aber unsere Siegesgewissheit ist stossend und muss (literarisch zumindest) radikal in Frage gestellt werden.
Einige Dinge jedoch sind belegt: dass die Schädeltrepanation im Neolithikum (Sapiens, klar) gang und gäbe war, ist erwiesen. Im Wallis z.B. hat man eine Art »Spezialklinik« ausgegraben, offenbar sind Scharen von Leidenden dahin gereist, um sich von renommierten Chirurgen die Birne eröffnen zu lassen. Dass die Patienten wesentlich öfter überlebt haben als heute, ist ebenso erwiesen. Anhand der Schädelfunde kann man ersehen, wie lange ein Patient nach einer Operation ungefähr noch gelebt hat, denn der Knochen regeneriert sich nach einem Eingriff. Man weiss natürlich nicht, WIE so ein Patient weitergelebt hat; vielleicht dement, und/oder unter schrecklichen Schmerzen, wohl möglich. Ich habe dazu viel gelesen, Vorträge besucht und mit Anthropologen diskutiert. Wenn ich dagegen sage »50% vs. 90%« ist das literarische Freiheit. Ich glaube, das so gelesen und notiert zu haben. Wann und wo dagegen weiss ich nicht mehr, es gelingt mir nie, die Notizen so zu ordnen, dass ich sie wiederfinde. Also nehme ich mir einige Freiheit heraus.
Eine mögliche Quelle ist mir gerade gegenwärtig, weil ich dieses Buch schon lange wiederlesen wollte: Richard Rudley, »Lost Civilisations of the Stone Age«, meine Ausgabe erschien bei Arrows, 1998.
Oh, und nichts gegen Fitnesstrainer, solang ich sie nicht anfassen muss! Ich meine keineswegs, dass ein Fitnesstrainer dumm geboren wird und nur deshalb Muskeln aufbauen muss. Ich meine aber wohl, dass, wer so viel Zeit allein in das Erscheinungsbild seiner Hülle investiert, einerseits nicht viel Ehrgeiz, Vision oder andere Talente hat, und andererseits leichtsinnig seine angeborene Intelligenz aufs Spiel setzt. So wie schöne Blondinen nicht dumm sind, aber durchaus dumm werden, wenn sie morgens eine Stunde Zeit im Bad vertrödeln. Aber da bin ich wohl ein militanter Extremist, womöglich hat das alles einen geheimen Sinn, der sich mir nur nicht erschliesst. Vielleicht weil ich Männer mit einem Geniesserschmerbauch und Raucherhusten attraktiver finde als gürkleinfressende Muskelgebirge (MAMMUTfressende Jäger wären was anderes!!), und weil ich zwar auf schöne Frauen neidisch bin, aber mich selbst in Faserpelz doch noch schöner finde als eine aufgedonnerte Naturschönheit. Der Neanderthaler in mir!!
Und zu weiter oben noch: wie wärs denn einfach mit Xenophobie, geht das nicht für alles?
Herrjeh, vielleicht ist das jetzt länger als der ursprüngliche Text. Wenn ich denn einmal anfange, kann ich einfach mein Wasser nicht halten.
Grüsse herzlich zur Nacht.
Ich finde den Begriff »Alienismus« viel zu harmlos, viel zu verharmlosend. Bei mir klingt sofort die vage Übertragung ins Englische mit: alienation, Entfremdung. Von dem Begriff wird ja so gerne Gebrauch gemacht: Die (Post)Moderne entfremdet, Kapital entfremdet; wir haben uns von unserer Geschichte entfremdet; wir sind grundsätzlich fremd, anders, alien, ohne letztendlichen Zugang zu uns selbst und der Welt. Die in diesem Sinn kursierenden Interpretationen von »Entfremdung« hinterlassen in mir allerdings eine relativ weite Leere; das Wort ist in meinen Augen inzwischen ein kulturwissenschaftlich-abstrakter Begriff, der unser Handeln, und vor allem: die Ausmaße unseres Handelns, kaum fasst. Ich habe den Eindruck, er steht inzwischen als Synonym für eine Art postmoderner Melancholie ein, mit der wir fassungslos vor unserer Geschichte und unserem Wesen stehen: Es gibt nichts, wie Walter Benjamin es formuliert hat, kein Dokument unserer sogenannten Kultur, das nicht auch eins unserer Barbarei wäre. 360 Grad Fassungslosigkeit, aus der Adornos Lehrsatz rührt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Wir leben also wie falsche Fuffziger, uns vor uns selbst unsere eigene Blödheit und Barbarei ausblendend. Wir tun ja weitaus mehr als aus bestimmten Differenzen Schlüsse ziehen und sie bewerten: Wir handeln nach unseren »Entschlüssen«, und gestalten – verunstalten – uns die Welt nach ihnen, ganz »rational« und technisch berechnet. Eine »Vergeumstaltung«, die sowohl orts- als auch zeitenweise maßlos gewalttätig ist. Und dann steht man da, wenn man feinfühlig ist, mit dieser unheimlichen, entwöhnenden Frage: ob wir uns [nicht vielleicht] gerade wegen unserer Innovations- und Anpassungsfähigkeit in die evolutive Sackgasse manövrieren?. Ich finde, sie beantwortet sich ganz von selbst. Mensch kann nicht aus der Geschichte lernen, wenn er sich stets vor sie stellt, sich ihr voranstellt. Dann steht er nämlich da, der Zukunft den Rücken gekehrt, während der Trümmerhaufen vor [ihm] zum Himmel wächst.
