Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (1/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.

»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, ei­ner der be­rühm­te­sten Sät­ze der Gei­stes­ge­schich­te: im Grun­de ge­nom­men klingt die­se Aus­sa­ge nach ei­ner Dumm­heit. Was soll die­ses Ein­geständnis des Nicht­wis­sens, an­geb­lich ge­äu­ßert vom an­geb­lich klüg­sten Mann des grie­chi­schen Al­ter­tums (dem Ora­kel von Del­phi zu­fol­ge)? Ist ja in Ord­nung, wenn er nichts weiß, aber soll­te das Stre­ben ei­nes Klu­gen nicht da­hin ge­hen, et­was zu wis­sen, auch wenn er sich der ei­ge­nen Be­schränkt­hei­ten und der Re­la­ti­vi­tät al­les Fest­ge­stell­ten be­wußt sein mag? Der be­rühm­te Satz klingt wei­ter, und er klingt jetzt ein we­nig nach ei­nem trot­zi­gen Ich will-auch-gar-nichts-wis­sen! Ist die­ser Satz nicht, ge­nau­er be­trach­tet, ei­ne blo­ße Va­ria­ti­on des Pa­ra­do­xons des Lüg­ners, der die Wahr­heit sagt, wenn er be­haup­tet, er lü­ge, und lügt, wenn er be­haup­tet, er sa­ge die Wahr­heit? Wie kann denn der Nicht­wissende et­was wis­sen (näm­lich daß er nichts weiß)? Of­fen­sicht­lich han­delt es sich hier um ei­nen So­phis­mus, und tat­säch­lich wird die­ser Satz dem So­kra­tes le­dig­lich zugeschrieb­en, ge­rüch­te­wei­se, man fin­det ihn nir­gend­wo in schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen, we­der bei Pla­ton noch bei Xe­no­phon.

Für Mi­chel de Mon­tai­gne war So­kra­tes ein gro­ßes Vor­bild: nicht nur ein scharf­sin­ni­ger Den­ker, son­dern ei­ner, der stets den rich­ti­gen Blick, die an­ge­mes­se­ne Hal­tung zu den Din­gen und Wech­sel­fäl­len des Le­bens und zu­letzt auch zum Tod fand – fast so et­was wie der idea­le Mensch. Den­noch zi­tiert Mon­tai­gne in sei­nen weit­läu­fig mä­an­dern­den Es­sais den So­kra­tes zu­ge­schrie­be­nen Satz vom Nicht­wis­sen kein ein­zi­ges Mal. Er un­ter­läßt es nicht aus quel­len­kri­ti­scher Vor­sicht, son­dern, wie ich ver­mu­te, weil er in die­ser Form nicht zur Ge­stalt des Phi­lo­so­phen zu pas­sen scheint. Wohl aber fin­det sich an zen­tra­ler Stel­le im Werk Mon­tai­gnes wie auch in auch in sei­nem Le­bens­kon­text, an dem Ort näm­lich, an dem sein Werk ent­stand, im Bü­cher­zim­mer oben im Turm des Schlos­ses von Ey­quem, ein ähn­li­cher, wenn auch viel schlich­te­rer Satz: »Que scay-je?« Al­so ei­ne Fra­ge, kei­ne Be­haup­tung, ver­ewigt im Bla­son des Gei­stes­adels un­ter ei­ner Waa­ge; ich glau­be nicht, daß dies ein Zu­fall oder blo­ßes Or­na­ment ist.

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Go­ya und die Zeit­fä­den

Ein Künst­ler, der durch Be­harr­lich­keit, Un­be­irr­bar­keit und na­tür­lich durch Fleiß im Lauf der Jah­re im­mer bes­ser, tie­fer, dü­ste­rer wur­de. Bes­ser ist dü­ste­rer?

