Die ar­chäo­lo­gi­sche Ob­ses­si­on

Ge­fun­den wer­den

        Die ar­chäo­lo­gi­sche Ob­ses­si­on er­klä­re ich mir so: sie ist die Sehn­sucht, end­lich al­les hin­ter sich zu ha­ben, Jahr­tau­sen­de zwi­schen der pein­li­chen, lä­cher­li­chen, nichts­de­sto­trotz un­er­träg­li­chen Mi­se­re des So-zu-Tuns-als-ob-man-leb­te und dem of­fen­sicht­lich uner­wünschten Selbst zu wis­sen. Man wä­re dann un­er­reich­bar für die no­to­ri­schen Lebens­bejaher und die Tu-dir-was-Gu­tes-Mis­sio­na­re, so­gar wenn sie gleich im Grab ne­ben­an lä­gen. Vor al­lem wä­re der Ak­ku ih­rer Han­dies kor­ro­diert und end­lich, end­lich Ru­he.
        Dann wür­de ich viel­leicht aus­ge­gra­ben von je­man­dem, der sich für das in­ter­es­siert, was an mir am we­nig­sten wert­voll war und da­her üb­rig­blieb. Mit Samt­hand­schu­hen wür­de je­ner Je­mand mein Wert­lo­se­stes be­rüh­ren. Er wird. Er wird ein Le­ben für mich er­fin­den, das mein tat­säch­li­ches auch dann noch über­tref­fen wür­de, wenn es ein überdurchschnitt­lich schö­nes ge­we­sen wä­re. Mein Na­me wird zu­min­dest so et­was wie »XX-Prin­zes­sin« ent­hal­ten (der »XX«-Teil ist al­ler­dings un­be­re­chen­bar). Da­für wer­de ich das Glotz­ge­äu­ge an der Mu­se­ums­vi­tri­ne sto­isch über mein Ge­rip­pe er­ge­hen las­sen; im Le­ben gab es durch­aus Blö­de­res zu er­tra­gen.
        Der Ar­chäo­lo­ge wird mich fin­den, wie mich kein Zeit­ge­nos­se je­mals fin­den könn­te. Er wird glück­lich sein über das We­ni­ge, das ich noch sein wer­de, an­statt nur Unzulänglich­keiten zu be­män­geln an dem be­trächt­li­chen Hau­fen di­ver­sen Ma­te­ri­als und Fein­stoffs, der ich le­bend bin.
        Mei­ne ein­zi­ge Ar­beit be­steht dar­in, her­aus­zu­fin­den, wo­hin ich mich le­gen muss, da­mit er mich fin­den wird. Ein paar Jahr­hun­der­te oder Jahr­tau­sen­de kön­nen die To­po­gra­phie ziem­lich ver­än­dern, es kommt al­so dar­auf an, in der rich­ti­gen geo­lo­gi­schen Schicht zu ex­pi­rie­ren. Wenn ich manch­mal ei­nen Zwei­fel schie­be, dann die­sen: ich bin mir nicht ganz si­cher, ob ich ge­fun­den wer­den will. Es soll nur vor­erst ein­mal ein­fach ir­gend­wie auf­hö­ren.

9. Ja­nu­ar 2009

Nein, fin­den

        Sich in ei­ne geo­lo­gi­sche Schicht le­gen, um von ei­nem Ar­chäo­lo­gen des 4. Jahr­tau­sends aus­ge­locht zu wer­den, so ein Quatsch! Ich le­ge mich bis auf wei­te­res nir­gend­wo so zu­kunftsgerichtet hin. Die Zu­kunft in­ter­es­siert mich näm­lich ei­nen Feuch­ten. Sie ist ja gar nie. Im­mer ist ir­gend­wie ein­fach nur Jetzt, egal wie blöd man tut, es ist zweck­los voraus­zuhalsen. Zu­kunft lang­weilt des­halb der­ma­ssen, weil sie so be­lie­big ist. Wir wis­sen nur, dass wir B sa­gen, weil wir A ge­sagt ha­ben, und nichts ist so span­nend wie sich durch das Ge­strüpp ein­ge­tre­te­ner Mög­lich­kei­ten zu­rück­zu­schla­gen, von Sin­gu­la­ri­tät zu Sin­gu­la­ri­tät der Ge­schich­te rück­wärts zu hüp­fen, um her­aus­zu­fin­den, was ge­nau A war, und auf wel­chen Schling­pfa­den wir nach B ge­rie­ten. Der Zeit­ort, die Ort­zeit, an dem, zu der, Z A in den Schwanz beisst, ist de­ter­mi­niert, nicht aber das Ge­schlän­gel dort­hin. Es könn­te sein, dass wir so­eben T sa­gen.
        Es gras­siert üb­ri­gens nicht nur Ras­sis­mus (ho­ri­zon­tal, räum­lich), son­dern auch Tem­pis­mus (ver­ti­kal, zeit­lich). Die mei­sten Heu­ti­gen hal­ten die Men­schen vor uns für düm­mer als sich selbst. Je län­ger vor uns je­mand leb­te, für um­so blö­der hält man ihn, so wie der Ras­sis­mus sich am hef­tig­sten äu­ssert ge­gen den, der am wei­te­sten weg wohnt (und we­he, er be­wegt sich in die Nä­he!). So wie et­wa in Do­ku­men­tar­fil­men so­ge­nann­te »Natur­völker« als kind­lich und na­iv dar­ge­stellt wer­den, so ge­schieht es auch an den Altvor­deren. Ne­an­der­tha­ler sind ver­klei­de­te Fit­ness­trai­ner, de­nen man Kau­gum­mi auf die Braue und Schwei­ne­bor­sten auf den Rücken klebt, und die dann ver­trot­telt und grun­zend aus der Höh­le auf die Ka­me­ra zu­höl­zeln. – »Ver­mut­lich hat­ten die Ne­an­der­tha­ler ei­ne Vor­stel­lung vom Jen­seits, wenn auch ei­ne pri­mi­ti­ve, aber sie trau­er­ten nicht so wie wir um ih­re To­ten«, wird gross­ge­kotzt da­her­in­ter­pre­tiert. Das soll man an­geb­lich aus Ocker und Blü­ten­blät­tern in Grä­bern ab­le­sen kön­nen, so­so. Die Ne­an­der­tha­ler wa­ren MENSCHEN. Sie leb­ten un­ter an­de­ren Um­welt­be­din­gun­gen, aber mit den glei­chen Her­zen und See­len. Ihr Ge­hirn war grö­sser als un­se­res.
        Im Neo­li­thi­kum war die Schä­del­t­re­pan­a­ti­on gang und gä­be, ärzt­li­che Rou­ti­ne gerade­zu; über 90% der Pa­ti­en­ten über­leb­ten den Ein­griff, heut­zu­ta­ge sind es nur gu­te 50%. Von den frü­hen Hoch­kul­tu­ren brau­chen wir gar nicht erst zu re­den. Das Er­stau­nen über ih­re Er­run­gen­schaf­ten ist be­frem­dend und bleibt ar­ro­gant, denn es wird stets mit die­sem Un­ter­ton ge­äu­ssert: »Die hat­ten so­gar schon ...!« (»...ob­wohl sie doch noch nicht so ge­scheit wa­ren wie wir!«, denkt, wer so spricht).
        Die ar­chäo­lo­gi­sche Ob­ses­si­on er­klä­re ich mir so: ich will die To­ten fin­den, ih­nen mei­ne Re­ve­renz er­wei­sen und ih­nen Lö­cher in den Bauch fra­gen. Wir ha­ben mit je­dem Schritt mehr Ge­päck ver­lo­ren, als wir un­ter­wegs stän­dig auf­ga­beln. Es ist zwar pu­ber­tär zu glau­ben, dass wir uns der­zeit eher auf­wickeln denn ent­wickeln, aber ich glau­be es trotz­dem. Ei­ni­ges war frü­her be­stimmt bes­ser (an­de­res nicht). Ich will es ja auch nicht rein­stallieren, aber ich will es be­trach­ten bis mir schwind­lig wird. Ich möch­te in der kol­lek­ti­ven Er­in­ne­rung schwim­men. Und na­tür­lich mit den Hun­nen rei­ten, aber wer woll­te das nicht.

