Unlängst feierte der französische Schriftsteller Patrick Modiano seinen 80. Geburtstag. Seit Mitte der 1970er Jahren werden seine Bücher in Deutschland publiziert – in mehreren Verlagen und von einigen Übersetzern, unter anderem auch Peter Handke, der zeitweise die Modiano-Bücher nach Suhrkamp brachte, bevor sie bei Hanser und ÜbersetzerinElisabeth Edl eine Heimstatt bekommen haben. Mit den Jahrzehnten sind seine Romane zu kleinen, luftig-duftigen Erzählungen geworden, die um Erinnerung, Zäsuren und gescheiterte (oder gelungene) Lebensentwürfe kreisen. Auch im neuen Roman Die Tänzerin (wie gehabt übersetzt von Elisabeth Edl) spielt die Erinnerung und deren Unzuverlässigkeit eine wichtige, eigentlich die entscheidende Rolle. Zeit und Bilder verwischen, aber gerade hierin scheint der Reiz zu liegen, der weniger darin besteht, sich präzise zu erinnern, sondern trotz oder gerade mit den bruchstückhaften Bildern so etwas wie eine »ewige Gegenwart« zu erzeugen, wie es fast euphorisch am Ende des Buches heißt.
Es beginnt mit einem Mann, den der Ich-Erzähler zwischen all den Touristen-»Horden« in Paris zu entdecken glaubt: seinen ehemaligen Vermieter von vor 50 (oder mehr) Jahren. Leider kann sich der derart angesprochene Mann weder an ihn noch an die vorgebrachten Ereignisse erinnern, gibt ihm aber einen Zettel mit Telefonnummern und Adresse.
Kuhn/Mahler/Mittermayer: Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos
Am 27. November 1988, drei Wochen nach der skandalumtosten Premiere von Heldenplatz am Wiener Burgtheater (inszeniert vom unlängst verstorbenen Claus Peymann), flog Susanne Kuhn, geborene Fabjan, mit ihrem Halbbruder Thomas Bernhard nach Torremolinos. Von da aus ging es mit dem Taxi zum Hotel La Barracuda an die Costa del Sol. Der Rückflug für Susanne Kuhn war am 18. Dezember vorgesehen. Die genauen Reisedaten inklusive Preise kann man auf der abgedruckten Rechnung im soeben im Korrektur Verlag erschienenen Buch Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos nachlesen.
Es dauerte fast 37 Jahre bis Susanne Kuhn sich aufraffte zusammen mit dem Zeichner Nicolas Mahler und dem exzellenten Bernhard-Kenner und ‑Biografen Manfred Mittermayer dieses Erlebnis eine Form zu geben. Herausgekommen ist ein ehrlicher Text, der schnörkellos heitere und ärgerliche Momente beschreibt, illustriert in bekannter Manier von Nicolas Mahler (Thomas Bernhard mit ein bisschen an Loriot erinnernder Knollennase).Vermutlich wussten nur sehr wenige, wie krank Thomas Bernhard damals wirklich war. Er konnte z. B. nur noch im Sitzen schlafen; Susanne Kuhn musste ihm mit einer Schreibtischschublade im Rücken das Bett herrichten, damit das möglich war. Einmal konnte sie eine Atemnot Bernhards nur mit Nitroglycerin-Spray lindern. Warum diese Reise? Aus einem Bedürfnis, dem sehr kranken, aber auch immer etwas unnahbaren Bruder beizustehen? Susanne Kuhn war selber nicht gesund, hatte gerade ihre vorzeitige Rente durchbekommen, litt unter zahlreichen Ängsten und Phobien, wie etwa Flug- oder Platzangst. Als die beiden ihre Zimmer im 9. Stock zugewiesen bekommen, drängt sie für sich auf ein Zimmer auf der 2. oder maximal 3. Etage.
Da man sich noch nie derart nahe gekommen war, gab es besonders zu Beginn Spannungen und Missverständnisse. Etwa als der »passionierte Schuhkäufer« Bernhard mit ihr in ein Schuhgeschäft ging und dort auch zwei Paar Schuhe für sie kaufen wollte. Sie musste jedoch vor ihm wie auf einem Laufsteg immer wieder gehend überprüfen, ob sie auch wirklich passten. Kurz darauf erwog sie ernsthaft, vorzeitig abzureisen, blieb dann jedoch bis zum Schluss. Danach übernahm Peter Fabjan.
