Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Peter Trawny: Aschenplätze
Pe­ter Traw­ny: Aschen­plät­ze

Char­lie Brown, Li­nus und Lu­cie lie­gen auf ei­nem klei­nen Hü­gel und schau­en in die Wol­ken. Wenn man sei­ne Vor­stel­lungs­kraft be­mü­he, kön­ne man, so Lu­cie, ei­ni­ges in den Wol­ken­ge­bil­den er­ken­nen. Li­nus sieht dann in ei­ner Wol­ke die Land­kar­te von Bri­tisch Hon­du­ras1. Ei­ne an­de­re äh­ne­le dem Pro­fi von Pa­blo Pi­cas­so. Und da­hin­ter dann er­kennt er die Stei­ni­gung des Hei­li­gen Ste­pha­nus mit dem Apo­stel Pau­lus. Lu­cie lobt ihn und fragt Char­lie Brown, was er so se­he. Er woll­te was von Schäf­chen und Pferd­chen sa­gen, aber er las­se es dann lie­ber sein, meint er leicht re­si­gniert.

Mir geht es wie Char­lie Brown, ich be­trach­te Pe­ter Traw­nys Aschen­plät­ze und woll­te et­was über die Un­ter­schie­de zwi­schen Au­to­bio­gra­phie und Au­to­fik­ti­on und den Au­then­ti­zi­täts­fe­tisch des Feuil­le­tons schrei­ben, aber ich las­se das. Denn es gibt es sehr gu­te, un­ter­schied­li­che und doch sich er­gän­zen­de Be­trach­tun­gen über die­ses Buch von Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra und Mi­cha­el Chig­hel. Jür­gen Niel­sen-Si­ko­ra lobt »Kraft, Ent­schlos­sen­heit und Über­win­dung« des Au­tors, das Chan­gie­ren zwi­schen Au­to­bio­gra­phi­schem und Phi­lo­so­phi­schem. Mi­cha­el Chig­hel de­kla­riert es als ein jü­di­sches Buch, de­chif­friert die ver­wen­de­ten Pseud­ony­me der Ge­lieb­ten aus der jü­disch-my­sti­schen Kosmo­go­nie und fragt sich, ob Traw­ny nicht zu weit ge­he in sei­ner Ad­ap­ti­on des Ju­den­tums. Was kann ich die­sen bei­den stu­pen­den Deu­tun­gen noch hin­zu­fü­gen?

Ver­set­ze ich mich kurz in mein kauf­män­nisch ge­präg­tes, be­ruf­li­ches Um­feld (ich ver­ließ es 2015), so bin ich si­cher, dass Pe­ter Traw­ny dort weit­ge­hend un­be­kannt ist. Phi­lo­so­phie galt (und gilt) in die­sem Mi­lieu ma­xi­mal als Stecken­pferd und wird al­len­falls von fin­di­gen Fi­gu­ren, die sich »Coa­ches« nen­nen, als Stein­bruch für Ma­na­ger­se­mi­na­re aus­ge­schlach­tet, die schlag­wort­haf­te Ka­cheln mit (mo­ra­lisch da­her­kom­men­den) Hand­lungs­an­wei­sun­gen kon­stru­ie­ren, um Hil­fe­stel­lun­gen bei der Un­ter­schei­dung von Gut und Bö­se zu ge­ben. Die Fra­ge, die sich al­so stellt, ist die nach dem Pu­bli­kum für ei­ne Au­to­bio­gra­phie ei­nes Phi­lo­so­phen, der sich schwer­punkt­mä­ßig vor al­lem mit Mar­tin Heid­eg­ger, Fried­rich Nietz­sche und, im­mer wie­der, Ge­org Fried­rich Wil­helm He­gel be­fasst (die Phä­no­me­no­lo­gie des Gei­stes nennt Traw­ny »ei­ne Art phi­lo­so­phi­scher Bil­dungs­ro­man«) und da­mit, wie es im Wirt­schafts­deutsch heißt, ei­ne »Ni­sche be­dient«.