Lieber Lyam, ich glaube wir sind da Opfer von Assoziationen in unterschiedlichen Kontexten. Der Begriff des Alienismus war so ernst nicht gemeint, ich wollte da ein wenig an den sehr humorvollen Beitrag andocken, was anscheinend misslungen ist.
Nichtsdestotrotz halte ich die Abwehr und die Bekämpfung von Fremdem für einen ganz wesentlichen Hintergrund von Chauvinismus und Rassismus. Mit Entfremdung hat das m.E. nichts zu tun und über die sprachen wir doch gar nicht.
Was ich mittlerweile nicht mehr hören kann, ist der Satz von der Unmöglichkeit richtigen Lebens im falschen. Er maßt sich nämlich an, im Sinne eigener Überzeugungen, Ideen und Überlegungen für andere zu sprechen.
Differenz, Schluss und Bewertung bezogen sich auf archäologische Funde, ich würde das Zitat ganz gerne in diesem Kontext belassen (auch wenn an Deiner Anmerkung ansonsten nichts auszusetzen ist).
Der Irrtum dieses Satzes: »Mensch kann nicht aus der Geschichte lernen, wenn er sich stets vor sie stellt, sich ihr voranstellt.« liegt im Singular seines Subjekts und der Enthebung aus der Zeitlichkeit. Die Menschheit ist weder eine Person, noch haben wir mit unserer Geburt alle Fehler und Versäumnisse vergangener Generationen auf den Weg bekommen. Um die Notwendigkeit von Erfahrung und Fehlern kommen wir nicht herum. Auch um unser evolutionäres Erbe nicht. Das soll keine Ausrede sein, ist vielleicht aber eine Erklärung.
Was ich mittlerweile nicht mehr hören kann, ist der Satz von der Unmöglichkeit richtigen Lebens im falschen.
Das geht mir ähnlich.
@Ursula
Literarisch ist die Freiheit völlig in Ordnung. Logisch ist es aber unstimmig (als Argument gebraucht). Ich stelle einmal die beiden Passagen untereinander:
»Vermutlich hatten die Neanderthaler eine Vorstellung vom Jenseits, wenn auch eine primitive, aber sie trauerten nicht so wie wir um ihre Toten«, wird grossgekotzt daherinterpretiert. Das soll man angeblich aus Ocker und Blütenblättern in Gräbern ablesen können, soso. und:
Im Neolithikum war die Schädeltrepanation gang und gäbe, ärztliche Routine geradezu; über 90% der Patienten überlebten den Eingriff, heutzutage sind es nur gute 50%.
Wenn die Trauer um die Toten nicht belegt werden kann, warum dann die Überlebensrate, frage ich mich als Leser. Wenn die Archäologie im ersten Fall scheitert, weil sie überinterpretiert, warum nicht auch bei der Feststellung einer ebenso schwierigen Angelegenheit im zweiten? Einmal gesteht man ihr Verlässlichkeit zu, dann wieder nicht. Das meinte ich, nicht die tatsächliche Sachlage.
Die Sache mit den Fitnesstrainern war selbstverständlich nicht ernst gemeint.
Ebenfalls herzliche Grüße!
@metepsilonema: Mir erscheint das durchaus angebracht, was Lyam zu dem Text hinzuassoziiert. Irgendwie muss man die eigene Zeit doch auch zu fassen bekommen. Was natürlich reichlich schwierig ist, da wir uns mit ihr noch fortbewegen und während wir da mitfließen uns beobachten wollen. Dabei dann nicht Opfer von einer solchen Selbstüberschätzung zu werden, die das eigene Zeitalter oder die eigene Analysefähigkeit maßlos überschätzt, ist wohl schwierig. (Vielleicht sollte ich also Philosoph bleiben.)