Ja. Viel­leicht nur durch Nach­denk­lich­keit, viel­leicht ist das die wich­tig­ste Ei­gen­schaft. Durch­drin­gung, das braucht Zeit, oft Jahr­zehn­te. Be­son­ders, wenn man aus ei­nem ab­ge­le­ge­nen Dorf stammt, wo es nichts zu se­hen gibt. Das muß man erst ein­mal ver­ste­hen: nichts zu se­hen.

Aber Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen ist doch ei­ne Art Ge­le­gen­heits­ma­le­rei, fast wie Jour­na­lis­mus, Il­lu­stra­ti­on der jüng­sten Er­eig­nis­se...

Francisco de Goya: "Die Erschießung der Aufständischen" - Francisco De Goya de España [Public domain], via Wikimedia Commons (Quelle)
Fran­cis­co de Go­ya: »Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen« –
Fran­cis­co De Go­ya de Es­pa­ña [Pu­blic do­main], via Wi­ki­me­dia Com­mons (Quel­le)

Ja, aber ver­tieft, und da­zu ge­hört Vor­be­rei­tung. Viel­leicht brin­gen glück­li­che Um­stän­de die Zeit­fä­den zu­sam­men, time li­nes, sagt man heu­te, so daß ein Werk ent­ste­hen kann. Man­che Künst­ler brau­chen kei­ne Ent­wick­lung, sie sind von An­fang an die, die sie sind. Für die an­de­ren bleibt nur Ent­wick­lung, und die geht lang­sam, sie braucht Zeit. Die Er­schie­ßung über­schrei­tet als Kunst­werk die Zeit, sie zeigt die Sol­da­ten als be­lang­lo­se Mör­der, als un­ter­ge­ord­ne­te Graue Her­ren, als Funk­tio­nä­re, die das Le­ben be­herr­schen (und letzt­lich aus­rot­ten) wol­len, wo es sich nicht be­herr­schen läßt. Sie sind ge­fühl­los, ge­sichts­los, zei­chen­los. Für sie gibt es nur ein ein­zi­ges Zei­chen: Feu­er!

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Kind­ver­lust­ge­schich­te

1

ge­setzt, ich wür­de
ge­setzt, ich hät­te
al­so: ich hat­te
mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les und mich
mei­nen ein­zi­gen Schatz, der ich sonst nichts be­sit­ze
                                                                                     be­sit­zen will
mein Ta­lent ver
                              ge­ssen
                        ver
                              schleu­dert
                        ver
                              dör­ren las­sen

al­so ich, hilfs­be­dürf­tig und ver­schwie­gen, hat­te sie, da sie noch klein war, bei Ver­wand­ten ge­las­sen, wuß­te aber lei­der nicht mehr, bei wel­chen, so daß ich nun mei­ne ei­ge­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te ab­gra­sen müß­te, um zu mei­nem Ein und Al­les zu­rück­zu­fin­den. Das will ich jetzt ver­su­chen, was bleibt mir üb­rig (nichts!), denn ich hat­te doch – mei­ne Recht­fer­ti­gung! – ei­nen Auf­trag zu er­fül­len (ge­habt) im Na­men mei­ner Schwe­ster Ma­ria oder mei­ner Freun­din Adel­heid, die ihn selbst nicht er­le­di­gen konn­te. Ich hat­te mich mit ih­rem Hünd­chen in der Ein­kaufs­ta­sche, ei­nem win­zi­gen wu­se­li­gen grau­en Hünd­chen, das er­krankt war und fast er­schlafft jetzt, auf den Weg zum Klein­tier­arzt ge­macht, wie hät­te ich mei­ner Freun­din oder Schwe­ster die Bit­te ab­schla­gen sol­len un­ter sol­chen Um­stän­den, da sie ver­hin­dert war. Und wo an­ders hät­te ich mich hin­be­ge­ben sol­len als in die Klein­tierarztpraxis un­se­rer ge­mein­sa­men Freun­din Bri­git­te. Als ich dort an­kam, war das War­te­zim­mer men­schen­leer und über­sät von mehr oder we­ni­ger ka­put­tem Kinderspiel­zeug und Pa­pier­schnip­seln und be­druck­ten, aus Kin­der­bü­chern ge­ris­se­nen Sei­ten: ei­ne ge­stran­de­te und ver­las­se­ne Ar­che No­ah, al­le Tie­re und Kin­der längst aus­ge­schifft. Die Gu­ten hat­ten sich mit ein we­nig Glück ei­ne neue Welt zu­recht­ge­macht, aber oh­ne sie, oh­ne mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les, mein Ta­lent: trau­ri­ge Welt! Nein, hier konn­te ich das Hünd­chen nicht hei­len las­sen, und in die­sem Au­gen­blick war mei­ne Toch­ter viel­leicht zum er­sten Mal, oh­ne daß ich es merk­te, ver­schwun­den, da­bei hat­te ich nicht ein­mal mei­nen Auf­trag er­fül­len kön­nen