Es gibt auch anekdotisches vom leidenschaftlichen Überschriftenleser Thomas Bernhard (die Stöße der gekauften Zeitungen trug sie ihm hinterher). Beispielsweise über den eher unbefriedigenden Ausflug nach Gibraltar. Oder der Besuch von Jochen Jung (mit einer merkwürdigen Sitzordnung im Restaurant). Dann von Bernhards Freude mit ihr im Duett In the summertime zu singen. Oder die Schwester im 12 Grad kalten Hotelpool schwimmen zu sehen. Aus Sparsamkeitsgründen sollte sie einen öffentlichen Münzfernsprecher verwenden; das Telefon im Hotel war ihm zu teuer. Bernhard selber wartete auf einen Anruf von Siegfried Unseld. Der kam nicht. Was er wohl nicht wusste: Der war mit Peter Handke zur gleichen Zeit in Madrid.
[...weit ausholend] Niemand, der sich für zeitgenössische deutschsprachige Literatur interessiert, kam am in diesem Jahr 70 Jahre alt werdenden Hubert Winkels vorbei. Er schrieb nicht nur für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften Kritiken und Essays (vom Düsseldorfer Stadtmagazin Überblick über Tempo, stern, ZEIT, Süddeutsche Zeitung und Spiegel), sondern war mehr als 25 Jahre im Literaturressort des ...
Charlie Brown, Linus und Lucie liegen auf einem kleinen Hügel und schauen in die Wolken. Wenn man seine Vorstellungskraft bemühe, könne man, so Lucie, einiges in den Wolkengebilden erkennen. Linus sieht dann in einer Wolke die Landkarte von Britisch Honduras1. Eine andere ähnele dem Profi von Pablo Picasso. Und dahinter dann erkennt er die Steinigung des Heiligen Stephanus mit dem Apostel Paulus. Lucie lobt ihn und fragt Charlie Brown, was er so sehe. Er wollte was von Schäfchen und Pferdchen sagen, aber er lasse es dann lieber sein, meint er leicht resigniert.
Mir geht es wie Charlie Brown, ich betrachte Peter Trawnys Aschenplätze und wollte etwas über die Unterschiede zwischen Autobiographie und Autofiktion und den Authentizitätsfetisch des Feuilletons schreiben, aber ich lasse das. Denn es gibt es sehr gute, unterschiedliche und doch sich ergänzende Betrachtungen über dieses Buch von Jürgen Nielsen-Sikora und Michael Chighel. Jürgen Nielsen-Sikora lobt »Kraft, Entschlossenheit und Überwindung« des Autors, das Changieren zwischen Autobiographischem und Philosophischem. Michael Chighel deklariert es als ein jüdisches Buch, dechiffriert die verwendeten Pseudonyme der Geliebten aus der jüdisch-mystischen Kosmogonie und fragt sich, ob Trawny nicht zu weit gehe in seiner Adaption des Judentums. Was kann ich diesen beiden stupenden Deutungen noch hinzufügen?
Versetze ich mich kurz in mein kaufmännisch geprägtes, berufliches Umfeld (ich verließ es 2015), so bin ich sicher, dass Peter Trawny dort weitgehend unbekannt ist. Philosophie galt (und gilt) in diesem Milieu maximal als Steckenpferd und wird allenfalls von findigen Figuren, die sich »Coaches« nennen, als Steinbruch für Managerseminare ausgeschlachtet, die schlagworthafte Kacheln mit (moralisch daherkommenden) Handlungsanweisungen konstruieren, um Hilfestellungen bei der Unterscheidung von Gut und Böse zu geben. Die Frage, die sich also stellt, ist die nach dem Publikum für eine Autobiographie eines Philosophen, der sich schwerpunktmäßig vor allem mit Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche und, immer wieder, Georg Friedrich Wilhelm Hegel befasst (die Phänomenologie des Geistes nennt Trawny »eine Art philosophischer Bildungsroman«) und damit, wie es im Wirtschaftsdeutsch heißt, eine »Nische bedient«.