10. Ja­nu­ar 2009

Ad­den­dum: er­fin­den

        In­zwi­schen ha­be ich wei­te­re drei Jah­re über die­se Fra­ge nach­ge­dacht – na­tür­lich nicht nur über die­se Fra­ge, und na­tür­lich ha­be ich nicht nur nach­ge­dacht – und kom­me zum vor­läu­fi­gen Schluss, dass ich doch lie­ber ge­fun­den wür­de, oder zu­min­dest keins von bei­dem. Pas­siv kommt mir zu­pass, von zwei Mög­lich­kei­ten soll­te man im­mer die we­ni­ger schweiss­trei­ben­de wäh­len. Mein Le­ben aber er­fin­de ich selbst, ge­mein­sam mit den­je­ni­gen, die mich be­reits ge­fun­den ha­ben. Er­zäh­len wer­de ich es nie­man­dem, und die Öf­fent­lich­keit im 4. Jahr­tau­send darf die XX-Prin­zes­sin dann gern für dumm hal­ten. Sie war es näm­lich, bis auf die Kno­chen!

15. Fe­bru­ar 2012


© Ur­su­la Ti­mea Ros­sel, 2009/12.


23 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ach – die Er­lö­sungs­sehn­süch­te: heim­su­chend, aber nicht heim­ge­sucht wer­den wol­lend.

    Ein wirk­lich gran­dio­ser Text! Dan­ke für die Schmunz­ler! (Gibt’s noch wei­te­re nach­zu­le­sen??)

  2. Ein sehr schö­ner Text. Der in­ter­es­san­te­ste Ge­dan­ke für mich:

    Es gras­siert üb­ri­gens nicht nur Ras­sis­mus (ho­ri­zon­tal, räum­lich), son­dern auch Tem­pis­mus (ver­ti­kal, zeit­lich). Die mei­sten Heu­ti­gen hal­ten die Men­schen vor uns für düm­mer als sich selbst. Je län­ger vor uns je­mand leb­te, für um­so blö­der hält man ihn, so wie der Ras­sis­mus sich am hef­tig­sten äu­ssert ge­gen den, der am wei­te­sten weg wohnt (und we­he, er be­wegt sich in die Nä­he!).

  3. @Köppnick

    Ich weiß nicht ob es den Aus­druck of­fi­zi­ell gibt, aber spon­tan wür­de ich die Ge­mein­sam­keit von Tem­pis­mus und Ras­sis­mus im Ali­e­nis­mus zu­sam­men­fas­sen (von ali­e­nus, fremd).

  4. @Lyam
    Die Au­torin hat auf ih­rer Kryp­to­geo­gra­phie-Web­sei­te zu ih­rem wirk­lich fa­mo­sen Buch »Man neh­me Sil­ber und Knob­lauch, Er­de und Salz« ei­ni­ge wun­der­ba­re Stück­chen auf­ge­bo­ten.

    @metepsilonema
    In­ter­es­san­te Wort­schöp­fung. Al­ler­dings ist der Ter­mi­nus »Ali­en« (eng­lisch aus­ge­spro­chen) durch die Tri­vi­al­kul­tur längst an­der­wei­tig kon­no­tiert (als Wort­schöp­fung für Au­ßer­ir­di­sche). Da könn­te es schnell zu Ver­wechs­lun­gen kom­men.

  5. @metepsilonema: Reicht dann nicht ein­fach Chau­vi­nis­mus? – Viel­leicht, da den­ke ich nun schon ei­ne Wei­le drü­ber nach, ist das aber auch fast ei­ne Grund­ver­fasst­heit des Be­wusst­seins: Sich selbst im­mer­zu als Kro­ne der Schöp­fung an­zu­se­hen, in­tel­li­gen­ter als all die Dös­bad­del (zeit­lich) vor und (räum­lich) ne­ben ei­nem... und welch ein Auf­wand und wel­che Mü­he da hin­ein­ge­steckt wird, die­sen Über­le­gen­heits­glau­ben zu ze­men­tie­ren! (Ich soll­te jetzt Kul­tur und Tech­nik nicht dar­auf re­du­zie­ren, war aber na­he dran..)

    Was wird je­mand in zwei­tau­send Jah­ren fin­den? Kön­nen wir uns wohl kaum vor­stel­len. Viel­leicht wird er obi­gen Ein­trag er­goo­glet ha­ben? Viel­leicht ist das di­gi­ta­le schon aus­ra­diert oder auch das Be­wusst­sein hat schon den Schritt auf Si­li­zi­um­chips ge­tan? – Was wis­sen wir schon da­von.

    Vie­len Dank für die­sen klei­nen Text und die Ge­dan­ken! (Die Hal­tung, die er zu su­chen scheint, wür­de ich auch ger­ne an­stre­ben; mit ge­las­se­ner De­mut uns­re win­zig­ste End­lich­keit er­tra­gen?)

  6. @Phorkyas
    Nein, der ist je nur ei­ne Spiel­art da­von (Die Ab­leh­nung Frem­der auf­grund ih­rer Na­tio­na­li­tät bzw. der hö­he­ren Ge­wich­tung der ei­ge­nen) . Ich kann aber Fremd­heit ab­leh­nen oh­ne Chau­vi­nist zu sein. Es ist si­cher­lich ei­ne Grund­ver­fasst­heit, dass wir Fremd­heit ge­gen­über zu­erst ein­mal mit Di­stanz be­geg­nen (als mög­li­ches evo­lu­tio­nä­res Er­be ver­ständ­lich, die wich­ti­ge Fra­ge ist: Wie han­delt man wei­ter?).