Der die­sen Leu­ten ver­mut­lich schwer ver­mit­tel­ba­re Clou die­ses Bu­ches be­steht dar­in, über den Um­weg (auto-)biographischer Schil­de­run­gen ei­ne Chan­ce zu phi­lo­so­phi­schen Zu­gän­gen jen­seits von Glücks­keks­weis­hei­ten zu er­hal­ten. Man könn­te al­so bei der Lek­tü­re so tun, als sei ›Pe­ter Traw­ny‹ ei­ne fik­ti­ve Fi­gur. Die schreibt über ihr Le­ben, ver­knüpft je­doch Bio­gra­phie mit phi­lo­so­phi­schen Pro­blem­stel­lun­gen. Das führt bis­wei­len zu Wi­der­sprü­chen, die kei­ne sind, weil den Er­kennt­nis­sen fort­lau­fen­de Er­fah­run­gen zu Grun­de lie­gen, die ein­sti­ge Ur­tei­le nicht re­vi­die­ren, son­dern wei­ter ent­wickeln oder er­gän­zen. Stel­len­wei­se mün­den sei­ne Er­leb­nis­se in aus­ufern­de Schil­de­run­gen, die bis­wei­len wie Recht­fer­ti­gun­gen klin­gen, mehr her­aus­ge­ar­bei­tet als er­zählt wer­den. Traw­ny ist das be­wusst, er sei kein Dich­ter, schreibt er und spä­te­stens hier be­kommt die Les­art als Fik­ti­on Ris­se. Im­mer­hin ge­lin­gen im­mer wie­der ge­lun­ge­ne (au­ßer­phi­lo­so­phi­sche) Bil­der, et­wa über die Er­leb­nis­se un­ter Ta­ge oder über die Mu­sik- und Kunst­sze­ne um Wan­ne-Eickel der Sieb­zi­ger­jah­re, über die er mit weh­mü­ti­ger Sym­pa­thie rä­so­niert.

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  1. Der Film entstand 1969 - das Land heißt heute Belize 

Bla­sen­pro­ble­me oder ge­sell­schaft­li­ches Sym­ptom?

1975, als Öster­reich noch ein kon­ser­va­ti­ves Länd­chen und auch in Wien nicht viel los war (ein kul­tu­rel­ler Ein­schnitt war die Be­set­zung des Schlacht­hof­ge­län­des Are­na 1976), ver­öf­fent­lich­te der Kärnt­ner Schrift­stel­ler Wer­ner Kof­ler sein Buch Gug­gi­le mit dem schalk­haf­ten Un­ter­ti­tel »Vom Brav­sein und vom Schwein­igeln«. Es war klar, was mit dem Brav­sein ge­meint war und auf wel­cher Sei­te es stand. In­zwi­schen ha­ben die letz­ten ver­blie­be­nen di­stan­zier­ten Be­ob­ach­ter den Ein­druck, daß sich das Brav­sein nach al­len Sei­ten aus­ge­brei­tet hat: Por­no­gra­phie, von Kof­ler einst künst­le­risch ge­nutzt, ist In­ter­net­nor­ma­li­tät, die Volks­mehr­heit be­kennt sich zum Athe­is­mus, Ver­ge­wal­ti­ger wie auch Grap­scher wer­den ste­hen­den Fu­ßes an­ge­zeigt und oft ver­ur­teilt, Schwu­le und Les­ben dür­fen hei­ra­ten, Trans­per­so­nen be­kom­men ei­ge­ne Klos, Frau­en be­set­zen im­mer mehr Macht­po­si­tio­nen – als Künst­ler tut man sich schwer, ein Au­ßen­sei­ter zu blei­ben. Ich weiß, es ist noch nicht al­les ganz kor­rekt. Im­mer noch emp­fin­den Op­fer Scham, wer­den Frau­en für glei­che Ar­beit un­gleich be­zahlt, gibt es Ar­mut trotz so­ge­nann­ter Min­dest­si­che­rung. Und die Rechts­extre­men, die Po­pu­li­sten, die Na­tio­na­li­sten, oder wie sie ge­nannt wer­den dür­fen, ste­hen auf der an­de­ren Sei­te und wa­chen bi­gott über das, was man frü­her un­ter »Brav­sein« ver­stand. Al­le, auf bei­den Sei­ten, for­dern »An­stän­dig­keit« ein; vie­le schwen­ken bei De­mos, für die al­le Sei­ten ih­re Grün­de ha­ben, ei­ne na­tio­na­le Flag­ge; ei­ni­ge, auf der an­de­ren Sei­te, pa­lä­sti­nen­si­sche.