Der diesen Leuten vermutlich schwer vermittelbare Clou dieses Buches besteht darin, über den Umweg (auto-)biographischer Schilderungen eine Chance zu philosophischen Zugängen jenseits von Glückskeksweisheiten zu erhalten. Man könnte also bei der Lektüre so tun, als sei ›Peter Trawny‹ eine fiktive Figur. Die schreibt über ihr Leben, verknüpft jedoch Biographie mit philosophischen Problemstellungen. Das führt bisweilen zu Widersprüchen, die keine sind, weil den Erkenntnissen fortlaufende Erfahrungen zu Grunde liegen, die einstige Urteile nicht revidieren, sondern weiter entwickeln oder ergänzen. Stellenweise münden seine Erlebnisse in ausufernde Schilderungen, die bisweilen wie Rechtfertigungen klingen, mehr herausgearbeitet als erzählt werden. Trawny ist das bewusst, er sei kein Dichter, schreibt er und spätestens hier bekommt die Lesart als Fiktion Risse. Immerhin gelingen immer wieder gelungene (außerphilosophische) Bilder, etwa über die Erlebnisse unter Tage oder über die Musik- und Kunstszene um Wanne-Eickel der Siebzigerjahre, über die er mit wehmütiger Sympathie räsoniert.
Man sucht nach einem Begriff, mit dem adäquat beschrieben werden kann, was das neueste Buch des Literaturwissenschaftlers und Golo-Mann-Biographen Tilmann Lahme mit dem harmlosen Titel Thomas Mann ausgelöst hat. Wäre »Erdbeben« vielleicht recht? Wenn ja, welche Stärke hat dieses Beben auf der nach oben offenen Feuilleton-Skala? Dabei mutet der auf dem Cover in kleinerer Schrift gedruckte Untertitel harmlos an: »Ein Leben« steht dort. Der Verlag greift in seiner Werbung eine Spur höher und textet »Thomas Mann und sein wirkliches Leben«. Enthüllungen werden angedroht. Wer derart auftrumpft, muss liefern. Und Lahme versucht das. Sein Buch ist keine Biographie, er wiederholt nicht auf Vollständigkeit zielend die längst bekannten Daten, Fakten, Episoden und Anekdoten, Lahme liefert auch nur eher sparsame Interpretationen von Thomas Manns Prosa – und dort, wo er es macht, wird es mindestens einmal peinlich, doch dazu später.
Lahme schreibt nicht über Thomas Manns Leben, sondern vor allem über Thomas Manns Sexualleben. Er betreibt das, was Dieter Borchmeyer nicht ganz abwegig »Biographismus« nennt. Und er stellt sich diesen Exegeten mit offenem Visier entgegen. Am Ende bilanziert Lahme, dass »die im literarischen Anspielungsraum verborgene gleichgeschlechtliche Liebe bei Thomas Mann als ein wesentliches Element seiner literarischen Kunst zu betrachten« sei. Nach der Lektüre vermittelt sich einem der Eindruck, es sei DAS wesentliche Element.
Dass Thomas Mann homosexuelle Neigungen hatte, die sich in heute eher als lächerlich zu betrachtenden Schwärmereien äußerten, ist natürlich kein Geheimnis mehr. Und das er unter der zeitgemäßen Notwendigkeit, diese zu verbergen gelitten hat, ist ebenso bekannt. Aber Lahme will mit seinen Recherchen zeigen, dass die Unterdrückung der Homosexualität mehr war als nur ein sich Arrangieren mit und in den Zwängen der Gesellschaft, sondern ein lebenslanger Kampf gegen die »Hunde im Souterrain« seines Wesens, wie er seinem Freund Otto Grautoff 1896, 21jährig, in Anlehnung an eine Formulierung von Friedrich Nietzsche schrieb.
Erkundung einer zwiespältigen Eigenschaft untertitelt die renommierte österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl ihre nun in Schriftform vorgelegten Vorlesungen Zum Trotz vom November 2024. Es beginnt mit einem kurzen etymologisch-geschichtlichen Ausflug über den Begriff »Trotz«. Erst im 19. Jahrhundert veränderte sich die Bewertung und Trotz galt als eher negative Eigenschaft, besonders bei Frauen. Der Zwiespalt, der sich zwischen »kindisch« und »Movens des Widerstands« auftut, zeigt zahlreiche Facetten. Bevor die Typologie der Trotz‑, Rappel- oder Querköpfe in der Literatur (mit Seitenblicken aufs richtige Leben) erfolgt, wird die sogenannte »Trotzphase« des Kindes untersucht. Hier erlebt »das Kind den Konflikt zwischen Wollen und Können als Quelle der Frustration.« Vor einhundert Jahren wurde dieses Verhalten negativ beurteilt und mit Autorität bekämpft, inzwischen neigt man dazu, es als wichtige Entwicklung zu sehen, und empfindet neuerdings nur den Terminus als diskriminierend. Er heißt jetzt auf neukorrekt »Autonomiephase«, was Strigl kritisiert. Aber vielleicht hat »Trotz« in anderen Zusammenhängen doch etwas mit »Autonomie« zu tun?