    Was wir tun, ist, dass wir aus be­stimm­ten Dif­fe­ren­zen Schlüs­se zie­hen und sie be­wer­ten. Das ist lücken­haft, vor al­lem was die Ge­dan­ken­welt be­trifft.

  7. @metepsilonema: Dei­ne Un­ter­schei­dung lässt sich wohl an­brin­gen. Ob sie hier auch an­zu­wen­den ist, ist mir aber nicht klar. Im Text las sich das schon so, als wür­den wir uns selbst ge­ra­de (und ver­mut­lich je­de Epo­che für sich) als die höchst­ent­wickel­te Kul­tur an­se­hen, ob­wohl wir was un­se­re Emp­fin­dungs-Er­fah­rungs-Er­kennt­nis­welt an­geht uns so sehr vom »pri­mi­ti­ven« Ne­an­der­ta­ler gar nicht un­ter­schei­den. – Ins­be­son­de­re ei­ne, die größ­te?, Kon­stan­te im mensch­li­chen Er­le­ben bleibt: das Er­fah­ren der ei­ge­nen End­lich­keit?
    (Das er­scheint mir be­den­kens­wert. Hof­fe ich deu­te da nicht zu fehl.)

  8. @Phorkyas
    Ich dach­te mir das so: Un­se­re Kul­tur ist für uns die Ver­trau­te­ste, weil wir sie am be­sten ken­nen oder ein­fach Um­gang mit ihr ha­ben. Je wei­ter ei­ne Kul­tur zeit­lich ent­fernt liegt, de­sto bruch­stück­haf­ter und da­mit un­ver­trau­ter (selt­sa­mer, rät­sel­haf­ter, un­be­greif­ba­rer) muss sie uns er­schei­nen, selbst wenn sie uns tat­säch­lich ähn­lich wä­re.

    Die Über­le­gen­heit kommt, sa­lopp for­mu­liert, da­her: Na, was ha­ben die schon ge­habt? Oder ge­baut? Oder ge­konnt? Nichts! Das Nichts al­ler­dings ist auch ei­ne Fra­ge des Er­hal­tungs­zu­stan­des, der Über­lie­fe­rung und da­mit der Zeit. Be­stä­tigt wird das da­durch, dass wir je­nen Kul­tu­ren (spon­tan) Ach­tung ent­ge­gen brin­gen, de­ren ge­wal­ti­ge Bau­wer­ke bis in un­se­re Zeit na­he­zu voll­stän­dig er­hal­ten blie­ben (z.B. den klas­si­schen Kul­tu­ren der Grie­chen, Rö­mer, Ägyp­ter aber auch für de­nen der Ma­ya oder der Khmer). Was noch hin­zu­kommt ist der Ent­wick­lungs- oder Evo­lu­ti­ons­ge­dan­ke, der nicht nur ei­ne Ver­än­de­rung über die Zeit, son­dern auch ei­ne von ein­fach zu kom­plex im­pli­ziert.

    Wie sich un­se­re Emp­fin­dungs- Er­fah­rungs- oder Er­kennt­nis­welt vom Ne­an­der­ta­ler un­ter­schei­det ist spe­ku­la­tiv (Wis­sen­schaft gab es ver­mut­lich noch nicht) — meinst Du nicht das Nicht­er­fah­ren der End­lich­keit? Oder re­det man die an­de­ren klein um der Er­fah­rung zu ent­kom­men? Bin mir nicht si­cher wie Du es meinst.

    Ich be­mer­ke ge­ra­de, dass der Text ei­nem in höch­stem Maß dis­kri­mi­nie­ren­den Kli­schee von Fit­ness­trai­nern auf­sitzt.

    Viel­leicht noch zur in­ne­ren Lo­gik: Wenn schon die Trau­er um die To­ten ar­chäo­lo­gisch nicht plau­si­bel er­klärt wer­den kann, dann doch die Über­le­bens­ra­te der am Schä­del Ope­rier­ten eben­so nicht. Oder? Da hol­pert es m.E. et­was.

  9. Lie­be Be­gleit­schrei­ben­be­glei­ter, herz­li­chen Dank für die po­si­ti­ven Rück­mel­dun­gen und Denk­an­stö­sse! Ich woll­te mich ei­gent­lich ganz aus der Dis­kus­si­on her­aus­hal­ten (auch in der Er­war­tung, dass es kei­ne ge­ben wür­de), denn kei­nes­falls möch­te ich mei­ne ei­ge­nen Tex­te in­ter­pre­tie­ren, und noch we­ni­ger die In­ter­pre­ta­ti­on der Le­ser »rich­tig­stel­len«. Ich schrei­be schliess­lich be­wusst li­te­ra­ri­sche Tex­te, denn für Sach­tex­te bin ich we­der qua­li­fi­ziert noch be­gabt, ob­wohl mir die mei­ste »pa­pier­ne« In­spi­ra­ti­on aus Sach­tex­ten zu­fliegt.