In den öster­rei­chi­schen (und deut­schen) Buch­ver­la­gen wird im­mer mehr Li­te­ra­tur von Frau­en ver­öf­fent­licht, und auch in den Re­dak­tio­nen herrscht die­se Ten­denz. Beim Kla­gen­fur­ter Wett­le­sen ge­wan­nen seit 2011 fast nur Frau­en den Bach­mann­preis. Im An­fangs­jahr 1977 war un­ter den 13 Ju­ro­ren nur ei­ne Frau, das Ver­hält­nis än­der­te sich in den Fol­ge­jah­ren we­nig. Heu­te sind die Ju­ro­rin­nen in der Mehr­heit: nur knapp, man kann durch­aus nicht sa­gen, die Män­ner wür­den quo­ten­mä­ßig be­nach­tei­ligt. Al­les gut! Al­les kor­rekt. Al­les nor­mal. Weib­li­che Au­toren sind ein­fach bes­ser.

Manch­mal wird trotz­dem ge­strit­ten, wie neu­lich im Ley­kam Ver­lag, als die Au­torin Ger­traud Klemm aus ei­ner (rein weib­li­chen) An­tho­lo­gie wie­der aus­ge­la­den wur­de, weil sie Jah­re da­vor ei­nen Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht hat­te, in dem sie an­geb­lich die Rech­te von – im Kor­rekt­heits­jar­gon – Trans­per­so­nen nicht ge­nü­gend ge­ach­tet hat­te. Sie wur­de nach­träg­lich ab­ge­kan­zelt und aus der An­tho­lo­gie aus­ge­la­den. So wie ich hier ris­kie­re, als dog­ma­ti­scher In­cel ab­ge­tan zu wer­den. Für al­les gibt es in der Welt der Kor­rekt­hei­ten, links wie rechts, Eti­ket­ten. Ly­dia Misch­kul­nig, Au­torin des Ley­kam Ver­lags, sprach her­nach vom »to­ta­li­tä­ren An­strich« ei­ner Her­aus­ge­be­rin­nen­schaft, die ab­wei­chen­de An­sich­ten of­fen­bar nicht ha­ben will. Ge­nau­er: Die Her­aus­ge­be­rin­nen wol­len kei­ne Per­so­nen, die bei an­de­rer Ge­le­gen­heit et­was ih­rer An­sicht nach Un­kor­rek­tes ge­äu­ßert hat. Das ist ein we­nig wie Sip­pen­haf­tung. Nicht was du jetzt schreibst, ist ent­schei­dend, son­dern das, was dein frü­he­res Ich ge­tan hat. Da­bei soll­ten Au­toren doch wis­sen, dass je­des Ich, nicht nur das von Au­toren, aus di­ver­sen Ichs be­steht. Mehr noch, es soll so­gar vor­kom­men, daß schlech­te Men­schen gu­te Wer­ke ver­fas­sen, oder auch Wer­ke, die ih­ren po­li­ti­schen Mei­nun­gen wi­der­spre­chen.

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Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Tilmann Lahme: Thomas Mann - Ein Leben
Til­mann Lah­me: Tho­mas Mann – Ein Le­ben

Man sucht nach ei­nem Be­griff, mit dem ad­äquat be­schrie­ben wer­den kann, was das neue­ste Buch des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Go­lo-Mann-Bio­gra­phen Til­mann Lah­me mit dem harm­lo­sen Ti­tel Tho­mas Mann aus­ge­löst hat. Wä­re »Erd­be­ben« viel­leicht recht? Wenn ja, wel­che Stär­ke hat die­ses Be­ben auf der nach oben of­fe­nen Feuil­le­ton-Ska­la? Da­bei mu­tet der auf dem Co­ver in klei­ne­rer Schrift ge­druck­te Un­ter­ti­tel harm­los an: »Ein Le­ben« steht dort. Der Ver­lag greift in sei­ner Wer­bung ei­ne Spur hö­her und tex­tet »Tho­mas Mann und sein wirk­li­ches Le­ben«. Ent­hül­lun­gen wer­den an­ge­droht. Wer der­art auf­trumpft, muss lie­fern. Und Lah­me ver­sucht das. Sein Buch ist kei­ne Bio­gra­phie, er wie­der­holt nicht auf Voll­stän­dig­keit zie­lend die längst be­kann­ten Da­ten, Fak­ten, Epi­so­den und An­ek­do­ten, Lah­me lie­fert auch nur eher spar­sa­me In­ter­pre­ta­tio­nen von Tho­mas Manns Pro­sa – und dort, wo er es macht, wird es min­de­stens ein­mal pein­lich, doch da­zu spä­ter.