Das mit dem richtigem im Falschen ist natürlich schon reichlich abgegriffen, aber das muss man ja nicht dem Zitat oder dem anlasten, was es zum Ausdruck bringen soll (wenn überhaupt klar ist, was das ist).
Über den Satz: »Im Neolithikum war die Schädeltrepanation gang und gäbe, ärztliche Routine geradezu; über 90% der Patienten überlebten den Eingriff, heutzutage sind es nur gute 50%« bin ich auch gestolpert und habe mich gefragt, wie man das denn wissen könne, und er hat sich auch festgesetzt (ohne dass ich dann noch wusste woher diese ominöse Information stammte) – aber zumindest erschien es mir schon plausibel, dass man das doch eher wissen könnte als die damaligen Jenseitsvorstellungen. Ein logisches Problem gibt es da doch nicht, oder? Höchstens darüber wie stichhaltig, plausibel man den Befund über die Erfolgsquote der neolithischen Schädeltrepanation hält, könnte man diskutieren.
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PS. Im Netz stieß ich auf etwas aus 2008 – hatte es schon der Kommentatorin »Tortuga« zugeschrieben, dann stand es aber doch im Artikel von Benjamin Stein:
»Eindrücklich waren die Passagen über den Dreh von “Fitzcarraldo”. Die Indianer, Menschen von derartiger Sensibilität, dass sie einander nicht einmal die Hände schütteln, sondern sie zur Begrüßung streicheln, jene Indianer erboten sich Herzog gegenüber, Kinski zu erschlagen.«
http://turmsegler.net/20080521/kinski-jesus-christus-erloeser/
– So sind sie eben die »kulturlosen Wilden« von nebenan.
@Phorkyas
Natürlich darf und soll man die eigene Zeit fassen, nur sprach ich oben nicht über sie und sehe mein Zitat daher aus dem Kontext gerissen.
Logisch insofern, weil die archäologischen Ergebnisse mal gelten dürfen und mal nicht, sie also dann angenommen werden, wenn sie für das sprechen was man bestätigen möchte. Das ist, meiner Ansicht nach, rein technisch (gestalterisch, konzeptuell) gesehen problematisch (ich kann jetzt nicht sehen, warum die Sache mit den Jenseitsvorstellungen viel unplausibler sein sollte als die andere) — gerade weil mir der Text gefällt.
@metepsilomena: meines Erachtens ist der Unterschied »Jenseitsvorstellungen« vs. Operationserfolge evident, soviel ich denn von Biologie und Medizin (aber eben nicht von Religionswissenschaft, Philosophie etc.) verstehe. Knochen hat man materiell in der Hand. Man kann ihr Alter datieren. Man kann an ihnen ersehen, ob nach einer Verletzung der Tod sofort eintrat oder der Verletzte noch weitergelebt hat, auch ungefähr abschätzen, ob das 6 Monate oder 40 Jahre dauerte. Von den Neanderthalergräbern hat man nichts als das, was als Grabstätten interpretiert wird, es könnten auch einfach Leichenhaufen sein. Sowie Anzeichen, dass irgendein Ritus stattfand, weil Reste von Ocker und Blütenblättern bei den Toten gefunden wurden. Allein schon das rein Biologische daran ist weniger eindeutig und methodisch sicher zu datieren (es ist auch älter – wie gesagt, erst der Sapiens hat operiert, der Neanderthaler aber wahrscheinlich schon Beinbrüche fachgerecht behandelt, denn auch da hat man Skelette von Menschen ausgegraben, die nach einem Femurbruch heilten und noch lange lebten). Bei den Schädeltrepanationen gibt es gegenüber Jenseitsvorstellungen anhand von mutmasslichen Begräbnisriten nichts zu interpretieren, es ist belegt – die Interpretation bezieht sich dabei einzig auf die Lebensqualität der überlebenden Patienten sowie auf die Diagnosen, die eine solche Operation angezeigt erschienen liessen. Das ist auch abenteuerlich. Aber das Physische daran lässt sich im Gegensatz zu mutmasslichen Gräbern nicht bestreiten.
Herzlich zur Nacht.
@metepsilonema: Tut mir leid meine verstreuten Einwürfe waren vielleicht nicht sehr hilfreich, weil auch schon unterstellend (dass von dir jedwede Form der Zeitdiagnostik in Abrede gestellt würde – Unsinn). Irgendwie hatte ich nur das Gefühl, dass die Diskussion noch am Text vorbeiliefe oder irgendwo ganz anders hin. Was weiß ich.