    Der prä­hi­sto­ri­sche Mensch, und ganz be­son­ders der Ne­an­der­tha­ler, liegt mir am Her­zen. Rein in­tui­tiv zwar, aber je­des­mal, wenn ein neu­es For­schungs­er­geb­nis auf­taucht, der ihn »re­ha­bi­li­tert«, bre­che ich in Ju­bel aus, à la »ich habs längst ge­wusst!«. Wenn ich mich recht er­in­ne­re, ist in­zwi­schen die Mei­nung re­vi­diert, dass der Ne­an­der­tha­ler we­gen sei­nes ana­to­misch an­de­ren Kehl­kopfes un­fä­hig war, ei­ne kom­ple­xe Spra­che zu ent­wickeln. Lan­ge Zeit galt es als als ex­trem un­wahr­schein­lich bis un­mög­lich, dass sich Sa­pi­ens und Ne­an­der­tha­ler ver­mischt hät­ten – kürz­lich wur­de an­hand ge­ne­ti­scher Ana­ly­sen be­wie­sen, dass al­le Eu­ro­pä­er und Asia­ten 1–4% »Ne­an­der­tha­ler­ge­netik« in sich tra­gen (»Ich habs längst ge­wusst!!« – Ich spü­re es bei je­dem simp­len Wald­spa­zier­gang). Wie un­ser letz­ter Bru­der – an den uns an­son­sten nur noch En­kidu, Abel, Sas­quatch und Ye­ti er­in­nern, und von dem ich ga­ran­tiert in Zu­kunft noch viel er­zäh­len will – ge­dacht und ge­fühlt hat: das kann ich träu­men, in­tu­ie­ren, er­ra­ten, er­in­nern viel­leicht so­gar, mehr na­tür­lich nicht.
    Mich be­schäf­ti­gen Fra­gen wie z.B. die »Ver­tei­lung« der »Ge­hir­ne«, ver­su­che mir aus­zu­ma­len, wie ein Mensch denkt, der ein we­sent­lich ent­wickel­te­res Klein­hirn be­sitzt als wir. Man­che (Eso­te­ri­ker, al­ter­na­ti­ve Wis­sen­schaft­ler, Edel­schund­li­te­ra­ten -> z.B. Jean Au­el) ver­mu­ten, dass Ne­an­der­tha­ler bei­spiels­wei­se te­le­pa­thisch so locker kom­mu­ni­zie­ren konn­ten wie wir per Mail. Das Ge­hirn ei­nes Ta­xi­fah­rers in ei­ner Me­ga­me­tro­po­le nä­hert sich mit sei­nem hy­per­tro­phen Hip­po­cam­pus (auf Ko­sten an­de­rer Ge­hirn­re­gio­nen) dem Ne­an­der­tha­ler, ein ab­sur­des Ge­dächt­nis.
    Es heisst, der Ne­an­der­tha­ler sei un­ter­ge­gan­gen, weil er hun­dert­tau­sen­de von Jah­ren bei sei­ner im­mer­glei­chen Le­bens­wei­se blieb, we­nig in­no­va­tiv und an­pas­sungs­fä­hig war. Was, wenn das sei­ne Stär­ke ge­we­sen wä­re, und wir uns ge­ra­de we­gen un­se­rer In­no­va­tions- und An­pas­sungs­fä­hig­keit in die evo­lu­ti­ve Sack­gas­se ma­nö­vrie­ren? Dass wir es län­ger ma­chen als er, das müs­sen wir noch ei­ne gan­ze Wei­le lang be­wei­sen. Les jeux ne sont pas en­co­re faits, aber un­se­re Sie­ges­ge­wiss­heit ist sto­ssend und muss (li­te­ra­risch zu­min­dest) ra­di­kal in Fra­ge ge­stellt wer­den.

    Ei­ni­ge Din­ge je­doch sind be­legt: dass die Schä­del­t­re­pan­a­ti­on im Neo­li­thi­kum (Sa­pi­ens, klar) gang und gä­be war, ist er­wie­sen. Im Wal­lis z.B. hat man ei­ne Art »Spe­zi­al­kli­nik« aus­ge­gra­ben, of­fen­bar sind Scha­ren von Lei­den­den da­hin ge­reist, um sich von re­nom­mier­ten Chir­ur­gen die Bir­ne er­öff­nen zu las­sen. Dass die Pa­ti­en­ten we­sent­lich öf­ter über­lebt ha­ben als heu­te, ist eben­so er­wie­sen. An­hand der Schä­del­fun­de kann man er­se­hen, wie lan­ge ein Pa­ti­ent nach ei­ner Ope­ra­ti­on un­ge­fähr noch ge­lebt hat, denn der Kno­chen re­ge­ne­riert sich nach ei­nem Ein­griff. Man weiss na­tür­lich nicht, WIE so ein Pa­ti­ent wei­ter­ge­lebt hat; viel­leicht de­ment, und/oder un­ter schreck­li­chen Schmer­zen, wohl mög­lich. Ich ha­be da­zu viel ge­le­sen, Vor­trä­ge be­sucht und mit An­thro­po­lo­gen dis­ku­tiert. Wenn ich da­ge­gen sa­ge »50% vs. 90%« ist das li­te­ra­ri­sche Frei­heit. Ich glau­be, das so ge­le­sen und no­tiert zu ha­ben. Wann und wo da­ge­gen weiss ich nicht mehr, es ge­lingt mir nie, die No­ti­zen so zu ord­nen, dass ich sie wie­der­fin­de. Al­so neh­me ich mir ei­ni­ge Frei­heit her­aus.
    Ei­ne mög­li­che Quel­le ist mir ge­ra­de ge­gen­wär­tig, weil ich die­ses Buch schon lan­ge wie­der­le­sen woll­te: Ri­chard Rud­ley, »Lost Ci­vi­li­sa­ti­ons of the Stone Age«, mei­ne Aus­ga­be er­schien bei Ar­rows, 1998.

    Oh, und nichts ge­gen Fit­ness­trai­ner, so­lang ich sie nicht an­fas­sen muss! Ich mei­ne kei­nes­wegs, dass ein Fit­ness­trai­ner dumm ge­bo­ren wird und nur des­halb Mus­keln auf­bau­en muss. Ich mei­ne aber wohl, dass, wer so viel Zeit al­lein in das Er­schei­nungs­bild sei­ner Hül­le in­ve­stiert, ei­ner­seits nicht viel Ehr­geiz, Vi­si­on oder an­de­re Ta­len­te hat, und an­de­rer­seits leicht­sin­nig sei­ne an­ge­bo­re­ne In­tel­li­genz aufs Spiel setzt. So wie schö­ne Blon­di­nen nicht dumm sind, aber durch­aus dumm wer­den, wenn sie mor­gens ei­ne Stun­de Zeit im Bad ver­trö­deln. Aber da bin ich wohl ein mi­li­tan­ter Ex­tre­mist, wo­mög­lich hat das al­les ei­nen ge­hei­men Sinn, der sich mir nur nicht er­schliesst. Viel­leicht weil ich Män­ner mit ei­nem Ge­nie­sser­schmer­bauch und Rau­cher­hu­sten at­trak­ti­ver fin­de als gür­klein­fres­sen­de Mus­kel­ge­bir­ge (MAM­MUT­fres­sen­de Jä­ger wä­ren was an­de­res!!), und weil ich zwar auf schö­ne Frau­en nei­disch bin, aber mich selbst in Fa­ser­pelz doch noch schö­ner fin­de als ei­ne auf­ge­don­ner­te Na­tur­schön­heit. Der Ne­an­der­tha­ler in mir!!

    Und zu wei­ter oben noch: wie wärs denn ein­fach mit Xe­no­pho­bie, geht das nicht für al­les?
    Herr­jeh, viel­leicht ist das jetzt län­ger als der ur­sprüng­li­che Text. Wenn ich denn ein­mal an­fan­ge, kann ich ein­fach mein Was­ser nicht hal­ten.

    Grü­sse herz­lich zur Nacht.