Lah­me schreibt nicht über Tho­mas Manns Le­ben, son­dern vor al­lem über Tho­mas Manns Se­xu­alle­ben. Er be­treibt das, was Die­ter Borchmey­er nicht ganz ab­we­gig »Bio­gra­phis­mus« nennt. Und er stellt sich die­sen Ex­ege­ten mit of­fe­nem Vi­sier ent­ge­gen. Am En­de bi­lan­ziert Lah­me, dass »die im li­te­ra­ri­schen An­spie­lungs­raum ver­bor­ge­ne gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be bei Tho­mas Mann als ein we­sent­li­ches Ele­ment sei­ner li­te­ra­ri­schen Kunst zu be­trach­ten« sei. Nach der Lek­tü­re ver­mit­telt sich ei­nem der Ein­druck, es sei DAS we­sent­li­che Ele­ment.

Dass Tho­mas Mann ho­mo­se­xu­el­le Nei­gun­gen hat­te, die sich in heu­te eher als lä­cher­lich zu be­trach­ten­den Schwär­me­rei­en äu­ßer­ten, ist na­tür­lich kein Ge­heim­nis mehr. Und das er un­ter der zeit­ge­mä­ßen Not­wen­dig­keit, die­se zu ver­ber­gen ge­lit­ten hat, ist eben­so be­kannt. Aber Lah­me will mit sei­nen Re­cher­chen zei­gen, dass die Un­ter­drückung der Ho­mo­se­xua­li­tät mehr war als nur ein sich Ar­ran­gie­ren mit und in den Zwän­gen der Ge­sell­schaft, son­dern ein le­bens­lan­ger Kampf ge­gen die »Hun­de im Sou­ter­rain« sei­nes We­sens, wie er sei­nem Freund Ot­to Grau­toff 1896, 21jährig, in An­leh­nung an ei­ne For­mu­lie­rung von Fried­rich Nietz­sche schrieb.

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Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

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Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht
Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knaus­gårds neu­er Ro­man Die Schu­le der Nacht be­ginnt da­mit, dass der 44jährige Kri­sti­an Hade­land 2010 in ei­nem Haus ir­gend­wo auf ei­ner nor­we­gi­schen In­sel sitzt und über sein Le­ben nach­denkt. Das Haus ge­hört ei­nem rei­chen In­ve­stor, den er vor Jah­ren in Lon­don ken­nen­ge­lernt und der ihm vom Haus, der Ru­he und dem Plätz­chen, an dem sich ein Schlüs­sel fin­det, er­zählt hat­te. Nie­mand weiß, dass er hier ist, au­ßer die Nach­barn, aber die ken­nen ihn nicht. Be­vor er sich das Le­ben neh­men wird, schreibt er es auf.

