Chri­stoph Pe­ters: Der Sand­ka­sten

Christoph Peters: Der Sandkasten

Chri­stoph Pe­ters:
Der Sand­ka­sten

9. No­vem­ber 2020. Deutsch­land steht vor ei­nem neu­en, wo­mög­lich »har­ten« Lock­down und in den USA wur­de ge­ra­de ein neu­er Prä­si­dent ge­wählt. Kurt Sie­ben­städ­ter ist 51 Jah­re alt, lebt in Ber­lin und mo­de­riert dort ei­ne po­li­ti­sche Ra­dio­sen­dung ei­nes öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­ders am frü­hen Mor­gen. Sei­ne Ehe­frau Ire­ne ist Leh­re­rin, 13 Jah­re jün­ger (die Toch­ter No­ra ist eben­so alt). Das ist das Set­ting in Chri­stoph Pe­ters’ neu­em Ro­man »Der Sand­ka­sten«.

Sie­ben­städ­ter sieht sei­ne jour­na­li­sti­sche Pflicht dar­in, al­len Prot­ago­ni­sten die gleich­gro­ße Di­stanz ent­ge­gen­zu­brin­gen. Er be­zeich­net sich als Skep­ti­ker, wi­der­spricht aus Prin­zip, weil »erst aus der Kon­tro­ver­se Er­kennt­nis­ge­winn ent­steht«. Er ist ein Ver­fech­ter ei­nes brei­ten Mei­nungs­spek­trums, und ver­sucht gleich­zei­tig »Phra­sen­dre­scher, aal­glat­te Ver­bands­spre­cher, schmie­ri­ge Sport­funk­tio­nä­re mit Hin­ter­hal­ten, Pro­vo­ka­tio­nen aus der Re­ser­ve zu locken, ih­nen kla­re, am be­sten ent­lar­ven­de Ant­wor­ten zu bren­nen­den, heik­len oder auch ein­fach be­lang­lo­sen The­men zu ent­locken« und dies un­ab­hän­gig von zeit­geist­ab­hän­gi­gen Mo­den. Sei­ne Te­le­fon­in­ter­views sind ge­fürch­tet. Wie ein Cha­mä­le­on ist er in der La­ge, die an­de­re po­li­ti­sche Po­si­ti­on als die sei­nes je­wei­li­gen Ge­sprächs­part­ners an­zu­neh­men und in boh­ren­de, mit­un­ter grenz­wer­ti­ge Fra­gen zu ver­wan­deln.

Es gab im­mer Ge­gen­wind, Pro­te­ste ge­gen sei­nen Stil, von al­len Sei­ten, je nach­dem, wer sich an­ge­gan­gen fühl­te. Aber mit dem In­ter­net hat­te dies noch ein­mal ei­ne an­de­re Di­men­si­on an­ge­nom­men. Er be­merkt ak­tu­ell hin­sicht­lich der Pan­de­mie-Be­richt­erstat­tung ge­wis­se re­dak­tio­nel­le Zwän­ge; es »bro­delt«. Sein per­fekt gen­dern­der Vor­ge­setz­ter (der äl­ter ist als er) warnt ihn: »Da sind di­ver­se Leu­te, die fin­den, dass du mit dei­nen An­mo­de­ra­tio­nen, aber auch bei den Fra­gen im­mer häu­fi­ger Gren­zen über­schrei­test, die im öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk nicht über­schrit­ten wer­den soll­ten.« Und »je nach­dem, wer wo was auf­greift, bist du in­ner­halb von zwei, drei Ta­gen weg vom Fen­ster.« Sie­ben­städ­ter hör­te dies kurz zu­vor auch aus der po­li­ti­schen Ecke.

