Ich habe von Kultur gesprochen. Genauer, von kulturellen Produkten als wirtschaftlichem Einsatz, Existenzgrundlage weltweit tätiger Firmen. Deshalb der Eifer und Übereifer, mit dem heute Eigentumsrechte an letztlich immateriellen Dingen wie Filme und Popsongs, Figuren und Titel, Slogans und Designs geltend gemacht werden. In unseren Köpfen hallt die Drohung, wer einen Film kopiere, werde mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Und ein Großteil der Konsumenten-Produzenten, der Nutzer und Selbstdarsteller, der Kunden und Könige macht mit beim Gezeter, »das gehört doch mir« und »ich habe dafür bezahlt« und »ich will das Geld, das mir zusteht«. Der sogenannte Neoliberalismus ist tief in die Köpfe und Herzen eingedrungen, um dort Wurzeln zu schlagen. Horkheimer und Adorno haben nicht nur unter dem Eindruck der Massenbetörung durch den Nationalsozialismus, sondern gleichzeitig unter dem nachhaltigeren Eindruck von Hollywood und dem beginnenden Fernsehen ihre Theorie von der Gleichschaltung durch die Kulturindustrie entwickelt. Die Theorie wurde in ungeahntem Ausmaß von den nach und nach geschaffenen Fakten bestätigt. Mozart und Beethoven würden von dieser Industrie allein zu Werbezwecken eingesetzt, meinten die radikalen Kritiker. Sie konnten sich vermutlich nicht vorstellen, daß man sich eines Tages in der Öffentlichkeit – und teils in privaten Haushalten – gar nicht mehr bewegen kann, ohne von akustischer Kultur, durchbrochen von Werbeslogans, umfangen zu werden. Freilich nicht von Werken Mozarts oder Beethovens, sondern von seichtester Popmusik. Einer Popmusik, die in den fünfziger und sechziger Jahren als Gegenkultur antrat, inzwischen aber nahezu restlos von der musikindustriellen Herrschaftskultur gekapert worden ist. Der visuelle Siegeszug des Fernsehens und dessen geistige Folgen wurden in den achtziger Jahren von Neil Postman beschrieben. Fernsehstationen sind seither ins Kraut geschossen, es gibt keine Sekunde am Tag, in der die Bilderflut nicht auf den Konsumenten, den User lauern würde. Die digitale Vernetzung hat die Vorherrschaft des Visuellen nur verschärft. In den Zeiten vor der Einführung der Schulpflicht und der Erfindung des Buchdrucks war die Gesellschaft in einen literaten und einen illiterate Bevölkerungsteil gespalten; die Schriftunkundigen speiste man mit Bildern ab, um ihnen die Grundlagen der Kultur im Schoße der christlichen Religion zu vermitteln. Heute wendet sich die große Bevölkerungsmehrheit wieder den Bildern zu, ohne Zwang und auch nicht, weil sie gar keine Wahl hätte, sondern weil musikalisch untermalte Bilder leichter und rascher konsumierbar sind, da sie kein intellektuelles Engagement verlangen. Bequemlichkeit über alles: wie sollen da Mut und Tätigkeitsdrang gedeihen? Touchscreens und akustische Sensoren werden die Spaltung langfristig verschärfen, Analphabetismus könnte ein echtes Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft werden. Warum lesen und schreiben, wo doch schauen, hören und berühren genügt?
Immanuel Kant hatte in seiner Schrift zur Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« den selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes als Voraussetzung für Mündigkeit und damit letztlich für Demokratie dargestellt und an die Schriftkultur gebunden. Verkümmert die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert gefestigte Schriftkultur, verkümmern Mündigkeit und Demokratie. Unmündigkeit, schlichter gesagt: Dummheit, ist mit einer gesellschaftlichen Verfassung, wie Kant und die Aufklärer sie anstrebten, nicht vereinbar. Die Kulturindustrie fördert jedoch die Unmündigkeit, indem sie nicht den Verstand, sondern ausschließlich Emotionen, Sinne und Triebe anspricht. Je stärker gewisse Triebe involviert werden, desto besser für das Geschäft. Der popkulturelle Konsumkapitalismus heutiger Tage erzeugt und fördert Süchte nicht nur in Spielhallen und in der Splatter-Abteilung der harten Drogen, sondern an allen Fronten, besonders im Netz. So sieht das vorläufige Endstadium der umfassenden »Kulturalisierung« aus, die der Entwicklung von einem auf Produktion und Arbeit, Maß und Vernunft, sozialer Disziplin und persönlicher Selbstbeherrschung orientierten Kapitalismus zu einem konsumistischen und hedonistischen, hyperaktiven und zugleich angepaßten, augenblicksverhafteten, geschichtslosen Persönlichkeitsmodell im Rahmen der postmodernen Wirtschaftsform entspricht und dient.