  10. Ich fin­de den Be­griff »Ali­e­nis­mus« viel zu harm­los, viel zu ver­harm­lo­send. Bei mir klingt so­fort die va­ge Über­tra­gung ins Eng­li­sche mit: ali­enati­on, Ent­frem­dung. Von dem Be­griff wird ja so ger­ne Ge­brauch ge­macht: Die (Post)Moderne ent­frem­det, Ka­pi­tal ent­frem­det; wir ha­ben uns von un­se­rer Ge­schich­te ent­frem­det; wir sind grund­sätz­lich fremd, an­ders, ali­en, oh­ne letzt­end­li­chen Zu­gang zu uns selbst und der Welt. Die in die­sem Sinn kur­sie­ren­den In­ter­pre­ta­tio­nen von »Ent­frem­dung« hin­ter­las­sen in mir al­ler­dings ei­ne re­la­tiv wei­te Lee­re; das Wort ist in mei­nen Au­gen in­zwi­schen ein kul­tur­wis­sen­schaft­lich-ab­strak­ter Be­griff, der un­ser Han­deln, und vor al­lem: die Aus­ma­ße un­se­res Han­delns, kaum fasst. Ich ha­be den Ein­druck, er steht in­zwi­schen als Syn­onym für ei­ne Art post­mo­der­ner Me­lan­cho­lie ein, mit der wir fas­sungs­los vor un­se­rer Ge­schich­te und un­se­rem We­sen ste­hen: Es gibt nichts, wie Wal­ter Ben­ja­min es for­mu­liert hat, kein Do­ku­ment un­se­rer so­ge­nann­ten Kul­tur, das nicht auch eins un­se­rer Bar­ba­rei wä­re. 360 Grad Fas­sungs­lo­sig­keit, aus der Ador­nos Lehr­satz rührt: Es gibt kein rich­ti­ges Le­ben im fal­schen.

    Wir le­ben al­so wie fal­sche Fuff­zi­ger, uns vor uns selbst un­se­re ei­ge­ne Blöd­heit und Bar­ba­rei aus­blen­dend. Wir tun ja weit­aus mehr als aus be­stimm­ten Dif­fe­ren­zen Schlüs­se zie­hen und sie be­wer­ten: Wir han­deln nach un­se­ren »Ent­schlüs­sen«, und ge­stal­ten – ver­un­stal­ten – uns die Welt nach ih­nen, ganz »ra­tio­nal« und tech­nisch be­rech­net. Ei­ne »Ver­geum­stal­tung«, die so­wohl orts- als auch zei­ten­wei­se maß­los ge­walt­tä­tig ist. Und dann steht man da, wenn man fein­füh­lig ist, mit die­ser un­heim­li­chen, ent­wöh­nen­den Fra­ge: ob wir uns [nicht viel­leicht] ge­ra­de we­gen un­se­rer In­no­va­tions- und An­pas­sungs­fä­hig­keit in die evo­lu­ti­ve Sack­gas­se ma­nö­vrie­ren?. Ich fin­de, sie be­ant­wor­tet sich ganz von selbst. Mensch kann nicht aus der Ge­schich­te ler­nen, wenn er sich stets vor sie stellt, sich ihr vor­an­stellt. Dann steht er näm­lich da, der Zu­kunft den Rücken ge­kehrt, wäh­rend der Trüm­mer­hau­fen vor [ihm] zum Him­mel wächst.

  11. Lie­ber Lyam, ich glau­be wir sind da Op­fer von As­so­zia­tio­nen in un­ter­schied­li­chen Kon­tex­ten. Der Be­griff des Ali­e­nis­mus war so ernst nicht ge­meint, ich woll­te da ein we­nig an den sehr hu­mor­vol­len Bei­trag an­docken, was an­schei­nend miss­lun­gen ist.

    Nichts­de­sto­trotz hal­te ich die Ab­wehr und die Be­kämp­fung von Frem­dem für ei­nen ganz we­sent­li­chen Hin­ter­grund von Chau­vi­nis­mus und Ras­sis­mus. Mit Ent­frem­dung hat das m.E. nichts zu tun und über die spra­chen wir doch gar nicht.

    Was ich mitt­ler­wei­le nicht mehr hö­ren kann, ist der Satz von der Un­mög­lich­keit rich­ti­gen Le­bens im fal­schen. Er maßt sich näm­lich an, im Sin­ne ei­ge­ner Über­zeu­gun­gen, Ideen und Über­le­gun­gen für an­de­re zu spre­chen.

    Dif­fe­renz, Schluss und Be­wer­tung be­zo­gen sich auf ar­chäo­lo­gi­sche Fun­de, ich wür­de das Zi­tat ganz ger­ne in die­sem Kon­text be­las­sen (auch wenn an Dei­ner An­mer­kung an­son­sten nichts aus­zu­set­zen ist).

    Der Irr­tum die­ses Sat­zes: »Mensch kann nicht aus der Ge­schich­te ler­nen, wenn er sich stets vor sie stellt, sich ihr vor­an­stellt.« liegt im Sin­gu­lar sei­nes Sub­jekts und der Ent­he­bung aus der Zeit­lich­keit. Die Mensch­heit ist we­der ei­ne Per­son, noch ha­ben wir mit un­se­rer Ge­burt al­le Feh­ler und Ver­säum­nis­se ver­gan­ge­ner Ge­ne­ra­tio­nen auf den Weg be­kom­men. Um die Not­wen­dig­keit von Er­fah­rung und Feh­lern kom­men wir nicht her­um. Auch um un­ser evo­lu­tio­nä­res Er­be nicht. Das soll kei­ne Aus­re­de sein, ist viel­leicht aber ei­ne Er­klä­rung.

  12. @Ursula
    Li­te­ra­risch ist die Frei­heit völ­lig in Ord­nung. Lo­gisch ist es aber un­stim­mig (als Ar­gu­ment ge­braucht). Ich stel­le ein­mal die bei­den Pas­sa­gen un­ter­ein­an­der:

    »Ver­mut­lich hat­ten die Ne­an­der­tha­ler ei­ne Vor­stel­lung vom Jen­seits, wenn auch ei­ne pri­mi­ti­ve, aber sie trau­er­ten nicht so wie wir um ih­re To­ten«, wird gross­ge­kotzt da­her­in­ter­pre­tiert. Das soll man an­geb­lich aus Ocker und Blü­ten­blät­tern in Grä­bern ab­le­sen kön­nen, so­so. und:

    Im Neo­li­thi­kum war die Schä­del­t­re­pan­a­ti­on gang und gä­be, ärzt­li­che Rou­ti­ne gerade­zu; über 90% der Pa­ti­en­ten über­leb­ten den Ein­griff, heut­zu­ta­ge sind es nur gu­te 50%.

    Wenn die Trau­er um die To­ten nicht be­legt wer­den kann, war­um dann die Über­le­bens­ra­te, fra­ge ich mich als Le­ser. Wenn die Ar­chäo­lo­gie im er­sten Fall schei­tert, weil sie über­in­ter­pre­tiert, war­um nicht auch bei der Fest­stel­lung ei­ner eben­so schwie­ri­gen An­ge­le­gen­heit im zwei­ten? Ein­mal ge­steht man ihr Ver­läss­lich­keit zu, dann wie­der nicht. Das mein­te ich, nicht die tat­säch­li­che Sach­la­ge.