Er merkt: »Das Ri­tu­al war ver­braucht, er war ver­braucht«. Er hat­te längst »sämt­li­che Fra­gen im Zu­sam­men­hang mit der ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wahl mit Po­li­ti­kern jed­we­der Cou­leur durch­ge­kaut, wie im Üb­ri­gen auch je­de The­se hin­sicht­lich des Co­ro­na­vi­rus, es gab kei­nen Aspekt des Is­lam, den er nicht mit Dut­zen­den Ge­sprächs­part­nern be­spro­chen hat­te, kein Fra­ge­par­ti­kel, das er nicht in al­len Va­ri­an­ten schon Tau­sen­de Ma­le aus sei­nem ei­ge­nen Mund ge­hört hat­te. Ganz gleich, was er sag­te, es klang, als äff­te er sich sel­ber nach.«

Na­tür­lich ist Sie­ben­städ­ter in den Ber­li­ner Po­lit­kos­mos ein­ge­bun­den. Er hat in al­len Par­tei­en Po­li­ti­ker, die ihn mit (schein­ba­ren) In­si­der-In­for­ma­tio­nen ver­sor­gen – na­tür­lich nicht oh­ne Hin­ter­ge­dan­ken. So er­hält er von ei­ner So­zi­al­de­mo­kra­tin die In­for­ma­ti­on, dass der Ge­sund­heits­mi­ni­ster vor sei­ner Co­ro­na-In­fek­ti­on und vor dem Lock­down ein Spen­den­din­ner ver­an­stal­tet ha­be. Die­ser Roh­stoff müss­te re­cher­chiert wer­den. Aber Sie­ben­städ­ter ist eher dar­an in­ter­es­siert, ei­ne Af­fä­re mit die­ser Frau an­zu­fan­gen, die auch nicht ab­ge­neigt zu sein scheint.

Über­haupt ar­ran­giert Chri­stoph Pe­ters al­les, um sei­ne Haupt­fi­gur als rück­wärts­ge­wand­ten, se­xi­sti­schen Zy­ni­ker dar­zu­stel­len. Ver­mut­lich soll da­mit beim Le­ser ei­ne Am­bi­va­lenz er­zeugt wer­den, denn was könn­te man sich jour­na­li­stisch ei­gent­lich mehr wün­schen als ei­nen Skep­ti­ker wie Sie­ben­städ­ter, der sich mit nichts und nie­man­den ge­mein macht? Wer wür­de ei­nen sol­chen Fra­ger nicht lie­bend ger­ne ge­gen die be­stehen­den Talk­show­kas­per ein­tau­schen wol­len? Aber um den Jour­na­li­sten Sie­ben­städ­ter nicht als Hel­den dar­zu­stel­len, muss er mensch­lich als zwie­lich­ti­ge Fi­gur dar­ge­stellt wer­den. Da­bei ar­ran­giert Pe­ters auch noch die Ent­frem­dung sei­ner Haupt­fi­gur von sei­ner Frau und der pu­ber­tie­ren­den Toch­ter, die mit Be­grif­fen wie »to­xi­sche Männ­lich­keit« jon­gliert aber gleich­zei­tig ei­nen Schü­ler­aus­tausch in den USA be­an­tra­gen möch­te, was Sie­ben­städ­ters lin­ken An­ti­ame­ri­ka­nis­mus aus­bre­chen lässt.

Und da­mit kommt man zu dem gro­ßen Di­lem­ma des Ro­mans. Der Wolf­gang-Koep­pen-Preis­trä­ger des Jah­res 2018 hat be­wusst mit »Der Sand­ka­sten« ei­ne Trans­for­ma­ti­on von Koep­pens »Das Treib­haus« ge­schrie­ben, was sich schon im Ti­tel zeigt – einst »Treib­haus«, heu­te »Sand­ka­sten«. Wäh­rend in den 1950er Jah­ren der ein­sti­ge Wi­der­stands­kämp­fer und dann ins Par­la­ment ge­wähl­te SPD-Ab­ge­ord­ne­te Kee­ten­heuve mit sei­nen po­li­ti­schen Idea­len an den Ab­grün­den der Bon­ner Re­al­po­li­tik der Bun­des­re­pu­blik schei­ter­te wird heu­te, sieb­zig Jah­re spä­ter, ein Jour­na­list zum Prot­ago­ni­sten ei­nes Ro­mans, der den ak­tu­el­len Po­li­tik­be­trieb nur halb­wegs leid­lich und fi­nan­zi­ell ab­ge­si­chert über­ste­hen möch­te.