Strigl ernennt Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas zum »Archetyp des Trotzes«. Er ist einer, der »suspekt, rechtschaffen und entsetzlich« handelt, der nicht akzeptiert, dass man ihm die beiden an der Zollstation zum Pfand übergebenen Pferde in einem erbärmlichen Zustand entschädigungslos zurückgeben will. Die Radikalisierung von Kohlhaas entwickelt sich. Die erste Stufe ist der Tod (genauer: die Tötung) seiner Frau durch die Regierungsmacht des Kurfürsts, als sie eine Bittschrift ihres Ehemanns überbringen wollte. Kohlhaas übernimmt nun das »Geschäft der Rache«, rekrutiert Söldner, wird zum Plünderer und Mordbrenner, ohne die unmittelbar Verantwortlichen direkt zu treffen. Glücklicherweise erläutert Strigl die Geschichte über das hinlänglich bekannte erste Viertel der Novelle hinaus und entwickelt die einzelnen Phasen des (juristischen) Falles und der Eskalationen. Ist doch die »weitere Handlung ist…von Hoffnungsschimmern, Beinahe-Lösungen, Umschwüngen, Zufällen, Wiederholungen und Variationen bestimmt.« Das Gespräch mit Martin Luther, der Kohlhaas ins Gewissen redet, lässt Kohlhaas innehalten. Die Angelegenheit scheint nach einigen Verhandlungen kurz vor einem halbwegs versöhnlichen Ende zu stehen, aber Kohlhaas’ Aufenthalt in Dresden wandelt sich zum Hausarrest, schließlich zur Haft. Am Ende »wird der Gerechtigkeit rundum genüge getan«. Der kleine Schönheitsfehler: Kohlhaas wird gehenkt.
Im weiteren Verlauf der Erkundungen Strigls wird Kohlhaas auch unter andere Typen des Trotzes eingeordnet. Je nach Stand der Geschichte bekommt er dann Züge des Rebellen, Terroristen, Desperados, Amokläufers oder Querulanten. Nicht immer glücken dabei die Transformationen auf Phänomene der Gegenwart. So ist es schwierig, Kohlhaas’ »Rebellion…gegen adelige Willkür«, die in Selbstjustiz und Raubzügen mündete, mit Trumps Verhalten nach der verlorenen Wahl 2020 zu vergleichen, und zu konstatieren, Trump habe mit seiner Billigung der Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 den bürgerlichen Ungehorsam in Misskredit gebracht. Trump als »trotzigen Politiker« zu bezeichnen ist ein Euphemismus, weil damit die Motive Trumps unterschätzt werden.
Brand ist der Name eines fiktiven Ortes, ein Dorf, irgendwo in der Region Hannover und es ist der Titel des ersten Romans des Schriftstellers und Essayisten Henning Ziebritzki. Es beginnt mit August, der anders ist, was der Erzähler aber schon wusste, bevor es ihm die Eltern erzählt hatten. August ist schweigsam, ein »Tach« beantwortet er entsprechend, ansonsten spricht er selten und träumt gerne. Er ist »Greis und Kind zugleich«, ein Döllmer, wie man dort sagt und das ist nicht herabsetzend gemeint, denn August hat eine wichtige Aufgabe im Dorf. Er muss im Frühling die im Winter unter dem Schnee hervorgekommenen Steine aus dem Boden heraussuchen, die ansonsten die Messer des Pflugs beschädigen könnten. Und er macht das mit Akribie und spielerischem Vergnügen zugleich, baut, wenn es gelingt, kleine Pyramiden mit den aussortierten Steinen.
Die Erzählung von Augusts Leben und Arbeiten ist das erste von elf Kapiteln dieses kleinen Büchleins mit knapp 140 Seiten. Ein namenloser Ich-Erzähler erinnert sich an seine Erinnerungen aus Kindheit und Jugend, von Mitte der 1960er Jahre an. Es ist weniger der annoncierte Roman als eine Novellensammlung.