Ich-Er­zäh­ler Kri­sti­an be­ginnt mit sei­ner Er­in­ne­rung im Au­gust 1985, als er das er­ste Mal von Chri­sto­pher Mar­lo­we ge­hört hat­te, dem eng­li­schen Dra­ma­ti­ker, der 1593 mit ei­nem Mes­ser im Au­ge in Dept­ford um­ge­bracht wur­de. In die­sem Stadt­teil von Lon­don lebt Kri­sti­an in ei­nem Miets­haus (Du­sche auf dem Flur) und stu­diert an ei­ner Aka­de­mie Fo­to­gra­fie. Er lässt es eher ru­hig an­ge­hen, lebt von ei­nem Sti­pen­di­um (und sei­nen El­tern) und ver­bringt die Aben­de in ei­nem Pub. Hier lernt er Hans ken­nen, ei­nen Hol­län­der, den er zwar nicht be­son­ders mag, aber man ist nun zu zweit Aus­län­der in Lon­don und spricht aus­gie­big dem Bier mit Wod­ka zu. Hans ist ein »mo­no­man­er Le­ser« und Be­leh­rer, sieht sich als Künst­ler, ex­pe­ri­men­tiert mit com­pu­ter­ge­steu­er­ten Ap­pa­ra­tu­ren, et­wa ei­ner künst­li­chen Rat­te, die ei­nen Par­cours durch­lau­fen kann oder Schild­krö­ten, die sich wie heu­ti­ge Staub­sauger­ro­bo­ter fort­be­we­gen. Kri­sti­an liest sich lust­los durch Shake­speares frü­he Wer­ke, wäh­rend Hans ihm von Mar­lo­we er­zählt, sein Stück über Dok­tor Faustus, das von ei­ner lo­ka­len Thea­ter­grup­pe, die sich un­ter »School of Night« im Hin­ter­zim­mer des Pub trifft, dem­nächst auf­ge­führt wer­den soll. Er weiß, dass ei­ni­ge Mar­lo­wes Tod nicht ak­zep­tie­ren, son­dern glau­ben, er sei da­mals un­ter­ge­tauscht und ha­be un­ter Shake­speares Na­men die in­zwi­schen welt­be­kann­ten Stücke ge­schrie­ben. Hans zeigt Kri­sti­an auch das ver­mut­lich er­ste Da­guer­re-Bild von 1938, stellt kühn die The­se auf, die ein­zi­ge Fi­gur, die dort zu se­hen sei, wä­re der Teu­fel und man fach­sim­pelt un­ter an­de­rem über Alei­ster Crow­ley.

Kri­sti­an ge­riet in den Bann von Hans, we­ni­ger der Thea­ter­grup­pe. Das Weih­nachts­fest 1985 ver­brach­te er je­doch bei den El­tern in Nor­we­gen. Es en­de­te ab­rupt in ei­ner Ka­ta­stro­phe. Sei­ne Schwe­ster Liv hat­te ei­nen Selbst­mord­ver­such un­ter­nom­men, der je­doch im letz­ten Mo­ment ent­deckt wur­de. Abends hör­te Kri­sti­an die El­tern im Ge­spräch. Der Va­ter, ein eher schweig­sa­mer Groß­bau­er mit ei­ser­nen Re­geln, be­zeich­ne­te Kri­sti­an als »Voll­blut-Nar­ziss­ten«. Die Mut­ter, ei­ne »Ar­chi­va­rin der Sen­ti­men­ta­li­tät«, be­schwich­tig­te ver­geb­lich. Das konn­te Kri­sti­an nicht auf sich sit­zen­las­sen. Er pack­te in al­ler Heim­lich­keit und ver­ließ das El­tern­haus oh­ne je­der Nach­richt Rich­tung Lon­don. Am mei­sten be­trüb­te ihn, dass er nicht sei­ne gan­ze Plat­ten­samm­lung mit­neh­men konn­te. Er schwor, mit den El­tern für im­mer zu bre­chen. In Lon­don an­ge­kom­men, er­geht er sich in Selbst­be­spie­ge­lun­gen und ‑be­schwö­run­gen. Ans Te­le­fon geht er nicht, weil es die El­tern sein könn­ten. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter wird ei­ne An­ge­stell­te der nor­we­gi­schen Bot­schaft bei ihm klin­geln. Ei­nen Brief und ei­ne Post­kar­te der Mut­ter, die er vie­le Mo­na­te spä­ter er­hal­ten wird, warf er (nach Lek­tü­re) in den Müll.