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Pass­wort (3)

Teil 2 / Teil 1

3

Ei­ne Wo­che spä­ter sag­te sie mir, sie ha­be end­lich ei­ne Spur ge­fun­den.

Ei­ne Spur?

Ja, und sie ha­be die­se Spur gleich ver­folgt. Ta­ge­lang hat­te sie ver­geb­lich ver­sucht, irgend­einen An­halts­punkt zu fin­den, und jetzt, end­lich. Ihr Sohn hat­te fast nichts hin­ter­las­sen, nur die Bäl­le und Ke­gel, Qua­der und Tü­cher, ein paar Zau­be­ru­ten­si­li­en. Und na­tür­lich das Smart­phone – oh­ne Kopf­hö­rer, der war ver­schwun­den – und den Com­pu­ter. Die­se bei­den Ge­rä­te wür­den ver­mut­lich al­les ent­hal­ten (sie be­ton­te das Wort ALLES), aber sie ken­ne das Pass­wort nicht, ihr Mann schon gar nicht, nie­mand ken­ne das Pass­wort au­ßer ih­rem Sohn, und ihn kön­ne man nicht mehr fra­gen. Stun­den­lang ha­be sie al­le mög­li­chen Ein­ga­ben ver­sucht, Ge­burts­ta­ge, Lieb­lings­man­ga­fi­gu­ren, Na­men von Familienange­hörigen, Pop­bands, Sek­kai, An­fang, En­de, Sek­kaio­wa­ri, Sek­kai­no, Owa­ri­sek­kai, al­les mög­li­che, Zu­falls­kom­bi­na­tio­nen, Zah­len und Buch­sta­ben, ab­wech­selnd, die Zei­chen auf der Ta­sta­tur in Ver­bin­dun­gen, die wie­der an­de­re Zei­chen er­ga­ben, Kreu­ze, Zacken, um­sonst. Se­sam öff­ne­te sich nicht. Und die Wahr­schein­lich­keit, daß er es noch tun wür­de, war gleich null.

Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung ver­liert, ruft man doch auch den Schlüs­sel­dienst.

»Ich ha­be doch te­le­pho­niert«, sag­te sie, fast schon ein we­nig ent­rü­stet. »Die ma­chen das nur auf An­wei­sung der Po­li­zei. Ich müss­te die Po­li­zei ein­schal­ten. Aber was soll ich de­nen sa­gen? Daß ich nach Adres­sen su­che?«

»Und Hacker? Ich mei­ne, es gibt Leu­te, die ma­chen sich dar­aus ein Spiel, Com­pu­ter knacken.«

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Pass­wort (2)