— gerade weil mir der Text gefällt.
Ob das ein Thema ist? -
(Aber ich möchte jetzt auch nichts kaputt quatschen, indem ich meine Projektionen, mein Gefallen an dem Text hier ausbreite.)
@Ursula
Ich hoffe ich bin mit diesem Detail nicht über Gebühr lästig, ich will das keinesfalls zu sehr strapazieren (gib bitte bescheid).
Ich weiß nicht, was tatsächlich über den Neandertaler bekannt ist, beim Lesen dachte ich mir: Ein Hinweis auf eine Jenseitsvorstellung ist doch eigentlich recht einfach zu erbringen: Ein Grab (oder etwas Grabähnliches), einen Toten der auf unnatürliche Weise gebettet wurde und ein paar Beigaben. Dagegen scheint mir die Aussagekraft einer Prozentangabe der Überlebensrate einer Operation aufgrund der sicherlich sehr kleinen Grundgesamtheit fragwürdig (nicht jedoch, dass es diese Operation gegeben hat).
@Phorkyas
Haben wir uns eventuell missverstanden? Ich meinte die Stelle, die Lyam aus meinem Kommentar zitierte.
Literatur ist nicht auszudisktutieren. Der Tenor dieser kleinen Erzählung liegt m. E. unter anderem in einem Unbehagen, dass der Blick von heute (und die heutig naturwissenschaftlich erhobenen Indizien) als (moralische) Bewertung der damaligen Kultur herangezogen wird. Was dann nicht bewiesen werden kann, wird entsprechend zugeordnet. Dieses Verfahren reizt dann zu einem gewissen Widerspruch, der das kritisierte Verfahren illustriert.
Es ist diese spezielle Form eines fast kolonialistischen Denkens, die der Autorin widerstrebt und das sie für sich imaginiert, d. h. sie erdenkt sich, was man beim Auffinden ihrer ‘Überreste’ denken wird, zumal sie ja heute nicht weiss, welche (moralischen) Vorstellungen später zur Beurteilung der Gesellschaft (und damit auch ihr) gelten. Daher das Schwanken: Einerseits sich sozusagen in »Pose« zu werfen – andererseits das Gefundenwerden sabotieren.
Das Archäologie eng mit kolonialem Denken verbunden war (war?) erkennt man an den bekannten Archäologen des 20. Jahrhunderts, die ihre Beute in die mitteleuropäischen Museen gebracht haben. Mit dem rechthaberischen Brustton der Überzeugung werden noch heute Ansprüche (bspw. gegenüber der Nofretete) abgeschmettert. In der Abwicklung der geräuberten Kunstwerke während der Nazi-Zeit hat man fast 60 Jahre bebraucht, um eine gewisse Sensibilität zu schaffen. Hier dauert das deutlich länger.
(Um nicht missverstanden zu werden: Das ist EIN Aspekt in dieser Erzählung.)
@Gregor
Ich würde meine Kritik so verallgemeinern, dass das eben in beiden moralischen Richtungen (positiv oder negativ) geschieht — als Grundlage dient in beiden Fällen dieselbe Wissenschaft. Die Frage ist, ob man sich damit nicht in Widersprüche verstrickt.
Ansonsten stimme ich Dir zu. Auch darin, dass Literatur nicht auszudiskutieren ist — aber nach Diskussion verlangt sie geradezu!