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Da­nie­la Stri­gl: Zum Trotz

Daniela Strigl: Zum Trotz
Da­nie­la Stri­gl: Zum Trotz

Er­kun­dung ei­ner zwie­späl­ti­gen Ei­gen­schaft un­ter­ti­telt die re­nom­mier­te öster­rei­chi­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Da­nie­la Stri­gl ih­re nun in Schrift­form vor­ge­leg­ten Vor­le­sun­gen Zum Trotz vom No­vem­ber 2024. Es be­ginnt mit ei­nem kur­zen ety­mo­lo­gisch-ge­schicht­li­chen Aus­flug über den Be­griff »Trotz«. Erst im 19. Jahr­hun­dert ver­än­der­te sich die Be­wer­tung und Trotz galt als eher ne­ga­ti­ve Ei­gen­schaft, be­son­ders bei Frau­en. Der Zwie­spalt, der sich zwi­schen »kin­disch« und »Mo­vens des Wi­der­stands« auf­tut, zeigt zahl­rei­che Fa­cet­ten. Be­vor die Ty­po­lo­gie der Trotz‑, Rap­pel- oder Quer­köp­fe in der Li­te­ra­tur (mit Sei­ten­blicken aufs rich­ti­ge Le­ben) er­folgt, wird die so­ge­nann­te »Trotz­pha­se« des Kin­des un­ter­sucht. Hier er­lebt »das Kind den Kon­flikt zwi­schen Wol­len und Kön­nen als Quel­le der Fru­stra­ti­on.« Vor ein­hun­dert Jah­ren wur­de die­ses Ver­hal­ten ne­ga­tiv be­ur­teilt und mit Au­to­ri­tät be­kämpft, in­zwi­schen neigt man da­zu, es als wich­ti­ge Ent­wick­lung zu se­hen, und emp­fin­det neu­er­dings nur den Ter­mi­nus als dis­kri­mi­nie­rend. Er heißt jetzt auf neu­kor­rekt »Au­to­no­mie­pha­se«, was Stri­gl kri­ti­siert. Aber viel­leicht hat »Trotz« in an­de­ren Zu­sam­men­hän­gen doch et­was mit »Au­to­no­mie« zu tun?

Stri­gl er­nennt Hein­rich von Kleists Mi­cha­el Kohl­haas zum »Ar­che­typ des Trot­zes«. Er ist ei­ner, der »su­spekt, recht­schaf­fen und ent­setz­lich« han­delt, der nicht ak­zep­tiert, dass man ihm die bei­den an der Zoll­sta­ti­on zum Pfand über­ge­be­nen Pfer­de in ei­nem er­bärm­li­chen Zu­stand ent­schä­di­gungs­los zu­rück­ge­ben will. Die Ra­di­ka­li­sie­rung von Kohl­haas ent­wickelt sich. Die er­ste Stu­fe ist der Tod (ge­nau­er: die Tö­tung) sei­ner Frau durch die Re­gie­rungs­macht des Kur­fürsts, als sie ei­ne Bitt­schrift ih­res Ehe­manns über­brin­gen woll­te. Kohl­haas über­nimmt nun das »Ge­schäft der Ra­che«, re­kru­tiert Söld­ner, wird zum Plün­de­rer und Mord­bren­ner, oh­ne die un­mit­tel­bar Ver­ant­wort­li­chen di­rekt zu tref­fen. Glück­li­cher­wei­se er­läu­tert Stri­gl die Ge­schich­te über das hin­läng­lich be­kann­te er­ste Vier­tel der No­vel­le hin­aus und ent­wickelt die ein­zel­nen Pha­sen des (ju­ri­sti­schen) Fal­les und der Es­ka­la­tio­nen. Ist doch die »wei­te­re Hand­lung ist…von Hoff­nungs­schim­mern, Bei­na­he-Lö­sun­gen, Um­schwün­gen, Zu­fäl­len, Wie­der­ho­lun­gen und Va­ria­tio­nen be­stimmt.« Das Ge­spräch mit Mar­tin Lu­ther, der Kohl­haas ins Ge­wis­sen re­det, lässt Kohl­haas in­ne­hal­ten. Die An­ge­le­gen­heit scheint nach ei­ni­gen Ver­hand­lun­gen kurz vor ei­nem halb­wegs ver­söhn­li­chen En­de zu ste­hen, aber Kohl­haas’ Auf­ent­halt in Dres­den wan­delt sich zum Haus­ar­rest, schließ­lich zur Haft. Am En­de »wird der Ge­rech­tig­keit rund­um ge­nü­ge ge­tan«. Der klei­ne Schön­heits­feh­ler: Kohl­haas wird ge­henkt.