Teil 1

2

Viel­leicht auch des­halb, weil sie Kon­flik­te – ech­te Dis­kus­sio­nen – ver­mei­den woll­te, oder weil sie nie­man­den hat­te, um über per­sön­li­che Din­ge zu spre­chen, und ich ihr Jahrgangs­vertrauen nun ein­mal ge­weckt hat­te, ging sie beim näch­sten Be­such im Star­bucks da­zu über, mir dies und je­nes aus ih­rem Le­ben zu er­zäh­len, wo­bei häu­fig ihr Sohn ei­ne be­son­de­re Rol­le spiel­te, der im Zen­trum ih­res der­zei­ti­gen Le­bens zu ste­hen schien. Ihr Mann ar­bei­te­te in ei­ner an­de­ren Stadt und kam ein­mal pro Mo­nat am Wo­chen­en­de nach Hau­se. Der Sohn, vor kur­zem drei­ßig ge­wor­den, war krank, aber sie nann­te die Krank­heit nicht beim Na­men. Auch von ei­ner me­di­zi­ni­schen Be­hand­lung, von Arzt- oder Kran­ken­haus­be­su­chen war nicht die Re­de.

Es dau­er­te ei­ne ge­rau­me Wei­le, bis zur vier­ten oder fünf­ten Star­bucks-Sit­zung (wie ich sie ins­ge­heim nann­te), bis mir klar wur­de, daß der Sohn – sie nann­te ihn nie beim Na­men – nie oder fast nie das Haus ver­liess. War er bett­lä­ge­rig? Oder ge­lähmt? Kör­per­lich oder gei­stig be­hin­dert? Nein, in Frau S.’ Er­zäh­lun­gen deu­te­te nichts dar­auf hin. Der Sohn hat­te stu­diert, sein Stu­di­um or­dent­lich ab­ge­schlos­sen und da­nach ei­ni­ge Jah­re in ei­ner Fir­ma ge­ar­bei­tet. Er war Hob­bys nach­ge­gan­gen, hat­te Freun­de ge­trof­fen. Zau­bern, Jon­glie­ren, Din­ge zum Ver­schwin­den brin­gen, das er­freu­te sein Herz.

Ge­nau so drück­te sich sei­ne Mut­ter aus: »Es er­freu­te sein Herz.« Und war täg­li­che Ge­wohn­heit. Sein Zim­mer war na­he­zu leer, die Man­gas hat­te er in Schach­teln ge­räumt und zu ei­nem Spott­preis ei­nem Händ­ler ver­kauft, weil sie ihn, wie er sag­te, vom Trai­ning ab­lenk­ten. In letz­ter Zeit hat­te er aber nach­ge­las­sen, gan­ze Ta­ge ver­gin­gen, oh­ne daß Frau S. die Ge­räu­sche von zu Bo­den fal­len­den Ke­geln oder Bäl­len hör­te (die frü­her manch­mal die Pro­te­ste ei­ner Nach­ba­rin her­vor­ge­ru­fen hat­ten). Die Tür zu sei­nem Zim­mer ver­schloss er nicht, hat­te sie nie ver­schlos­sen, es gab nicht ein­mal ei­nen Schlüs­sel, aber der Jun­ge zeig­te sich nicht mehr, wenn sie vor­sich­tig das Zim­mer be­trat, sie sah ihn nicht, ver­mu­te­te ihn zu­erst un­ter der Bett­decke, hin­ter der Tür, un­term Bett – nichts. Aus­ge­gan­gen? Mög­lich. Auf Ze­hen­spit­zen, Ze­hen­bal­len an der Kü­che vor­bei­ge­schli­chen. »Wie ei­ne Kat­ze«, sag­te Frau S. Sie zwang sich, sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen, schliess­lich war er alt ge­nug, kann­te die Um­ge­bung, die Stadt, zu­min­dest den Haupt­bahn­hof, die Uni­ver­si­tät. Dann wie­der fand sie ihn auf dem Bett lie­gend, kraft­los, mit weit ge­öff­ne­ten, star­ren Au­gen. Er aß we­nig, im­mer we­ni­ger. Sie brach­te ihm sei­ne Lieb­lings­spei­sen ins Zim­mer. Er lä­chel­te, aß fast nichts, setz­te den Kopf­hö­rer wie­der auf. Hör­te Mu­sik, die er vor sie­ben, acht Jah­ren ge­hört hat­te. Als er Stu­dent war. Sek­kai no Owa­ri. Welt­ende, ei­ne fröh­li­che Mu­sik. Schau­te aufs Smart­phone, wisch­te Man­gas vor­bei. »Man braucht kei­ne Bü­cher mehr«, sag­te er ein­mal. »Ist al­les hier drin.«

