Vielleicht auch deshalb, weil sie Konflikte – echte Diskussionen – vermeiden wollte, oder weil sie niemanden hatte, um über persönliche Dinge zu sprechen, und ich ihr Jahrgangsvertrauen nun einmal geweckt hatte, ging sie beim nächsten Besuch im Starbucks dazu über, mir dies und jenes aus ihrem Leben zu erzählen, wobei häufig ihr Sohn eine besondere Rolle spielte, der im Zentrum ihres derzeitigen Lebens zu stehen schien. Ihr Mann arbeitete in einer anderen Stadt und kam einmal pro Monat am Wochenende nach Hause. Der Sohn, vor kurzem dreißig geworden, war krank, aber sie nannte die Krankheit nicht beim Namen. Auch von einer medizinischen Behandlung, von Arzt- oder Krankenhausbesuchen war nicht die Rede.
Es dauerte eine geraume Weile, bis zur vierten oder fünften Starbucks-Sitzung (wie ich sie insgeheim nannte), bis mir klar wurde, daß der Sohn – sie nannte ihn nie beim Namen – nie oder fast nie das Haus verliess. War er bettlägerig? Oder gelähmt? Körperlich oder geistig behindert? Nein, in Frau S.’ Erzählungen deutete nichts darauf hin. Der Sohn hatte studiert, sein Studium ordentlich abgeschlossen und danach einige Jahre in einer Firma gearbeitet. Er war Hobbys nachgegangen, hatte Freunde getroffen. Zaubern, Jonglieren, Dinge zum Verschwinden bringen, das erfreute sein Herz.
Genau so drückte sich seine Mutter aus: »Es erfreute sein Herz.« Und war tägliche Gewohnheit. Sein Zimmer war nahezu leer, die Mangas hatte er in Schachteln geräumt und zu einem Spottpreis einem Händler verkauft, weil sie ihn, wie er sagte, vom Training ablenkten. In letzter Zeit hatte er aber nachgelassen, ganze Tage vergingen, ohne daß Frau S. die Geräusche von zu Boden fallenden Kegeln oder Bällen hörte (die früher manchmal die Proteste einer Nachbarin hervorgerufen hatten). Die Tür zu seinem Zimmer verschloss er nicht, hatte sie nie verschlossen, es gab nicht einmal einen Schlüssel, aber der Junge zeigte sich nicht mehr, wenn sie vorsichtig das Zimmer betrat, sie sah ihn nicht, vermutete ihn zuerst unter der Bettdecke, hinter der Tür, unterm Bett – nichts. Ausgegangen? Möglich. Auf Zehenspitzen, Zehenballen an der Küche vorbeigeschlichen. »Wie eine Katze«, sagte Frau S. Sie zwang sich, sich keine Sorgen zu machen, schliesslich war er alt genug, kannte die Umgebung, die Stadt, zumindest den Hauptbahnhof, die Universität. Dann wieder fand sie ihn auf dem Bett liegend, kraftlos, mit weit geöffneten, starren Augen. Er aß wenig, immer weniger. Sie brachte ihm seine Lieblingsspeisen ins Zimmer. Er lächelte, aß fast nichts, setzte den Kopfhörer wieder auf. Hörte Musik, die er vor sieben, acht Jahren gehört hatte. Als er Student war. Sekkai no Owari. Weltende, eine fröhliche Musik. Schaute aufs Smartphone, wischte Mangas vorbei. »Man braucht keine Bücher mehr«, sagte er einmal. »Ist alles hier drin.«