Im wei­te­ren Ver­lauf der Er­kun­dun­gen Stri­gls wird Kohl­haas auch un­ter an­de­re Ty­pen des Trot­zes ein­ge­ord­net. Je nach Stand der Ge­schich­te be­kommt er dann Zü­ge des Re­bel­len, Ter­ro­ri­sten, De­spe­ra­dos, Amok­läu­fers oder Que­ru­lan­ten. Nicht im­mer glücken da­bei die Trans­for­ma­tio­nen auf Phä­no­me­ne der Ge­gen­wart. So ist es schwie­rig, Kohl­haas’ »Rebellion…gegen ade­li­ge Will­kür«, die in Selbst­ju­stiz und Raub­zü­gen mün­de­te, mit Trumps Ver­hal­ten nach der ver­lo­re­nen Wahl 2020 zu ver­glei­chen, und zu kon­sta­tie­ren, Trump ha­be mit sei­ner Bil­li­gung der Stür­mung des Ka­pi­tols am 6. Ja­nu­ar 2021 den bür­ger­li­chen Un­ge­hor­sam in Miss­kre­dit ge­bracht. Trump als »trot­zi­gen Po­li­ti­ker« zu be­zeich­nen ist ein Eu­phe­mis­mus, weil da­mit die Mo­ti­ve Trumps un­ter­schätzt wer­den.

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Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Henning Ziebritzki: Brand
Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Brand ist der Na­me ei­nes fik­ti­ven Or­tes, ein Dorf, ir­gend­wo in der Re­gi­on Han­no­ver und es ist der Ti­tel des er­sten Ro­mans des Schrift­stel­lers und Es­say­isten Hen­ning Zie­britz­ki. Es be­ginnt mit Au­gust, der an­ders ist, was der Er­zäh­ler aber schon wuss­te, be­vor es ihm die El­tern er­zählt hat­ten. Au­gust ist schweig­sam, ein »Ta­ch« be­ant­wor­tet er ent­spre­chend, an­son­sten spricht er sel­ten und träumt ger­ne. Er ist »Greis und Kind zu­gleich«, ein Döll­mer, wie man dort sagt und das ist nicht her­ab­set­zend ge­meint, denn Au­gust hat ei­ne wich­ti­ge Auf­ga­be im Dorf. Er muss im Früh­ling die im Win­ter un­ter dem Schnee her­vor­ge­kom­me­nen Stei­ne aus dem Bo­den her­aus­su­chen, die an­son­sten die Mes­ser des Pflugs be­schä­di­gen könn­ten. Und er macht das mit Akri­bie und spie­le­ri­schem Ver­gnü­gen zu­gleich, baut, wenn es ge­lingt, klei­ne Py­ra­mi­den mit den aus­sor­tier­ten Stei­nen.

Die Er­zäh­lung von Au­gusts Le­ben und Ar­bei­ten ist das er­ste von elf Ka­pi­teln die­ses klei­nen Büch­leins mit knapp 140 Sei­ten. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler er­in­nert sich an sei­ne Er­in­ne­run­gen aus Kind­heit und Ju­gend, von Mit­te der 1960er Jah­re an. Es ist we­ni­ger der an­non­cier­te Ro­man als ei­ne No­vel­len­samm­lung.

Er­zählt, ja: wie­der-holt wird ei­ne Kind­heit, die tief ver­wur­zelt ist im länd­li­chen Le­ben Mit­te der 1960er Jah­re. Das Jahr war noch be­stimmt durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten. Die Jah­re wur­den un­ter­teilt in »vor«, »wäh­rend« und »nach« dem Krieg. Drei Ge­ne­ra­tio­nen der Fa­mi­lie müt­ter­li­cher­seits des Er­zäh­lers leb­ten im Dorf. Es gab Zei­ten, als Ur­groß­mutter, Groß­mutter und Mut­ter zu­sam­men­ar­bei­te­ten, bei­spiels­wei­se beim Ern­ten und Ein­wecken von Obst. Das Kind war ent­bun­den vom Mit­hel­fen, schau­te zu, be­kam mit et­was Glück ei­nen Kom­pott nicht ver­wer­te­ter Früch­te.

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