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Pass­wort (1)

1

Schon öf­ters hat­te ich fest­ge­stellt, daß Men­schen des­sel­ben Jahr­gangs et­was ver­bin­det. Das be­trifft nicht nur An­ge­hö­ri­ge ei­ner be­stimm­ten Grup­pe, die ge­mein­sa­me Er­fah­run­gen ge­macht ha­ben und sich spä­ter al­le paar Jah­re tref­fen, um Er­in­ne­run­gen aus­zu­tau­schen. Nein, ich ha­be die­se Be­ob­ach­tung an Men­schen ge­macht, die ich frü­her nicht ge­kannt hat­te, die in an­de­ren Städ­ten, so­gar Län­dern auf­ge­wach­sen wa­ren. Uns 1957 Ge­bo­re­ne ver­bin­det et­was. Ich könn­te nicht sa­gen, was es ist. Viel­leicht das be­son­de­re Stau­nen des Zwölf­jäh­ri­gen an­ge­sichts der Bil­der vom Mond­spa­zier­gang der drei Astro­nau­ten, de­ren Na­men wir nie ver­ges­sen ha­ben. Oder die Trau­er des sechs­jäh­ri­gen Kin­des beim Tod John F. Ken­ne­dys, den es nicht ver­ste­hen, aber mit­füh­len konn­te. Un­be­küm­mert um die Mög­lich­keit ei­nes Kriegs in den Tag hin­ein zu le­ben, ob­wohl wir mit Ba­racken­kin­dern zwi­schen Rui­nen spiel­ten und vor Blind­gän­gern auf dem Nie­mands­ge­län­de ge­warnt wur­den, die am Stadt­rand auf un­vor­sich­ti­ge Kin­der war­te­ten. Oder die Mu­sik­bo­xen und Flip­per­au­to­ma­ten, die Tanz­kel­ler, die Stur­heit der Er­wach­se­nen, mit de­nen man nicht ernst­haft re­den konn­te, schon gar nicht über ih­re Ver­gan­gen­heit. Oder die Fil­me, zum Bei­spiel aus dem Jahr 1977, als wir schon zwan­zig wa­ren und ge­bil­det ge­nug, um den wir­ren Bild­re­fle­xio­nen ei­nes Jean-Luc Go­dard zu fol­gen, und noch of­fen ge­nug, um uns von ein­zel­nen Sze­nen, Ge­sten, Ge­sich­tern in Nah­auf­nah­me tief und viel­leicht für im­mer, bis ins Jahr 2017, be­ein­drucken und be­ein­flus­sen zu las­sen.