Erzählt, ja: wieder-holt wird eine Kindheit, die tief verwurzelt ist im ländlichen Leben Mitte der 1960er Jahre. Das Jahr war noch bestimmt durch den Wechsel der Jahreszeiten. Die Jahre wurden unterteilt in »vor«, »während« und »nach« dem Krieg. Drei Generationen der Familie mütterlicherseits des Erzählers lebten im Dorf. Es gab Zeiten, als Urgroßmutter, Großmutter und Mutter zusammenarbeiteten, beispielsweise beim Ernten und Einwecken von Obst. Das Kind war entbunden vom Mithelfen, schaute zu, bekam mit etwas Glück einen Kompott nicht verwerteter Früchte.
Koń ist 45, Historiker, lebte in Warschau und wie er in der anderen Welt, »die es nicht mehr gibt«, geheißen hat, werden wir nie erfahren. Er hatte seine Wohnung der großen Schwester Ewa übergeben und war aufgebrochen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Beginn des Romans Die Nulllinie von Szczepan Twardoch zusammen mit jemandem, der Ratte gerufen wird. Den Namen kennt der aufmerksame Twardoch-Leser aus einer Reportage, die im Oktober 2023 in der NZZ erschienen war. Koń und Ratte sitzen in einem Erdloch, euphemistisch Unterstand genannt, auf der »falschen Seite« von »Vater Dnipro«, wenige Kilometer entfernt von der Nulllinie. Dort sind sie, die »Russacken«, oder, verächtlicher: »Pädorussen«. Eine Kammerspielszene zu Beginn, mit dem erzählenden Koń, dem lustlos am toten Handy daddelnden Ratte. Dem erzählt Koń von seinem Großvater, der ukrainische Wurzeln hatte und unbedingt wollte, dass der Enkel ukrainisch sprach und, der, wie sich später herausstellte, bei der SS-Galizien war. Er erzählt von seinem polnischen Vater, der sich als Europäer fühlte, die Nationalismen ablegen wollte und seiner verknöcherten Mutter. 2016 war Koń, der damals noch nicht Koń war, zum ersten Mal in der Ukraine, ein »city break« in Kiew, hier: Kyjiw (was merkwürdig ist, zwischen den Lembergs und Krakaus). Eine Stadt »wie ein Freilichtmuseum«, er schaute sich noch die Spuren vom Maidan an und machte Bekanntschaft mit einem allgegenwärtigen Nationalismus.
Wer ist hier Robert Jordan?
Später, kurz vor der Unterschrift, der Verpflichtung, wieder in Kyjiw, sah er die umtriebigen Geschäftsleute in den Luxushotels in ihren »großen, gepanzerten Land Cruisern«, während er wenig später in einem alten, klapprigen Nissan Navara zu den Stellungen fahren musste, was nicht einfach gewesen war. Vor dem Einsatz ein Besuch in einem Luxusrestaurant, das »Piccolino«, nichts Ukrainisches war hier, außer auf den Krawatten der Kellner, dort war ein »aufgesticktes Folkloremotiv« zu sehen, ansonsten blieb hier der Nationalismus, der Patriotismus, draußen und man raspelte am Tisch dem Gast den Trüffel auf das »ideal gehackte Rindfleisch«.
Und nun sitzt im anderen, im »guten Keller« dieser Stellung, Jagoda, der auch nicht Jagoda heißt, der mehrere Sprachen spricht, ein Leser, mit Kindle im Rucksack, mehrsprachig, der fünf Jahre in Berlin gelebt und studiert hatte, davor und danach dann jeweils die Verwandlung zum Krieger, inklusive dreimonatiger Gefangenschaft bei den Russen in Donezk. Jagoda ist es, der an Hemingways Wem die Stunde schlägt denkt, an Robert Jordan, der eine Brücke sprengen soll, »damit die Faschisten nicht durchkommen«. Wenigstens wäre das etwas Sinnvolles gewesen, meint er, während sie hier in einem Loch sitzen, festsitzen, nur dass »Selenskyj mit seiner Sorgenmiene im kackgrünen Hemd auf den Konferenzen davon faseln kann, dass ihr einen Brückenkopf auf dieser Seite eures Vaters Dnipro haltet, ohne genauer zu erklären, wozu das gut sein soll.«