    Die Sa­che mit den Fit­ness­trai­nern war selbst­ver­ständ­lich nicht ernst ge­meint.

    Eben­falls herz­li­che Grü­ße!

  13. @metepsilonema: Mir er­scheint das durch­aus an­ge­bracht, was Lyam zu dem Text hin­zu­as­so­zi­iert. Ir­gend­wie muss man die ei­ge­ne Zeit doch auch zu fas­sen be­kom­men. Was na­tür­lich reich­lich schwie­rig ist, da wir uns mit ihr noch fort­be­we­gen und wäh­rend wir da mit­flie­ßen uns be­ob­ach­ten wol­len. Da­bei dann nicht Op­fer von ei­ner sol­chen Selbst­über­schät­zung zu wer­den, die das ei­ge­ne Zeit­al­ter oder die ei­ge­ne Ana­ly­se­fä­hig­keit maß­los über­schätzt, ist wohl schwie­rig. (Viel­leicht soll­te ich al­so Phi­lo­soph blei­ben.)
    Das mit dem rich­ti­gem im Fal­schen ist na­tür­lich schon reich­lich ab­ge­grif­fen, aber das muss man ja nicht dem Zi­tat oder dem an­la­sten, was es zum Aus­druck brin­gen soll (wenn über­haupt klar ist, was das ist).
    Über den Satz: »Im Neo­li­thi­kum war die Schä­del­t­re­pan­a­ti­on gang und gä­be, ärzt­li­che Rou­ti­ne gerade­zu; über 90% der Pa­ti­en­ten über­leb­ten den Ein­griff, heut­zu­ta­ge sind es nur gu­te 50%« bin ich auch ge­stol­pert und ha­be mich ge­fragt, wie man das denn wis­sen kön­ne, und er hat sich auch fest­ge­setzt (oh­ne dass ich dann noch wuss­te wo­her die­se omi­nö­se In­for­ma­ti­on stamm­te) – aber zu­min­dest er­schien es mir schon plau­si­bel, dass man das doch eher wis­sen könn­te als die da­ma­li­gen Jen­seits­vor­stel­lun­gen. Ein lo­gi­sches Pro­blem gibt es da doch nicht, oder? Höch­stens dar­über wie stich­hal­tig, plau­si­bel man den Be­fund über die Er­folgs­quo­te der neo­li­thi­schen Schä­del­t­re­pan­a­ti­on hält, könn­te man dis­ku­tie­ren.

    _________________
    PS. Im Netz stieß ich auf et­was aus 2008 – hat­te es schon der Kom­men­ta­to­rin »Tor­tu­ga« zu­ge­schrie­ben, dann stand es aber doch im Ar­ti­kel von Ben­ja­min Stein:

    »Ein­drück­lich wa­ren die Pas­sa­gen über den Dreh von “Fitz­car­ral­do”. Die In­dia­ner, Men­schen von der­ar­ti­ger Sen­si­bi­li­tät, dass sie ein­an­der nicht ein­mal die Hän­de schüt­teln, son­dern sie zur Be­grü­ßung strei­cheln, je­ne In­dia­ner er­bo­ten sich Her­zog ge­gen­über, Kin­ski zu er­schla­gen.«
    http://turmsegler.net/20080521/kinski-jesus-christus-erloeser/
    – So sind sie eben die »kul­tur­lo­sen Wil­den« von ne­ben­an.

  14. @Phorkyas
    Na­tür­lich darf und soll man die ei­ge­ne Zeit fas­sen, nur sprach ich oben nicht über sie und se­he mein Zi­tat da­her aus dem Kon­text ge­ris­sen.

    Lo­gisch in­so­fern, weil die ar­chäo­lo­gi­schen Er­geb­nis­se mal gel­ten dür­fen und mal nicht, sie al­so dann an­ge­nom­men wer­den, wenn sie für das spre­chen was man be­stä­ti­gen möch­te. Das ist, mei­ner An­sicht nach, rein tech­nisch (ge­stal­te­risch, kon­zep­tu­ell) ge­se­hen pro­ble­ma­tisch (ich kann jetzt nicht se­hen, war­um die Sa­che mit den Jen­seits­vor­stel­lun­gen viel un­plau­si­bler sein soll­te als die an­de­re) — ge­ra­de weil mir der Text ge­fällt.

  15. @metepsilomena: mei­nes Er­ach­tens ist der Un­ter­schied »Jen­seits­vor­stel­lun­gen« vs. Ope­ra­ti­ons­er­fol­ge evi­dent, so­viel ich denn von Bio­lo­gie und Me­di­zin (aber eben nicht von Re­li­gi­ons­wis­sen­schaft, Phi­lo­so­phie etc.) ver­ste­he. Kno­chen hat man ma­te­ri­ell in der Hand. Man kann ihr Al­ter da­tie­ren. Man kann an ih­nen er­se­hen, ob nach ei­ner Ver­let­zung der Tod so­fort ein­trat oder der Ver­letz­te noch wei­ter­ge­lebt hat, auch un­ge­fähr ab­schät­zen, ob das 6 Mo­na­te oder 40 Jah­re dau­er­te. Von den Ne­an­der­tha­ler­grä­bern hat man nichts als das, was als Grab­stät­ten in­ter­pre­tiert wird, es könn­ten auch ein­fach Lei­chen­hau­fen sein. So­wie An­zei­chen, dass ir­gend­ein Ri­tus statt­fand, weil Re­ste von Ocker und Blü­ten­blät­tern bei den To­ten ge­fun­den wur­den. Al­lein schon das rein Bio­lo­gi­sche dar­an ist we­ni­ger ein­deu­tig und me­tho­disch si­cher zu da­tie­ren (es ist auch äl­ter – wie ge­sagt, erst der Sa­pi­ens hat ope­riert, der Ne­an­der­tha­ler aber wahr­schein­lich schon Bein­brü­che fach­ge­recht be­han­delt, denn auch da hat man Ske­let­te von Men­schen aus­ge­gra­ben, die nach ei­nem Fe­mur­bruch heil­ten und noch lan­ge leb­ten). Bei den Schä­del­t­re­pan­a­tio­nen gibt es ge­gen­über Jen­seits­vor­stel­lun­gen an­hand von mut­mass­li­chen Be­gräb­nis­ri­ten nichts zu in­ter­pre­tie­ren, es ist be­legt – die In­ter­pre­ta­ti­on be­zieht sich da­bei ein­zig auf die Le­bens­qua­li­tät der über­le­ben­den Pa­ti­en­ten so­wie auf die Dia­gno­sen, die ei­ne sol­che Ope­ra­ti­on an­ge­zeigt er­schie­nen lie­ssen. Das ist auch aben­teu­er­lich. Aber das Phy­si­sche dar­an lässt sich im Ge­gen­satz zu mut­mass­li­chen Grä­bern nicht be­strei­ten.