Na­tür­lich geht es da­bei nicht um Jah­res­zah­len, schon gar nicht um Mo­na­te, Wo­chen, Ta­ge. Mit den 1956 oder 58 Ge­bo­re­nen ver­bin­det mich das­sel­be: die­sel­be un­de­fi­nier­ba­re, aber rea­le At­mo­sphä­re, das­sel­be Le­bens­ge­fühl. Wei­ter als ein Jahr nach vor­ne, eins nach hin­ten lässt sich das Zeit­feld aber nicht aus­deh­nen. 1955 oder 59, da be­ginnt ei­ne an­de­re Zo­ne. Wer 1968 noch nicht zehn war, ver­steht nicht, wie ich die Welt se­hen ge­lernt ha­be. Die Beat­les, die Rol­ling Stones. Pat­ti Smith und Sex Pi­stols. Ja, das auch, aber was ich mei­ne, und was wir tei­len, rührt viel tie­fer, geht in die De­tails, die Po­ren der Jah­re. Wie die – ver­gleichs­wei­se we­ni­gen – Au­tos rat­ter­ten, die Mo­peds heul­ten. Die Ver­samm­lun­gen vor dem Fern­se­her beim Gast­wirt, das Mit­fie­bern bei Sport­er­eig­nis­sen. Die aufgeschüt­tete, gras­über­wach­se­ne Er­de hin­ter dem Haus, zum Spiel­platz ge­macht. Die Far­ben und For­men und Stof­fe, Oran­ge, Run­dun­gen, Knautsch­lack. Be­stimm­te Aus­drücke, egal in wel­cher Spra­che (ei­ne be­stimm­te Art von Aus­drücken). Blicke. Ab­pral­len­de Blicke. Ver­sin­ken­de Blicke. Din­ge, die man nicht be­nen­nen kann. Mit Men­schen, die 1957 ge­bo­ren sind, ver­ste­he ich mich, auch wenn uns sonst al­les trennt.

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Der klei­ne Franz und der spin­ner­te Schor­schl

Ein Salz­bur­ger Traum

Um 1910 wa­ren in den öster­rei­chi­schen Städ­ten vie­le Pfer­de un­ter­wegs, sie zo­gen Wa­gen und Kut­schen ver­schie­den­ster Art. In Wien fuhr im Ju­ni 1903 die letz­te Pferdestraßen­bahn, doch schwe­re Gü­ter wur­den wei­ter­hin in er­ster Li­nie von Pfer­den be­för­dert. Die Pho­bie des klei­nen Hans, die Freud an­hand der Auf­zeich­nun­gen des Va­ters des Kna­ben 1909 be­schrieb und ana­ly­sier­te, die Angst des Kna­ben vor Last­pfer­den, be­son­ders dann, wenn sie mit den Bei­nen »Kra­wall ma­chen«, muß zu­nächst ein­mal ganz rea­li­stisch ge­we­sen sein, zu­mal die Fa­mi­lie in der Un­te­ren Via­dukt­gas­se ge­gen­über von ei­nem La­ger­haus wohn­te, wo ein re­ger Ver­kehr von Fuhr­wer­ken herrsch­te. Freud tritt dem Vor­wurf, bei der Be­hand­lung der Pho­bie wür­den dem Kna­ben Din­ge vor al­lem se­xu­el­ler Na­tur le­dig­lich sug­ge­riert, of­fen­siv ent­ge­gen. Sei­nen wohl­ab­ge­wo­ge­nen Ar­gu­men­ten zum Trotz kann man sich bei der Lek­tü­re auch mehr als hun­dert Jah­re spä­ter des Ein­drucks nicht er­weh­ren, daß Freud und sein Ana­ly­se­ge­hil­fe (Han­sens Va­ter) das fa­mi­liä­re Ge­sche­hen nicht nur se­xua­li­sie­ren, son­dern mit Sym­bol­wer­ten – die dann al­le in ein und die­sel­be Rich­tung zei­gen – re­gel­recht über­la­den. Rie­si­ge Fuhr­wer­ke in un­un­ter­bro­che­ner Fol­ge gleich vor der Haus­tür, soll­ten sie ei­nen vier­jäh­ri­gen Jun­gen et­wa nicht erschre­cken? Das ist doch so, wie wenn ei­ne Fa­mi­lie heu­te an ei­ner Ortsdurchfahrt­straße wohnt, auf der in ei­nem fort mo­to­ri­sier­te Last­wa­gen zu ge­wal­ti­gen La­ger­haus­kom­ple­xen – et­wa der Fir­men Ho­fer oder Lutz – vor­beib­rau­sen. Vor al­ler Sor­ge um die se­xu­el­le Ent­wick­lung des Kin­des wer­den sich sei­ne El­tern vor al­lem Ge­dan­ken ma­chen, wie sie si­cher­stel­len kön­nen, daß es nie­mals von ein im Ernst­fall wohl fa­ta­len Ver­kehrs­un­fall be­trof­fen sein wird.

