Judith wohnte allein in einer Zweizimmerwohnung, recht geräumig für eine Studentin. Martha, ihre Freundin, ebenfalls Psychologin, übernachtete häufig bei ihr, sie wohnte bei ihren Eltern in Braunau und der letzte Zug ging früh am Abend. Wenn sie über Nacht blieb, schliefen die beiden im Doppelbett. In dieser Nacht waren wir zu dritt, Martha kuschelte sich von hinten an mich, was mein auf Judith fixiertes Begehren – »Mutterkomplex«, erklärte Martha am nächsten Morgen beim Frühstück – drosselte. »Dann bin ich auch ein Zwangscharakter?«, sagte ich mit Blick auf Judith. Diese Art Ironie, die den Sprecher vor jedem Gefühlsausdruck schützt, hatte ich von András übernommen, obwohl sie nicht recht zu mir paßte. »Du nicht«, sagte sie sanft nach einer Schweigepause, als hätte sie sich die Frage ernsthaft überlegen müssen. Sie legte mir die Hand auf den Nacken, schob sie unter das halblange Haar. Judith und Martha verheimlichten nicht, daß sie »eine Beziehung« hatten. Sie bezeichneten sich als lesbisch, aber ich glaube, das traf im eigentlichen Sinn nicht zu. (Zugegeben, ich hatte und habe keine Ahnung, worin das eigentlich Lesbische besteht; bei der männlichen Homosexualität scheint die Definition leichter zu fallen.)
Die Sitzungen der Parallelakteure wurden zäher und kürzer, nachdem András und Judith uns verlassen hatten; auch die Zahl der Teilnehmer schrumpfte. Michelangelo versuchte, die Leitung zu übernehmen. Er schlug Tagesordnungen vor, die von Franz und vom Jüngling durchkreuzt wurden. »Wir brauchen hier keinen Führer«, hörte ich einmal, während der andere zitierte: »Der Leiter ist ein Abstraktum, das sich von selbst auflöst«. In letzter Zeit hatte Michelangelo auf Vermittlung von András bzw. dessen Vater an Ausstellungen in Galerien teilnehmen können, einmal sogar während der Festspielzeit. Wenig später hatte er einen eigenen Galeristen, und er verkaufte ein paar von seinen infrarealistischen Ölgemälden zu recht guten Preisen an Sammler. Von Amerika aus hatte András sogar eine neue Kunstrichtung erfunden, den Infrarealismus, eine Art Label, unter dem Michelangelo Obermayer berühmt werden sollte. Aufs ganze, also im nachhinein, betrachtet, scheiterte das Vorhaben. Die Sammler verloren das Interesse, Michelangelo seinen Galeristen, die von ihm gemalten Bilder waren und blieben einfallslos, radikal nett auch und gerade dann, wenn sie sich um einen aggressiven – »haptischen« – Gestus bemühten. Ja, richtig, Kontrolle der Aggression war einer der Titel, die sich das Genie damals von András einflüstern ließ.