    Herz­lich zur Nacht.

  16. @metepsilonema: Tut mir leid mei­ne ver­streu­ten Ein­wür­fe wa­ren viel­leicht nicht sehr hilf­reich, weil auch schon un­ter­stel­lend (dass von dir jed­we­de Form der Zeit­dia­gno­stik in Ab­re­de ge­stellt wür­de – Un­sinn). Ir­gend­wie hat­te ich nur das Ge­fühl, dass die Dis­kus­si­on noch am Text vor­bei­lie­fe oder ir­gend­wo ganz an­ders hin. Was weiß ich.

    — ge­ra­de weil mir der Text ge­fällt.
    Ob das ein The­ma ist? -
    (Aber ich möch­te jetzt auch nichts ka­putt quat­schen, in­dem ich mei­ne Pro­jek­tio­nen, mein Ge­fal­len an dem Text hier aus­brei­te.)

  17. @Ursula
    Ich hof­fe ich bin mit die­sem De­tail nicht über Ge­bühr lä­stig, ich will das kei­nes­falls zu sehr stra­pa­zie­ren (gib bit­te be­scheid).

    Ich weiß nicht, was tat­säch­lich über den Ne­an­der­ta­ler be­kannt ist, beim Le­sen dach­te ich mir: Ein Hin­weis auf ei­ne Jen­seits­vor­stel­lung ist doch ei­gent­lich recht ein­fach zu er­brin­gen: Ein Grab (oder et­was Grab­ähn­li­ches), ei­nen To­ten der auf un­na­tür­li­che Wei­se ge­bet­tet wur­de und ein paar Bei­ga­ben. Da­ge­gen scheint mir die Aus­sa­ge­kraft ei­ner Pro­zent­an­ga­be der Über­le­bens­ra­te ei­ner Ope­ra­ti­on auf­grund der si­cher­lich sehr klei­nen Grund­ge­samt­heit frag­wür­dig (nicht je­doch, dass es die­se Ope­ra­ti­on ge­ge­ben hat).

    @Phorkyas
    Ha­ben wir uns even­tu­ell miss­ver­stan­den? Ich mein­te die Stel­le, die Lyam aus mei­nem Kom­men­tar zi­tier­te.

  18. Li­te­ra­tur ist nicht aus­zu­disk­tu­tie­ren. Der Te­nor die­ser klei­nen Er­zäh­lung liegt m. E. un­ter an­de­rem in ei­nem Un­be­ha­gen, dass der Blick von heu­te (und die heu­tig na­tur­wis­sen­schaft­lich er­ho­be­nen In­di­zi­en) als (mo­ra­li­sche) Be­wer­tung der da­ma­li­gen Kul­tur her­an­ge­zo­gen wird. Was dann nicht be­wie­sen wer­den kann, wird ent­spre­chend zu­ge­ord­net. Die­ses Ver­fah­ren reizt dann zu ei­nem ge­wis­sen Wi­der­spruch, der das kri­ti­sier­te Ver­fah­ren il­lu­striert.

    Es ist die­se spe­zi­el­le Form ei­nes fast ko­lo­nia­li­sti­schen Den­kens, die der Au­torin wi­der­strebt und das sie für sich ima­gi­niert, d. h. sie er­denkt sich, was man beim Auf­fin­den ih­rer ‘Über­re­ste’ den­ken wird, zu­mal sie ja heu­te nicht weiss, wel­che (mo­ra­li­schen) Vor­stel­lun­gen spä­ter zur Be­ur­tei­lung der Ge­sell­schaft (und da­mit auch ihr) gel­ten. Da­her das Schwan­ken: Ei­ner­seits sich so­zu­sa­gen in »Po­se« zu wer­fen – an­de­rer­seits das Ge­fun­den­wer­den sa­bo­tie­ren.

    Das Ar­chäo­lo­gie eng mit ko­lo­nia­lem Den­ken ver­bun­den war (war?) er­kennt man an den be­kann­ten Ar­chäo­lo­gen des 20. Jahr­hun­derts, die ih­re Beu­te in die mit­tel­eu­ro­päi­schen Mu­se­en ge­bracht ha­ben. Mit dem recht­ha­be­ri­schen Brust­ton der Über­zeu­gung wer­den noch heu­te An­sprü­che (bspw. ge­gen­über der No­fre­te­te) ab­ge­schmet­tert. In der Ab­wick­lung der ge­räu­ber­ten Kunst­wer­ke wäh­rend der Na­zi-Zeit hat man fast 60 Jah­re be­braucht, um ei­ne ge­wis­se Sen­si­bi­li­tät zu schaf­fen. Hier dau­ert das deut­lich län­ger.

    (Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: Das ist EIN Aspekt in die­ser Er­zäh­lung.)

  19. @Gregor
    Ich wür­de mei­ne Kri­tik so ver­all­ge­mei­nern, dass das eben in bei­den mo­ra­li­schen Rich­tun­gen (po­si­tiv oder ne­ga­tiv) ge­schieht — als Grund­la­ge dient in bei­den Fäl­len die­sel­be Wis­sen­schaft. Die Fra­ge ist, ob man sich da­mit nicht in Wi­der­sprü­che ver­strickt.

    An­son­sten stim­me ich Dir zu. Auch dar­in, dass Li­te­ra­tur nicht aus­zu­dis­ku­tie­ren ist — aber nach Dis­kus­si­on ver­langt sie ge­ra­de­zu!

  20. Na­tür­lich ist der Satz von der Un­mög­lich­keit des Rich­ti­gem im Fal­schen für vie­le aus­ge­franst; kri­ti­schen Zeit­geist – der sich, oh Ide­al, auch noch auf ei­ne Zeit­geist­denk­be­we­gung über­trü­ge – kann man aus ihm nicht mehr ab­lei­ten. Aber er ver­weist in die Rich­tung, in die zu ana­ly­sie­ren ist: näm­lich ge­gen die ei­ge­ne, zy­ni­sche, um­stands­mil­dern­de Ver­nunft. Und ich emp­fin­de es durch­aus so, dass die­se »zy­ni­sche« Ver­nunft mit ei­ner wie von Ur­su­la und Phor­k­yas um­schrie­be­nen Selbst­über­schät­zung [… ein­her­geht], die das ei­ge­ne Zeit­al­ter oder die ei­ge­ne Ana­ly­se­fä­hig­keit maß­los über­schätzt […]. Un­se­re Zeit ist nach wie vor durch­setzt von Tem­pi­sten und Ras­si­sten, und der Ras­sist hat, wie me­tep­si­lo­n­e­ma ja deut­lich ge­macht hat, in der Tat mit dem Tem­pi­sten ei­nes ge­mein, näm­lich den Im­puls, das An­de­re des An­de­ren krampf­haft in ei­ne Un­gleich­zei­tig­keit auf der Ach­se mo­dern und eu­ro­pä­isch ta­rier­ter Zei­tig­keit zu über­set­zen. Der Frem­de lebt nicht nur nach kul­tu­rell an­de­ren, son­dern nach zeit­lich längst ver­ab­schie­de­ten Ge­pflo­gen­hei­ten. Ei­ne »An­ek­do­te«, die die­ses Den­ken für mich prä­zi­se auf den Punkt bringt, stammt von ei­nem in­di­schen Schrift­stel­ler na­mens Amit Chaud­hu­ri:

    I went to a Pro­te­stant school in Bom­bay, but the crea­ti­on myth we we­re taught in the class­room didn’t have to do wi­th Adam and Eve. I re­mem­ber a po­ster on the wall when I was in the Fifth Stan­dard, a pic­to­ri­al nar­ra­ti­ve of evo­lu­ti­on. On the ex­tre­me left, crou­ch­ing low, its arms han­ging ne­ar its feet, was an ape; it loo­ked in­tent, li­ke an ath­le­te wai­ting for the gun to go off. The next fi­gu­re ro­se slight­ly, and the one af­ter it was mo­re up­right: it was li­ke a slow-mo­ti­on se­quence of a run­ner in the first few se­conds of a race. The pi­stol had be­en fired; the race had be­gun. Mil­li­se­cond af­ter mil­li­se­cond, that run­ner – now ape, now Ne­an­der­thal – ro­se a litt­le hig­her, and its back straigh­ten­ed. By the time it had re­a­ched the apo­gee of its height and straight-backed­ness, and ta­ken a stri­de for­ward, its ap­pear­ance had im­pro­ved no­ti­ce­ab­ly; it had be­co­me a Ho­mo sa­pi­ens, and al­so, co­in­ci­den­tal­ly, Eu­ro­pean. The race had be­en won be­fo­re it had pro­per­ly star­ted.

  21. @Lyam

    Aber er ver­weist in die Rich­tung, in die zu ana­ly­sie­ren ist: näm­lich ge­gen die ei­ge­ne, zy­ni­sche, um­stands­mil­dern­de Ver­nunft.

    Ich glau­be nicht, das ist, was mich an dem Satz mitt­ler­wei­le u.a. auf­regt, dass man das über­haupt für al­le ver­an­schla­gen kann oder darf: zy­ni­sche, um­stands­mil­dern­de Ver­nunft. Le­ben die mei­sten nicht ein­fach ihr Le­ben? »Ge­dan­ken­los und gleich­gül­tig«? Wä­re das nicht eher die Rich­tung? Oder die, dass wir uns in ei­nem Sy­stem be­fin­den, das Ver­än­de­rung be­nö­tigt, wäh­rend wir es tag­täg­lich re­pro­du­zie­ren und in man­cher­lei Hin­sicht nicht ein­mal schlecht le­ben? Ich weiß es nicht...

    Dass man sei­ne Zeit oder sich selbst über­schätzt ist si­cher­lich rich­tig. Viel­leicht schon, weil sie le­ben­di­ger, weil sie prä­sent ist.

  22. (Vor­be­mer­kung: ha­be die­sen Kom­men­tar am Sams­tag ge­schrie­ben und konn­te ihn ir­gend­wie nicht ab­schicken, ha­be hier Funk­lö­cher – jetzt passt er wohl über­haupt nicht mehr ins Ge­spräch, aber ich schwö­re, ich kom­me nie wie­der auf die Schä­del zu­rück und bin über­haupt ganz leis.)

    In­dem ich mich noch­mals für Eu­re viel­fäl­ti­gen und span­nen­den Ge­dan­ken be­dan­ke und mich vor al­lem auch für die zig pein­li­chen Druck- und an­dern Feh­ler wei­ter oben ent­schul­di­ge (be­son­ders in Na­men, ab­ar­tig, sor­ry me­tep­si­lo­n­e­ma!) – war in Ei­le, stund was auf dem Herd! -, zie­he ich mich wohl doch in­e­le­gant zu­rück.
    Ich ha­be tat­säch­lich noch­mals die No­tiz­bü­cher durch­ge­bag­gert, um we­nig­stens mei­ne Kurz­hand vom so prä­gen­den »Schä­del­vor­trag« wie­der­zu­fin­den, in der Hoff­nung auf ein paar Zah­len. Aber wie im­mer, ich ha­be kei­ne Zah­len auf­ge­schrie­ben, son­dern die nutz­lo­sen, er­den­schö­nen De­tails. Wör­ter wie »Schä­del­schwar­te«, For­mu­lie­run­gen wie »ein Fried­hof, der nur 50 Jah­re in Be­trieb war« und Le­bens­hil­fe des gut­ge­laun­ten Re­fe­ren­ten. Bsp.: Man ver­mu­tet, dass Tre­pan­a­tio­nen auch bei In­di­ka­tio­nen wie »spi­ri­tu­el­ler Ver­stop­fung« vor­ge­nom­men wur­den. Der Mann warn­te al­so: »Spi­ri­tu­el­le Öff­nung ist an sich ei­ne gu­te Sa­che, aber bit­te bit­te tun Sie es nicht mit­tels Tre­pan­a­ti­on!« (... da er uns ja so­zu­sa­gen auch ei­ne Do-it-yours­elf-An­lei­tung an die Hand gab, man weiss wirk­lich nie.)
    Spä­ter hat­te ich noch ei­ni­gen Mail­ver­kehr, die­ser ist un­auf­find­bar, wohl ei­ner Auf­räum­ak­ti­on zum Op­fer ge­fal­len, inkl. pdfs, die ich er­hielt – scha­de, Schan­de.

    Das wa­ren Leu­te von hier: http://web.archive.org/web/20160304095412/http://www.nmb.bs.ch/forschung/forschung-geowissenschaften/projekt-trepanation.htm
    Lei­der scheint die er­wähn­te Pu­bli­ka­ti­on nir­gends on­line ver­füg­bar zu sein, und be­son­ders die­se Stein­zeit­kli­nik im Wal­lis kann ich nir­gends fin­den. Der Vor­trag war 2009, al­so mit ak­tu­el­le­ren und vor al­lem zahl­rei­che­ren Da­ten (und ich mi­xe dann fröh­lich mit wei­te­ren sinn­lo­sen De­tails aus an­de­ren Quel­len usw., wel­che Freu­de!). Ein­mal mehr er­ge­be ich mich in wis­sen­schaft­li­cher Hin­sicht de­mü­tig und wün­sche fro­he Wo­che!
    (...bzw. rück­wir­kend: fro­hes Wo­chen­en­de!)