Na­tür­lich kom­men die Sand­ka­sten­spie­le des »Treib­haus Ber­lin« vor. Der Le­ser wird mit der Su­che nach den Re­al­na­men der pseud­ony­mi­sier­ten Prot­ago­ni­sten bei Lau­ne ge­hal­ten. Sie sind al­ler­dings leicht zu iden­ti­fi­zie­ren; der ob­li­ga­to­ri­sche Dis­clai­mer zu Be­ginn des Bu­ches ist Pflicht­übung. Ei­ne Wen­dung scheint ein­zu­tre­ten, als Sie­ben­städ­ter vom Par­tei­chef der li­be­ra­len Par­tei ge­gen die Ver­dopp­lung sei­nes bis­he­ri­gen Ge­halts ein An­ge­bot zum Pres­se­spre­cher der Par­tei er­hält. Die Aus­sicht, »sich von ei­ner de­mo­kra­tisch ein­wand­frei­en Kli­en­tel­par­tei mit be­trächt­li­chen fi­nan­zi­el­len Mög­lich­kei­ten kau­fen zu las­sen«, schreckt ihn nicht ab; er bit­tet sich Be­denk­zeit aus.

Pe­ters nimmt die dich­te­ri­sche Frei­heit in An­spruch, sei­ne Co­ver­ver­si­on des Klas­si­kers von Koep­pen den Ge­gen­wär­tig­kei­ten an­zu­pas­sen. Hier­zu ge­hört, dass Sie­ben­städ­ter mit dem in­tel­lek­tu­el­len Fein­geist und Cum­mings- und Bau­de­lai­re-Ver­eh­rer Kee­ten­heuve rein gar nichts ge­mein hat. Sie­ben­städ­ter ist we­der Idea­list, noch be­son­ders ge­bil­det. Sein Hau-drauf-Charme er­in­nert eher an Bar­ry Cham­plain aus »Talk-Ra­dio«.

Die vor­ge­brach­te Kri­tik am Po­li­tik­be­trieb ge­rät am En­de eher zur Pos­se. Es bleibt bei ein biss­chen Klatsch und Tratsch hier, ein we­nig Pan­de­mie- bzw. Lock­down­kri­tik dort. Da­durch stürzt die li­te­ra­ri­sche Am­bi­ti­on des Ro­mans lei­der in Rich­tung Un­ter­hal­tung ab; man kann sich gut vor­stel­len, wie ei­ne Ver­fil­mung aus­se­hen könn­te (und ahnt schon Hei­no Ferch als Sie­ben­städ­ter). Das ist da­hin­ge­hend be­dau­er­lich, weil Pe­ters mit sei­nem »Dorf­ro­man« von 2020 ei­ne fein­füh­li­ge Fa­mi­li­en­sa­ga aus der west­deut­schen Pro­vinz mit der zeit­ge­schicht­li­chen Prä­gung durch die AKW-Geg­ner­schaft (Stich­wort: »Schnel­ler Brü­ter«) über­zeu­gend ver­knüpft hat­te.

Wäh­rend Kee­ten­heu­ves Ver­zweif­lung mit gro­ßem er­zäh­le­ri­schen Atem ent­wickelt und für den Le­ser spür­bar wur­de, nimmt man Sie­ben­städ­ters Küm­mer­nis »we­gen der end­lo­sen Wie­der­ho­lung der ver­geb­li­chen Kämp­fe, in die er, wie al­le an­de­ren auch, täg­lich ver­strickt wur­de« nur als vor­über­ge­hen­de Epi­so­de wahr. So wirkt der di­rekt an Koep­pens »Treib­haus« an­ge­lehn­te Schluß über­ra­schend und ein biss­chen un­glaub­wür­dig. Am be­sten wä­re es, die Am­bi­ti­on von Chri­stoph Pe­ters schlicht­weg zu igno­rie­ren. Aber der Geist ist aus der Fla­sche.