Natürlich ist der Satz von der Unmöglichkeit des Richtigem im Falschen für viele ausgefranst; kritischen Zeitgeist – der sich, oh Ideal, auch noch auf eine Zeitgeistdenkbewegung übertrüge – kann man aus ihm nicht mehr ableiten. Aber er verweist in die Richtung, in die zu analysieren ist: nämlich gegen die eigene, zynische, umstandsmildernde Vernunft. Und ich empfinde es durchaus so, dass diese »zynische« Vernunft mit einer wie von Ursula und Phorkyas umschriebenen Selbstüberschätzung [… einhergeht], die das eigene Zeitalter oder die eigene Analysefähigkeit maßlos überschätzt […]. Unsere Zeit ist nach wie vor durchsetzt von Tempisten und Rassisten, und der Rassist hat, wie metepsilonema ja deutlich gemacht hat, in der Tat mit dem Tempisten eines gemein, nämlich den Impuls, das Andere des Anderen krampfhaft in eine Ungleichzeitigkeit auf der Achse modern und europäisch tarierter Zeitigkeit zu übersetzen. Der Fremde lebt nicht nur nach kulturell anderen, sondern nach zeitlich längst verabschiedeten Gepflogenheiten. Eine »Anekdote«, die dieses Denken für mich präzise auf den Punkt bringt, stammt von einem indischen Schriftsteller namens Amit Chaudhuri:
I went to a Protestant school in Bombay, but the creation myth we were taught in the classroom didn’t have to do with Adam and Eve. I remember a poster on the wall when I was in the Fifth Standard, a pictorial narrative of evolution. On the extreme left, crouching low, its arms hanging near its feet, was an ape; it looked intent, like an athlete waiting for the gun to go off. The next figure rose slightly, and the one after it was more upright: it was like a slow-motion sequence of a runner in the first few seconds of a race. The pistol had been fired; the race had begun. Millisecond after millisecond, that runner – now ape, now Neanderthal – rose a little higher, and its back straightened. By the time it had reached the apogee of its height and straight-backedness, and taken a stride forward, its appearance had improved noticeably; it had become a Homo sapiens, and also, coincidentally, European. The race had been won before it had properly started.
@Lyam
Aber er verweist in die Richtung, in die zu analysieren ist: nämlich gegen die eigene, zynische, umstandsmildernde Vernunft.
Ich glaube nicht, das ist, was mich an dem Satz mittlerweile u.a. aufregt, dass man das überhaupt für alle veranschlagen kann oder darf: zynische, umstandsmildernde Vernunft. Leben die meisten nicht einfach ihr Leben? »Gedankenlos und gleichgültig«? Wäre das nicht eher die Richtung? Oder die, dass wir uns in einem System befinden, das Veränderung benötigt, während wir es tagtäglich reproduzieren und in mancherlei Hinsicht nicht einmal schlecht leben? Ich weiß es nicht...
Dass man seine Zeit oder sich selbst überschätzt ist sicherlich richtig. Vielleicht schon, weil sie lebendiger, weil sie präsent ist.
(Vorbemerkung: habe diesen Kommentar am Samstag geschrieben und konnte ihn irgendwie nicht abschicken, habe hier Funklöcher – jetzt passt er wohl überhaupt nicht mehr ins Gespräch, aber ich schwöre, ich komme nie wieder auf die Schädel zurück und bin überhaupt ganz leis.)
Indem ich mich nochmals für Eure vielfältigen und spannenden Gedanken bedanke und mich vor allem auch für die zig peinlichen Druck- und andern Fehler weiter oben entschuldige (besonders in Namen, abartig, sorry metepsilonema!) – war in Eile, stund was auf dem Herd! -, ziehe ich mich wohl doch inelegant zurück.
Ich habe tatsächlich nochmals die Notizbücher durchgebaggert, um wenigstens meine Kurzhand vom so prägenden »Schädelvortrag« wiederzufinden, in der Hoffnung auf ein paar Zahlen. Aber wie immer, ich habe keine Zahlen aufgeschrieben, sondern die nutzlosen, erdenschönen Details. Wörter wie »Schädelschwarte«, Formulierungen wie »ein Friedhof, der nur 50 Jahre in Betrieb war« und Lebenshilfe des gutgelaunten Referenten. Bsp.: Man vermutet, dass Trepanationen auch bei Indikationen wie »spiritueller Verstopfung« vorgenommen wurden. Der Mann warnte also: »Spirituelle Öffnung ist an sich eine gute Sache, aber bitte bitte tun Sie es nicht mittels Trepanation!« (... da er uns ja sozusagen auch eine Do-it-yourself-Anleitung an die Hand gab, man weiss wirklich nie.)
Später hatte ich noch einigen Mailverkehr, dieser ist unauffindbar, wohl einer Aufräumaktion zum Opfer gefallen, inkl. pdfs, die ich erhielt – schade, Schande.
Das waren Leute von hier: http://web.archive.org/web/20160304095412/http://www.nmb.bs.ch/forschung/forschung-geowissenschaften/projekt-trepanation.htm
Leider scheint die erwähnte Publikation nirgends online verfügbar zu sein, und besonders diese Steinzeitklinik im Wallis kann ich nirgends finden. Der Vortrag war 2009, also mit aktuelleren und vor allem zahlreicheren Daten (und ich mixe dann fröhlich mit weiteren sinnlosen Details aus anderen Quellen usw., welche Freude!). Einmal mehr ergebe ich mich in wissenschaftlicher Hinsicht demütig und wünsche frohe Woche!
(...bzw. rückwirkend: frohes Wochenende!)