Der Ost­deut­sche, in Böh­men auf­ge­wach­se­ne, in Kalks­burg bei Wien zur Schu­le ge­gan­ge­ne Schrift­stel­ler Franz Füh­mann träum­te im Mai 1977 wäh­rend ei­nes kur­zen Be­suchs in der Stadt Salz­burg von ei­nem Pferd, das ihn zum rei­ßen­den Fluß wälz­te und hin­ein­warf. In sei­nem gro­ßen Tra­kl-Es­say Vor Feu­er­schlün­den be­rich­tet er kurz da­von: »Ros­se stie­gen aus ei­nem Brun­nen und wälz­ten mich durch den Stein der Stadt und stürz­ten mich in die rot­schäu­men­de Salz­ach, die ihr Stein­bett über mir schloß.« 1977 gab es in Salz­burg nur noch we­ni­ge Pfer­de, die Tou­ri­sten in Fia­kern be­för­der­ten. Ich selbst wohn­te da­mals in der Max­gla­ner Vor­stadt un­weit vom Alm­ka­nal und hör­te abends manch­mal Huf­ge­trap­pel, das mich fast mär­chen­haft an­rühr­te, bis ich ei­nes Ta­ges den Ka­nal ent­lang spa­zier­te und auf die Scheu­ne stieß, in der Fia­ker­pfer­de die Nacht zu­brach­ten. Je­der, der Tra­kls Dich­tung kennt, wird sich bei der Kennt­nis­nah­me von Füh­manns Traum an ein Ge­dicht er­in­nern, in dem Rös­ser vor­kom­men, und zwar mit der­sel­ben Wort­wahl und gleich­falls im Plu­ral. Das 1910 ver­faß­te Ge­dicht Die schö­ne Stadt nimmt ein den Salz­bur­gern ver­trau­tes Bild aus der Wirk­lich­keit auf, näm­lich den Brun­nen auf dem Re­si­denz­platz, wo stei­ner­ne Pfer­de aus dem Was­ser tau­chen oder – bei Füh­mann – stei­gen. Zu Leb­zei­ten Tra­kls war die Stadt aber noch von le­ben­di­gen Pfer­den be­völ­kert, so daß der tro­chä­isch-vier­he­bi­ge, ex­pres­si­on­stisch-pro­to­koll­haf­te Satz »Rös­ser tau­chen aus dem Brun­nen« sich eben­so auf die we­ni­ge Geh­mi­nu­ten vom Re­si­denz­brun­nen ent­fern­te Pfer­de­schwem­me be­zie­hen könn­te, wo in noch nicht mo­to­ri­sier­ten Zei­ten er­hitz­te und ver­schmutz­te Pfer­de ge­kühlt und ge­wa­schen wur­den.

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Ko­in­zi­denz II

Ein lan­ger Tisch im Sü­den des asphal­tier­ten Plat­zes (der sonst Au­to­mo­bi­len dient), mit Kult­ge­gen­stän­den, de­nen kei­ner der Sit­zen­den, Kau­ern­den, Kau­en­den, Trin­ken­den, Fei­ern­den, Lau­fen­den, Hüp­fen­den Be­ach­tung schenkt, wo­durch die An­we­sen­heit die­ser Din­ge ei­gent­lich erst her­vor­ge­ho­ben wird: neun­stöcki­ge Mi­nia­tur­pa­go­de, gol­de­ne Kan­ne, Blu­men­strauß, zwei Ker­zen, zwei... Ge­fei­ert wird näm­lich die Jah­res­mit­te oder der Be­ginn des Jah­res; die Aus­saat ...

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