Anmerkungen zu einer Handvoll legendärer Sätze
1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.
»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, einer der berühmtesten Sätze der Geistesgeschichte: im Grunde genommen klingt diese Aussage nach einer Dummheit. Was soll dieses Eingeständnis des Nichtwissens, angeblich geäußert vom angeblich klügsten Mann des griechischen Altertums (dem Orakel von Delphi zufolge)? Ist ja in Ordnung, wenn er nichts weiß, aber sollte das Streben eines Klugen nicht dahin gehen, etwas zu wissen, auch wenn er sich der eigenen Beschränktheiten und der Relativität alles Festgestellten bewußt sein mag? Der berühmte Satz klingt weiter, und er klingt jetzt ein wenig nach einem trotzigen Ich will-auch-gar-nichts-wissen! Ist dieser Satz nicht, genauer betrachtet, eine bloße Variation des Paradoxons des Lügners, der die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, er lüge, und lügt, wenn er behauptet, er sage die Wahrheit? Wie kann denn der Nichtwissende etwas wissen (nämlich daß er nichts weiß)? Offensichtlich handelt es sich hier um einen Sophismus, und tatsächlich wird dieser Satz dem Sokrates lediglich zugeschrieben, gerüchteweise, man findet ihn nirgendwo in schriftlichen Aufzeichnungen, weder bei Platon noch bei Xenophon.
Für Michel de Montaigne war Sokrates ein großes Vorbild: nicht nur ein scharfsinniger Denker, sondern einer, der stets den richtigen Blick, die angemessene Haltung zu den Dingen und Wechselfällen des Lebens und zuletzt auch zum Tod fand – fast so etwas wie der ideale Mensch. Dennoch zitiert Montaigne in seinen weitläufig mäandernden Essais den Sokrates zugeschriebenen Satz vom Nichtwissen kein einziges Mal. Er unterläßt es nicht aus quellenkritischer Vorsicht, sondern, wie ich vermute, weil er in dieser Form nicht zur Gestalt des Philosophen zu passen scheint. Wohl aber findet sich an zentraler Stelle im Werk Montaignes wie auch in auch in seinem Lebenskontext, an dem Ort nämlich, an dem sein Werk entstand, im Bücherzimmer oben im Turm des Schlosses von Eyquem, ein ähnlicher, wenn auch viel schlichterer Satz: »Que scay-je?« Also eine Frage, keine Behauptung, verewigt im Blason des Geistesadels unter einer Waage; ich glaube nicht, daß dies ein Zufall oder bloßes Ornament ist.
![goya-die-erschiessung-der-aufstaendischen Francisco de Goya: "Die Erschießung der Aufständischen" - Francisco De Goya de España [Public domain], via Wikimedia Commons (Quelle)](https://www.begleitschreiben.net/wp-content/uploads/2018/03/goya-die-erschiessung-der-aufstaendischen-800x617.jpg)